6
Unter der Feuerwehrmaske war die Sicht nicht besonders gut, und der Sauerstofftank auf ihrem Rücken vertrug sich gar nicht mit den Narben, aber wenigstens zog sie keine Duftspur ihres Atems hinter sich her. Danny war zu Fuß unterwegs. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte – noch mehr als bei ihrem letzten Besuch. Hoch oben kreiste ein Schwarm Geier. Die Krähen beobachteten sie von den Bäumen und Masten. Vor Tagen waren die Straßen von Potter mit normalen Leichen und komatösen Zets übersät gewesen, die auf Beute warteten. Es waren Hunderte gewesen. Jetzt gab es hier nur noch Leichen. Die Zets waren fort. Aber nicht, weil die Zets schließlich am Hunger zugrunde gegangen wären. Es gab nicht genug Leichen auf der Straße.
Etwas hatte die Untoten aus der Stadt getrieben. Danny glaubte zu wissen, was der Grund war. Sie erinnerte sich daran, wie sich die Untoten scharenweise an der Barriere gesammelt hatten, die San Francisco teilte. Zehntausende hatten am Draht und Schutt gezerrt, um hindurchzukommen. Damals hatte Danny es seltsam gefunden, dass sie in so großer Zahl versuchten, die Barriere zu durchdringen. Wenn sie mit dem Geruchssinn die Witterung aufnahmen, hätte der Rauch der vielen Brände den Atem lebender Wesen überdecken müssen. Sie besaßen keine übernatürlichen Fähigkeiten. Sie funktionierten nach ganz einfachen Regeln. Danny konnte nicht glauben, dass sie die Menschen rochen, die gegen den Wind vor ihnen Schutz suchten, während der Rauch in die Richtung der Zets trieb. Aber zu jenem Zeitpunkt hatte Danny andere Sorgen gehabt. Sie hatte sich nicht weiter mit der Frage beschäftigt, weil sie keinen Einfluss auf ihre damaligen Hypothesen hatte.
Doch nun knirschten ihre Stiefel im dicken Staub, der sich auf die Main Street gelegt hatte. Danny fand, dass die Frage nun höchst relevant geworden war. Sie hatte eine Theorie, was die Zets dort an der Barriere getan hatten. Sie wollten gar nicht zu den Menschen auf der anderen Seite gelangen. Sie wollten vor den Jägern auf ihrer Seite fliehen.
Sie dachte an die Jäger, die sich lautlos bewegten und mit dem Rest des Rudels zusammenarbeiteten. Sie hatten … War es Disziplin? Bessere Instinkte? Sie waren besser, so viel stand für Danny fest. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich. Die Schwächeren, die stöhnenden, dummen Zombies, hatten versucht, vor den Schlaueren zu fliehen. Dannys Gedanken rasten, während ihre Augen trotzdem nach jedem möglichen Versteck oder Angriffsversuch Ausschau hielten. Sie musste einen Zombie finden. Sie wollte nicht, dass sie Danny fanden.
Sie dachte an die Mission, an der sie sich in San Francisco beteiligt hatte. Die langsamen Vertreter, die Danny und Magnussen zuerst auf dem Freeway gesehen hatten, schienen gewusst zu haben, dass die schnellen Zets in der Nähe waren. Die Jäger waren bis dahin noch nicht auf dem Freeway gewesen. Die schlaueren Untoten durchstreiften die Viertel, in denen noch Lebende zu finden waren, die sich in Hinterzimmern oder auf Dachböden versteckten und glaubten, dass sie dort sicher waren. Das war der Grund, warum es auf den normalen Straßen jenseits des Freeway von erstaunlich vielen Untoten wimmelte. Sie waren auf Wanderschaft, genau wie jene in der Wüste. Sie wurden durch die Jäger von außerhalb der Stadt verdrängt. Erst die Ankunft von Danny und Magnussen hatte die Jäger dazu veranlast, sich auf dem Freeway umzuschauen.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet ergab plötzlich alles Sinn. Danny spürte, wie ihr der Schweiß am Körper herablief, und das Brennen auf ihrem Rücken wurde intensiver.
In der gesunden Hand hielt sie eine Eisenstange. Ihr Handstumpf war mit etwas ausgestattet, das Topper nach ihren Vorgaben angefertigt hatte. Es war eine Art stählerner Handschuh, den sie mit einer Sprühdose in Pink lackiert hatte. Das Ding hatte über der Hand die Form einer Kuhglocke und war mit einem langen Gürtel aus Reifengummi an ihren Unterarm geschnallt. Am Ende, wo sich normalerweise ihre Finger befunden hätten, ragte ein fünfzehn Zentimeter langer Dorn hervor, der wie die Spitze eines Schüreisens geformt war. Es war eine Stichwaffe mit einem gekrümmten Haken an der Basis. Dannys Verletzung war von Metall umschlossen, und nur ihr Daumen ragte aus einer Öffnung an der Seite. Ihre Hauptsorge war es, eine Infektion zu vermeiden. Nicht mit der Zombie-Seuche, gegen die sie offenbar immun war, sondern mit den gewöhnlichen Bazillen, die sie beinahe umgebracht hätten. Sie hatte nicht unbedingt vor, den Dorn als Waffe zu benutzen, da ihr das derart große Schmerzen bereiten könnte, dass sie vielleicht wieder bewusstlos wurde.
Es war schade, dass die Zombies nicht imstande waren, Furcht zu empfinden. Dieser üble Haken würde ihnen große Angst einflößen. Dann kam ihr in den Sinn, dass die Monster sehr wohl Furcht empfanden, aber nur vor ihren Artgenossen – beziehungsweise den überlegeneren Vertretern. Genauso wie bei den Lebenden. Das Problem, mit dem Danny nicht gerechnet hatte, war die Abwesenheit der Zombies. Ohne die Zets wäre sie bald nicht mehr als ein weiterer toter Polizist. Aber nachdem sie gesehen hatte, dass die früheren Zombies nicht mehr da waren, kam sie darauf, dass das Problem gar nicht darin bestand, dass es keine Zombies in der Stadt gab. Sie waren hier. Sie waren nur viel geschickter darin geworden, sich nicht blicken zu lassen.
Endlich sah sie einen. Einen von der dummen Sorte. Er hatte ein gebrochenes Bein, und der Fuß zeigte nach hinten. Er schleppte sich damit eine Nebenstraße entlang, die an den Park am Stadtrand gegenüber vom Hotel grenzte. Wenn er in diese Richtung weiterlief, würde er bald die offene Wüste erreichen. Der Park war eine kleine Wildnis aus Bäumen, toten Rosenbüschen und niedrigen Mauern. Viele Stellen, an denen sich ein Jäger verbergen konnte. Doch Danny durfte keine Zeit mehr verschwenden. Entweder funktionierte es mit diesem Zombie, oder sie musste auf Plan B ausweichen. Das Problem war nur, dass sie keinen Plan B hatte.
Sie gab jede Vorsicht auf. Los! Sie lief von hinten auf den Zombie zu. Es war eine Frau mittlerer Größe. Perfekt. Sie wankte neben einem großen steinernen Springbrunnen im spanischen Stil, der schon seit Jahren nicht mehr funktionierte, einstmals das Herzstück des Parks, als Eisenbahnen noch von Bedeutung gewesen waren.
»Happa-happa«, sagte Danny. Ihre Stimme wurde durch die Feuerwehrmaske gedämpft. »Mjam mjam!« Ihr war bewusst, dass die Angelegenheit eigentlich gar nicht witzig war, aber es funktionierte.
Die Zombiefrau hörte Danny und vergaß ihre Absicht, die Stadt zu verlassen. Sie wandte sich Danny zu und bog das gebrochene Bein in einem unnatürlichen Winkel durch, als sie die Richtung änderte. Das Wesen sah ausgedörrt und geschrumpft aus. Die Lippen konnten sich nicht mehr schließen, und die Augenlider waren straff gespannt. Das ehemals braune Haar war verblasst und staubig und stellenweise ausgerissen. Die Haut sah viel zu klein für das Skelett aus.
Der Zet folgte Danny durch den Park. Es schien ewig zu dauern. Sie konnte das Wesen in gemütlichem Spaziertempo auf Abstand halten. Bei der Planung hatte sie nicht an eine solche Möglichkeit gedacht, aber ein Zombie mit Gehbehinderung war immer noch besser als gar keiner. Sie hoffte nur, dass die Hawkstone-Männer nicht aufkreuzten, bevor sie fertig war. Vor allem hoffte sie, dass die Jäger ihre Witterung nicht aufgenommen hatten. Die Atemmaske sollte ihr eigentlich guten Schutz bieten, aber sie durfte die Jäger nicht unterschätzen. Sie spürte den Blick der trüben Augen, die beobachteten und warteten. Sie hoffte, dass es nur an ihrer Nervosität lag. Sie musterte skeptisch die Bäume in ihrer Umgebung. Die Krähen waren immer noch da.
Solange die Krähen in den Bäumen hockten, fühlte sich Danny sicher.
Das M1117 Armored Security Vehicle stand in der Nähe eines kleinen rechteckigen Hauses außerhalb der Stadt. Davor erhob sich eine Betonstatue der Jungfrau Maria. Estevez hatte die Hände an die Feuerkontrollen der 20-mm-Kanone gelegt, aber Murdo hatte ihm den strikten Befehl erteilt, nicht zu schießen, solange die Frauen keinen Fluchtversuch unternahmen. Die Zivilisten liefen mit erhobenen Händen auf die Stadt zu, mit Ausnahme der Frau, die das Baby trug. Murdo dachte sich, dass ein Baby genauso gut wie erhobene Hände war. Die Tierärztin ging voraus, mit stampfenden Schritten, sodass sie als Erste getötet würde. Oder welche Absicht sie damit auch immer verfolgen mochte. Murdo vermutete, dass sie nur demonstrieren wollte, wer der Boss war.
Tu, was du nicht lassen kannst, Doc. Und hoffe, dass keine Zets in der Nähe sind.
Reese war beim Wohnmobil geblieben und schob neben dem nutzlosen Jones Wache. Er war deswegen stinksauer, aber Murdo wäre jetzt lieber auf dem Hügel gewesen, statt in diese beschissene Stadt vorzustoßen. Eins stand fest: Murdo wollte Reese und Ace nicht mehr gemeinsam agieren lassen. Er vertraute ihnen nicht. Murdo stand neben Estevez und suchte die Stadt mit dem Fernglas ab. Seine Zuversicht, das regionale Hauptquartier von Hawkstone gefunden zu haben, wurde durch die Tatsache erschüttert, dass niemand zu sehen war, nicht einmal Wachposten an der Straße, die in die Stadt führte. Auf den Dächern waren keine Männer postiert. Niemand bewegte sich in der Umgebung des Hotels, wo sich seine Leute unter normalen Umständen einquartiert hätten. Die Führungsschicht von Hawkstone gab sich immer nur mit dem Besten zufrieden, und es schien sich um ein recht komfortables Hotel zu handeln.
Amys Herz pochte so heftig, dass sie befürchtete, ihre Rippen könnten sich lockern. In Potter hatte Danny nach Kelley gesucht. Danny war allein zurückgekommen, also keine Kelley in Potter. Das war kein gutes Zeichen. Die zentimeterdicke Staub- und Sandschicht auf der Straße war auch kein gutes Zeichen. Genauso wie die erloschenen Ampeln. Die ausgedörrten Leichen in den Gossen? Auch nicht gut.
Murdo hatte sie alle oben auf dem Hügel aus dem Wohnmobil aussteigen lassen und ihnen befohlen, zu Fuß weiterzugehen, weil er ihnen nicht vertraute. Was natürlich Quatsch war. In Wirklichkeit hatte er nicht den Mumm, ihnen zu sagen, dass sie als Köder gedacht waren. Murdo sah kränklich aus. Seine Züge waren wächsern. Amy dachte, dass es nackte Angst war, die sie in seinem Gesicht sah, weil Murdo sich so sicher gewesen war, dass die Dinge in Potter in seinem Sinne laufen würden. Nun sah es danach aus, dass er sich getäuscht hatte.
Am Bahnhof stand ein langer Zug, der mit verschiedenen Sachen beladen war, aber er war von einer Staubschicht bedeckt. Also stand er dort schon längere Zeit. Wenn das Murdos Hauptquartier war, schien bei Hawkstone nicht alles so zu sein, wie es sein sollte. Sofern die Söldner nicht dazu neigten, ihre Brückenköpfe einfach wieder aufzugeben.
Ein wirbelnder Staubteufel bewegte sich durch das Stadtzentrum.
Amy sah sich auf der Main Street um. Am Boden lagen Leichen. Vielleicht waren es Zombies, vielleicht auch einfach nur Leichen. Sie blickte zu den Geiern auf, die am Himmel kreisten. In den Bäumen hockten Krähen.
Es war Troy Huppert, der die übrigen Männer überzeugte, Danny allein losziehen zu lassen. Er hielt sich die meiste Zeit im Hingergrund, bis etwas getan werden musste. Troy mochte Danny. Sogar sehr. Nachdem sie zu ihrem Abenteuer aufgebrochen war, versuchte er die Rolle des Anführers zu übernehmen, aber irgendwie bekam er sie nicht in den Griff. Zu viele Alphamännchen in der Gruppe. Es war eine Erleichterung, dass Danny zurück war, das unaufhaltsame Alphaweibchen. Aber jetzt hatte er etwas verstanden: Sie würde tun, was sie tun musste, und die anderen würden damit zurechtkommen müssen, ob sie nun überlebte oder starb.
Dann erzählte sie den Männern, dass sie ihren neuen Wagen für eine Spritztour brauchte. Sie war von Autowracks und einer zertrümmerten Welt umgeben, ihr fehlte eine halbe Hand, sie war geschunden, der umgebaute Streifenwagen stand im Leerlauf vor dem offenen Tor, und sie erzählte ihnen, dass sie allein in die Stadt fahren wollte. Von Topper und Ernie kam sofort Widerspruch, die anderen schlugen in die gleiche Kerbe, und schon konnte man seine eigenen Gedanken nicht mehr verstehen. Alle brannten darauf, nach Potter zu fahren und dort etwas Krach zu machen. Es war auch ihr Kampf. Danny versuchte zu erklären, was sie beabsichtigte. Aber sie hörten nicht zu. Schließlich brachte Troy die anderen mit einem lauten Pfiff auf zwei Fingern zum Schweigen.
»Lasst die Lady ausreden«, sagte er. »Sie soll erklären, was sie vorhat.« Er zwang der Gruppe so selten seinen Willen auf, dass er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite hatte.
Danny nickte anerkennend. »Hört gut zu, weil nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile solo unterwegs, und ich habe festgestellt, dass sich auf diese Weise gut Dinge in Gang bringen lassen. Die Methode ist allerdings nicht so gut, um Dinge zu Ende zu bringen.«
»Sie kann dazulernen«, murmelte Patrick.
Danny massierte unbewusst ihren primitiven Stahlhandschutz. »In Potter wimmelt es von Untoten. Diese Hawkstone-Ärsche bringen unsere Freunde dorthin. Patrick haben sie schon einmal als Köder benutzt, und ich glaube, dass sie genau das Gleiche jetzt mit allen anderen in Potter tun. Das bedeutet, dass sie sich nicht mehr so sicher sind, dass dort alles unter Kontrolle ist. Ich sehe es so, dass sie immer wieder Leute opfern werden, bis sie Kontakt zu ihrem Oberkommando erhalten. Das heißt, dass sich in nächster Zeit nichts an dieser Situation ändern wird.«
Sie blickte die Männer der Reihe nach an und musterte sie. Troy versuchte sich vorzustellen, was Danny sah: Don, den dicken älteren Mann, der allmählich wie ein zäher Bursche aussah, mit dreckigen Händen und sonnengebräuntem Gesicht. Patrick mit der übel zugerichteten Visage, augenscheinlich der härteste Kerl der Truppe, was er wahrscheinlich auch war. Auch die Übrigen wirkten recht fit und einsatzbereit. Aus einer zufälligen Ansammlung von isolierten, verängstigten Individuen war nun ein Team geworden – jedenfalls einigermaßen. Und sie wurden stärker und nicht schwächer. Troy hielt es für durchaus möglich, dass sie diese Sache gemeinsam überstanden. Er hoffte, dass Danny genauso empfand.
Wulf, der den Ausguck auf dem Felsrücken bezogen hatte, unterbrach Troys Gedanken mit einem heiseren Ruf: »Sie sollten lieber Ihren Arsch bewegen, Sheriff. Sie kommen!«
Alle Blicke wandten sich Danny zu. Troys Herz raste. Er wollte etwas tun. Er würde alles tun, was nötig war.
»Wenn wir einen Angriff starten«, fuhr Danny fort, »machen sie uns nach Strich und Faden fertig. Der M-elf-siebzehn ist mit einer Zwanzig-Millimeter-Kanone ausgestattet, der Humvee mit einer Ma Deuce, also einem Browning-MG Kaliber fünfzig. Die Kerle sind richtig gut bewaffnet und rechnen jederzeit mit Ärger. Also habe ich mir überlegt, dass wir die Zets zu unserem Vorteil nutzen. Ich werde nicht allein sein. Ich habe eine ganze Armee von Untoten als Rückendeckung. Aber das kann ich nur solo durchziehen.«
»Nein, das wirst du nicht tun, verdammt!«, warf Topper ein.
»Hört mir einfach zu«, sagte Danny. »Inzwischen bin ich eine Expertin auf diesem Gebiet. Wenn ich draufgehe, folgt ihr den Jungs und nehmt sie euch beim nächsten Zwischenstopp vor. Aber ich werde nicht draufgehen.«
»Ach, wirklich?«, sagte Patrick in schalkhaftem Tonfall. »Woher weißt du das?«
»Weil ich gar nicht sterben kann!«, sagte Danny.
Siebzig Sekunden später sprühte sie eine Botschaft auf die Kreuzung.
Dann raste sie mit ihrer bizarren Maschine über den Ore Creek Highway in Richtung Potter und übernahm mit weitem Vorsprung die Führung des Konvois, der immer noch über die Boscombe Field Road rumpelte.
Dannys Worte hatten Troy irgendwie Angst eingejagt. Sie ließen die Diskussionen verstummen. Wenn der Tod nicht mehr endgültig war, wurde die Unsterblichkeit zu einer realistischen Möglichkeit. Aber was ihm einen eiskalten Schauder verursachte, war die Art, wie sie es gesagt hatte. Mit hörbarem Bedauern.
In Wirklichkeit konnte Danny durchaus sterben. Dessen war sie sich die ganze Zeit sehr bewusst. Sie sah den Hawkstone-Konvoi auf der Hügelkuppe auftauchen und wusste, dass es jetzt losging. Das Problem war nur, dass sie den einzigen Zombie in der Stadt eingefangen hatte, soweit sie feststellen konnte. In der Wüste rund um Potter wimmelte es von ihnen, aber die Stadt war komplett geräumt worden. Ohne Zombies hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte.
Als sie ihren Jungs auf dem Schrottplatz gesagt hatte, dass sie mit einer Armee von Untoten antreten würde, hatte es nur verrückt geklungen. Aber inzwischen kam sie sich wie eine Schlangenbeschwörerin vor. Sie wusste, was zu tun war und womit sie durchkommen würde. Das hatten die Männer verstanden. Wären sie mitgekommen, wäre vielleicht jemand angegriffen oder gebissen worden, worauf der ganze Plan hinfällig gewesen wäre. Das hier war ganz allein Dannys Show.
Doch als sie jetzt im Interceptor saß, mit Blick auf den Hügel und die Main Street, geriet sie allmählich in Panik.
Wo zum Henker waren die Zets? Sie hatte keinen Augenblick lang daran gedacht, dass die Stadt frei von Untoten sein könnte. Sie war selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie hier waren. Das war immer der schlimmste Fehler: wenn man etwas als selbstverständlich voraussetzte. Eigentlich sollte sie dankbar sein, dass es hier nicht mehr von wandelnden Leichen wimmelte, aber inzwischen waren sie zu einem Teil ihrer Welt geworden. Sie brauchte sie.
Danny sah, wie der Konvoi anhielt und die Zivilisten von den Hawkstone-Söldnern aus dem Weißen Wal getrieben wurden. Dann begannen ihre Freunde mit dem Marsch in die Stadt, die Hände wie Kriegsgefangene erhoben.
Vorübergehend verlor sie das ASV und den Humvee aus dem Blick. Sie bewegten sich nun zwischen den Gebäuden der Stadt und folgten den Geiseln im Kriechgang. Danny befand sich zwischen den niedrigen Häusern, die sich von den Hügeln herab quer durch Potter zogen und erst an der steilen Böschung über dem Bahnhof endeten.
Sie entschied, dass Plan B darin bestand, Plan A durchzuziehen, ohne besonderen Wert auf ihr persönliches Überleben zu legen. Mehr war im Moment nicht drin. In wenigen Augenblicken würden die Geiseln das Ende der Nebenstraße erreichen, die auf die Main Street führte. Danny wollte sie vorbeigehen lassen. Kurz darauf würde der ASV folgen. Auch den würde sie vorbeirollen lassen. Wenn der Humvee das Ende der Nebenstraße erreichte, würde sie angreifen.
Mit etwas Glück würde sie sich beim Zusammenstoß nicht den Hals brechen, und mit dem Angriff würde sie die Aufmerksamkeit – und das Feuer – der ASV-Besatzung auf sich lenken. Wenn die Waffen in die entgegengesetzte Richtung zeigten, sollten die Geiseln ganz schnell losrennen und sich zerstreuen. Danny hoffte, dass sie nicht dazu aufgefordert werden mussten. Patrick und die anderen würden sie später einsammeln. Danny war davon überzeugt, dass die Männer nicht weit hinter ihr waren. Wahrscheinlich warteten sie auf der anderen Seite des Hügels ab, wie sich die Dinge entwickelten. Zu diesem Zeitpunkt wären die Hawkstone-Kerle längst weg. Danny hätte dann wenigstens die Genugtuung, einen von ihnen getötet zu haben, wenn sie genau in die Fahrertür des Humvee knallte.
Dannys gesunde Hand war schweißfeucht, als sie das Lenkrad des Interceptor hielt. Inzwischen mussten die Söldner den Köder sehen, den sie vorbereitet hatte – den sie ursprünglich als Straße voller Zombies geplant hatte. Das würde sie eine Weile ins Grübeln bringen. Aber dieses Detail gehörte nicht mehr zum aktuellen Plan.
Murdo befahl Parker anzuhalten. Er saß mit Estevez im Geschützturm und litt unter dem üblen Körpergeruch des Kerls. Die Frauen, angeführt von der Tierärztin, standen auf der Straße vor dem ASV. Das Hotel lag rechts von ihnen auf einer steilen Böschung über dem Bahnhof, der Rest der Stadt links von ihnen auf einem Hügel. Da oben gab es einen Park, der mangels Bewässerung abstarb. Reihen aus mickrigen Ziegelsteinhäusern mit Dachschindeln. Potter war bestenfalls eine zweistöckige Stadt. Alles war schlammfarben vom Staub und Sand. Am Boden lagen Leichen, aber sie sahen nicht wie Zets aus. Sie waren steif und von Vögeln angefressen. Keine Spur von einem Hawkstone-Empfangskomitee. Nichts. Die Stadt war verlassen.
Abgesehen von einem Polizeifahrzeug, das ein Stück voraus auf der Main Street vor dem Hotel stand. Beziehungsweise war es einmal ein Streifenwagen gewesen. Nun war es von einer Art Rahmen mit Maschendraht umgeben, und an der Vorderseite hing eine schwere Stoßstange aus Holz, die an eine Belagerungswaffe erinnerte. Die Lichter auf dem Dach blinkten rot, weiß und blau. Selbst aus zweihundert Metern Entfernung konnte Murdo den Umriss des Fahrers erkennen. Er trug einen Polizeihut. Wer auch immer dieser einsame Polizeiwolf war, er sollte sich möglichst schnell aus der Stadt verpissen.
Dann sagte Parker: »Ein Funkanruf für Sie, Boss.«
»Sagen Sie ihm, dass er aus dem Weg gehen soll.«
»Es ist kein er, Murdo.«
Eine ungute Vorahnung lief Murdo als kalter Schauder über den Rücken. Er kletterte unbeholfen in das ASV hinunter und zwängte sich auf den Beifahrersitz. Von hier aus konnte er den Streifenwagen durch die schmale Windschutzscheibe sehen. Die Zivilistinnen nahmen die Hände herunter und blickten sich zum ASV um. Er überlegte, ob er Estevez sagen sollte, eine von ihnen zu erschießen, damit die anderen wieder parierten, aber er befürchtete, dass Estevez nicht in der Lage war, sich mit einem Opfer zu begnügen. Stattdessen nahm er den Hörer des Funkgeräts.
»Polizeifunk«, sagte Parker.
»Hier spricht der Kommandant der Einheit«, sagte Murdo ins Mikrofon.
»Lassen Sie sie frei«, sagte eine Stimme. Tief, trocken und kalt, aber die Stimme einer Frau. Murdo hatte diese Stimme schon einmal gehört. Eine eiserne Faust schien sich um sein Herz zu legen.
Gottverdammte Scheiße, dachte er. Von den Toten auferstanden.
»Ich dachte, wir hätten Ihnen den Rest gegeben«, sagte Murdo und bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall. Er wollte ein herablassendes Lachen anfügen, aber seine Kehle gab nur einen kurzen Knacklaut von sich. Er schluckte. Sein Mund war ausgetrocknet. Sie konnte unmöglich überlebt haben.
»Lassen Sie die Zivilisten frei, dann lasse ich Sie und Ihre Männer leben«, sagte die Stimme. Murdo starrte unwillkürlich auf das groteske Fahrzeug. War es mit Sprengstoff präpariert? Für einen Selbstmordanschlag? War das ein Raketenwerfer am Heck? Er konnte nichts Genaues erkennen. Er blickte zu den Dächern hoch. Vielleicht war es eine Falle. Vielleicht lauerte hier irgendwo der Heckenschütze.
»Hören Sie auf zu bluffen, Miststück«, sagte Murdo. Ihm wurde klar, dass er sich einschüchtern ließ. Dabei saß er in einer undurchdringlichen Stahlfestung. Selbst Raketen würden nichts gegen den mächtigen M1117 ausrichten können. Nicht einmal eine Autobombe. Vielleicht erwischte jemand Estevez im Geschützturm, aber Murdo war unangreifbar.
»Nehmen Sie mit den anderen Verbindung auf«, rief Murdo Estevez zu. »Sagen Sie ihnen, dass sie nach einem Heckenschützen Ausschau halten sollen. Sie sollen auf alles schießen, was sich bewegt.«
Estevez gab den Befehl über sein Satellitentelefon weiter. Ace und Flamingo hielten sich ein Stück hinter ihnen im Humvee bereit. Mit Flamingo am schweren Maschinengewehr hatte Murdo einen weiteren taktischen Vorteil. Wer einen offenen Angriff auf das ASV wagte, würde den Vergeltungsschlag des Humvee nicht überleben.
»Ich gebe Ihnen zehn Sekunden«, sagte die Stimme über Funk.
Die Frau hat Nerven, dachte Murdo.
Wenigstens ein Punkt ihres Plans lief wie am Schnürchen. Danny hatte beobachtet, wie die Frauen am Eingang zur Gasse vorbeimarschiert waren. Amy ging voraus. Bei ihrem Anblick machte Dannys Herz einen Hüpfer. Vielleicht hatte sie sie in diesem Moment zum letzten Mal lebend gesehen. Dann kam das ASV vorbei. Langsam drehten sich die riesigen Stahlräder. Niemand sah sie. Niemand konnte sie sehen. Sie hatte ein paar Bettlaken aus dem Hotel über den Interceptor geworfen und ihn im Schatten eines Carports in der Gasse abgestellt. Er war nur irgendeins von vielen verlassenen Fahrzeugen in der Stadt. Dieser Interceptor war dasselbe Fahrzeug, das sie bei ihrem ersten Vorstoß nach Potter am Aussichtspunkt stehen gelassen hatte, um mit dem Mustang weiterzufahren. In der Zwischenzeit hatte sich niemand daran zu schaffen gemacht. Der Streifenwagen hatte unter der blauen Plane geschlafen und von wilden Verfolgungsjagden geträumt. Es war ein verdammt gutes Auto. Es war fast – aber nur fast – zu schade, es zu zerstören.
Ein paar Sekunden nach dem ASV kam langsam der Hummer in Sicht. Und blieb stehen. Er hatte sich zu drei Vierteln vor die Seitengasse geschoben, sodass sich die Fahrertür exakt auf der Mitte der Kreuzung befand.
Ein Mann saß am MG und ein Mann am Lenkrad. Danny konnte ihre Gesichter sehen. Sie sah ihre Mundbewegungen. Sie beobachtete, wie der Schütze sein Walkie-Talkie benutzte. Selbstverständlich sprachen sie ihr weiteres strategisches Vorgehen ab, während Murdo sich über Funk mit Danny unterhielt. Natürlich benutzte sie das Funkgerät in ihrem Wagen, aber das wusste Murdo nicht. Jetzt kam alles auf das richtige Timing an.
Wenn sie zu lange wartete, würde Murdo seinem Mann an der Kanone den Befehl geben, den umgebauten Streifenwagen unter Beschuss zu nehmen. Das bedeutete, dass die Schüsse über die Köpfe der Geiseln hinweggingen – oder durch sie hindurch. Wenn Danny zu früh angriff, hatten sie vielleicht noch den Vorteil von ausreichend Adrenalin und konnten sie rechtzeitig ausschalten. Sie hielt sie gerade so lange hin, dass sie sich an die Situation gewöhnten. Ihre Konzentration sollte sich nach vorn richten, vielleicht schalteten sie die Fahrzeuge auf Leerlauf oder stellten die Motoren ganz ab.
Schließlich erwies sich der Köder doch noch als sehr nützlich. Murdo dachte, er würde mit der Gestalt im Spezialfahrzeug sprechen, der mit dem Polizeihut. Er konnte nicht ahnen, dass es sich in Wirklichkeit um eine lebende Leiche handelte, die mit Handschellen ans Lenkrad gefesselt war.
Der Plan sah vor, den Fahrer des Humvee zu zerquetschen und dann den Schützen zu töten, bevor er das Maschinengewehr herumschwenken konnte. Falls sie sich danach noch bewegen konnte, würde Danny vom ASV unter Beschuss genommen werden. Dann konnten sich die Frauen in Sicherheit bringen.
Sie war jetzt in angespannter Bereitschaft, wie ein Heckenschütze, der sein Ziel ins Visier genommen hatte, den Finger am Abzug, nur noch eine winzige Bewegung vom Schuss entfernt, der die völlig ahnungslose Zielperson töten würde.
Dann kam plötzlich ein neuer Faktor ins Spiel.
Gleichzeitig flatterten sämtliche Krähen auf.
Amy sah es im selben Moment. In der ganzen Stadt krächzten die Krähen und erhoben sich mit rauschenden Flügeln in die Luft. Sie waren die geborenen Überlebenskünstler. Irgendwann würden sie die dominante Spezies dieses Planeten sein. Als Amy sie beobachtete, war ihr klar, dass die größte Gefahr nicht mehr von der Kanone auf dem Dach der rollenden Festung drohte. Die Gefahr war irgendwo in der Stadt, nicht weit entfernt, und sie kam näher. Möglicherweise von allen Seiten. Wo waren die Untoten? Eigentlich hätte es hier jede Menge geben müssen, doch sie und ihre Freunde waren die einzigen Lebewesen, die auf zwei Beinen standen.
Die Fahrzeuge hatten hinter ihnen angehalten, und Tattoo-Gesicht hatte ihnen zugerufen, dass sie stehen bleiben sollten. Also taten sie es, doch nun standen sie einfach nur wie die Idioten herum, völlig im Freien. Sie starrten auf den seltsamen Streifenwagen. Er sah wie ein gedrungenes prähistorisches Sumpfwesen aus, mit einer Schnauze wie ein Alligator.
Zuerst dachte Amy, irgendein Polizeitrottel aus der Stadt würde sich mit einem Mad-Max-Spiel die Zeit vertreiben. Doch dann dachte sie: Vielleicht ist es Danny. Aber die Gestalt im Fahrzeug, die hinter dem Maschendraht und den Stahlrohren nur schwer zu erkennen war, bewegte sich nicht wie Danny. Es sah fast aus, als würde sie sich gegen etwas wehren. Außerdem war Danny tot.
»Leute?«, sagte Amy. Sie hatte dem ASV den Rücken zugewandt und blickte auf das Polizeifahrzeug.
»Ja?« Es war Becky, die antwortete, aber nun hörten alle anderen Frauen auf zu flüstern.
»Hört mir gut zu«, fuhr Amy fort. »Erstens: Wir haben diesen Polizisten vor uns und Murdo hinter uns. Also denke ich, dass es zu einer Schießerei kommen könnte. Nicht bewegen …« Sie sagte es, als sie hörte, wie Füße im Sand auf dem Asphalt scharrten. »Tut nichts Unbedachtes.«
Es war wichtig, mit ruhiger und gleichmäßiger Stimme zu sprechen, damit niemand in Panik geriet. Aber genauso wichtig war es, dass sie taten, was Amy ihnen sagte.
»Ich halte es für das Beste, wenn wir in beide Richtungen loslaufen, ja? Nach links und nach rechts. Wenn ihr auf der Straße bleibt, werden sie euch erwischen. Also zerstreuen wir uns. Lauft in verschiedene Richtungen. Wir können ruck-zuck von der Straße verschwunden sein, wenn wir auf beiden Seiten hinter diesen Häusern verschwinden.«
»Wann laufen wir los?«, zischte eine Stimme. Es war Linda Maas. Sie drückte Michelle und Jimmy James an ihren Busen und machte ihnen damit nur noch mehr Angst.
»Ich bin noch nicht fertig«, sagte Amy. »Da ist nämlich noch eine andere Sache. Seht ihr die Krähen? Sie fliegen fort, wenn Zombies in der Nähe sind.«
»Das haben sie gerade getan«, sagte Pfeiffer mit hörbarer Angst in der Stimme.
»Ja, das haben sie.« Amy redete im gleichen ruhigen Tonfall weiter. »So etwas machen Krähen sehr gern. Wenn ihr also losrennt, rennt nirgendwo hinein, wo ihr nicht mehr rauskommt, okay? Bringt euch einfach nur vor den bösen Jungs hinter uns in Sicherheit. Ich würde vorschlagen, dass ihr in weitem Bogen in die Richtung zurücklauft, aus der wir gekommen sind.«
Es fühlte sich an, als würden sie schon sehr lange auf der Straße stehen. In Wirklichkeit war noch keine Minute vergangen, seit Murdo die Prozession zum Stehen gebracht hatte. Aber mit jeder verstreichenden Sekunde rückte etwas näher heran. Daran ließen die Krähen keinen Zweifel. Selbst wenn es nicht zur drohenden Schießerei kam, würde etwas anderes geschehen.
»Amy?«, sagte Michelle.
Bisher hatte Amy ihre Gefühle einfach ausgeblendet. Das war eine Überlebensstrategie, als würde man versuchen, einen Wagen unter Kontrolle zu bekommen, der auf Glatteis ins Rutschen gekommen war. Als Michelle sprach, kam ein persönliches Element ins Spiel. Es war, als würde sie daran erinnert, dass Kinder auf dem Rücksitz des schlitternden Wagens saßen. Amy holte tief Luft. Die Zeit wurde knapp.
»Ja?«
»Sollten Jimmy James und ich in die gleiche Richtung laufen oder uns zerstreuen?«
»Ihr beiden zerstreut euch in die gleiche Richtung.«
»Danke.«
»Keine Ursache.« Amy befürchtete zu ersticken, wenn das Mädchen noch ein Wort sagte. Obwohl Amy so stand, dass sie niemanden außer der seltsamen Gestalt im Streifenwagen sah, konnte sie sich Michelle lebhaft vorstellen – mit aufgeschürften Knien und blauem Haar, das an den Ansätzen blass wurde.
Die Krähen hatten ihre bevorzugte Flughöhe erreicht und kreisten über der Stadt. Ein gutes Stück höher segelten die Geier in der Atmosphäre. In wenigen Augenblicken …
»Amy?« Schon wieder Becky.
»Seid ihr bereit?« Amy spannte sich an, ohne ihre Haltung zu verändern.
»Einen Moment, Amy. Äh … wer ist das?«
Amy blickte sich um. Becky hielt ihre Freundin an der Schulter fest. Amy konnte sich nicht an den Namen der Freundin erinnern. Sie zeigte auf das Hotel. Amy blickte in die Richtung. Dann sah auch sie es. Auf dem Parkplatz des Hotels war jemand, der sie beobachtete. Er hockte hinter einem Minivan. Amy ließ den Blick über die lautlose Stadt schweifen. Jemand anderer versteckte sich oben im Park. Es waren mehrere. Sie beobachteten reglos, hinter den toten Sträuchern kauernd.
»Da«, sagte Linda Maas.
Amy folgte ihrem ausgestreckten Arm. Unter einem der staubbedeckten Autos an der Main Street waren die dunklen Schatten zweier Füße zu erkennen. Dann sah sie immer mehr. Auf den ersten Blick war es hier menschenleer, aber sie waren keineswegs allein. Amy fragte sich, wer sie waren und warum sie ein solches Risiko eingingen.
»Zeigt nicht darauf«, sagte sie. »Macht Murdo nicht auf sie aufmerksam.«
»Sie haben etwas Unheimliches«, flötete Jimmy James leise.
Auch Amy sah es. Alle sahen es.
Amy kam die Idee, dass ihre Situation gar nicht mehr schlimm, sondern noch viel schlimmer geworden war.
Im ASV kam Murdo ins Schwitzen und wurde immer wütender. Ständig kam ihm irgendwelche Scheiße dazwischen. Er traf eine Entscheidung.
»Wissen Sie was?«, sagte er. »Scheißen Sie drauf, Estevez. Eröffnen Sie das Feuer!«
Danny blickte den aufflatternden Krähen nach. Ein Schwarm Krähen, dachte sie. Eine Rotte Wildschweine, eine Schule Delfine, ein Trupp Paviane. Diese Begriffe hatte sie von Amy gelernt. Ein Rudel Zombies.
Sie konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung die Gefahr kam. Dazu waren die Krähen zu undiszipliniert. Sie folgten keiner bestimmten Richtung. Was aber auch bedeuten konnte, dass sich die Gefahr von überall näherte. Konkret bedeutete das für Danny, dass es höchste Zeit wurde. Mit der gesunden Hand griff sie nach dem Zündschlüssel und machte sich bereit, den Motor anzulassen. Keiner der Männer im Humvee blickte in ihre Richtung. Sie würde nur wenige Sekunden bis zu ihnen brauchen. Das war ihre Chance.
Als Dannys Finger sich spannten, um den Schlüssel zu drehen, sah sie eine Bewegung am Rand ihres Gesichtsfelds.
Sie blickte in den Rückspiegel. In einem Türeingang sah sie eine menschliche Gestalt, die sie anstarrte. Sie kauerte im Schatten, und die schmalzfarbenen Augen waren auf Danny gerichtet. Die runzligen Finger hoben sich.
Ein Jäger, dachte Danny. Fast hättest du mich erwischt, du Scheißer. Sie knurrte, obwohl es ihr nicht bewusst war.
Dann hörte sie das Krachen der 20-mm-Kanone. Zu spät, sagte die Stimme. Im gleichen Moment ließ Danny den Motor an, trat aufs Gaspedal, und der Interceptor sprintete los. Die ungezügelten 200 PS des Motors ließen die Entfernung zum Ziel rapide schrumpfen. Ihre Ohren rauschten vom Donner, den die Kanone erzeugte. Zu spät.
Der Fahrer des Humvee drehte den Kopf und sah den Interceptor auf sich zurasen. Der Lärm des großen Geschützes hatte das Motorengeräusch übertönt. Er hatte nur die Bewegung aus dem Augenwinkel registriert. Danny konnte sehen, wie er die blauen Augen aufriss und die Brauen nach oben zuckten. Dann beugte er sich vor, um den Einschaltknopf zu drücken. Zu spät.
Der Schütze auf dem Dach schwang bereits das Maschinengewehr herum, aber es dauerte eine Weile, bis er die Neunzig-Grad-Drehung vollzogen hatte und der Lauf in Dannys Richtung zielte. Zu spät.
Der Interceptor traf den Humvee mit der Wucht einer Abrissbirne. Die Beschleunigung hatte die Nase des Streifenwagens mehrere Zentimeter emporgehoben, aber sie ragte keineswegs über die schwere Karosserie des Ziels hinaus. Der Zusammenstoß war so heftig, dass der Motorblock des Interceptor tief in die Fahrertür gedrückt wurde. Das gesamte Fahrzeug wurde mit kreischenden Reifen anderthalb Meter seitwärts über die Main Street geschoben.
Danny hatte vorher den Sicherheitsgurt angelegt. Eine Fünfundzwanzigstelsekunde nach dem Aufprall hatten sich beide Airbags aufgeblasen. Die Schnauze des Interceptor knautschte sich konstruktionsgemäß wie ein Akkordeon um den Motor. Danny wurde nach vorn geschleudert, dann gegen die Rückenlehne ihres Sitzes. Im Interceptor breitete sich der Geruch nach Maisstärke aus den Airbags aus. Kleine Objekte flogen durch die Fahrgastzelle. Danny hatte gründlich alles aus dem Wageninnern entfernt, das sich in ein gefährliches Geschoss verwandeln konnte, aber es blieb immer etwas übrig. Kleingeld und Büroklammern. Alle Fensterscheiben zersprangen und lösten sich in funkelnde Krümel auf. Dannys Arme flogen beim Aufprall hilflos herum, da menschliche Muskeln nicht fähig waren, den Beschleunigungskräften bei einem plötzlichen Zusammenstoß etwas entgegenzusetzen. Die Hand mit dem Haken wurde ins Armaturenbrett gerammt. Das Lenkrad verbog sich. Der Interceptor kam zum Stehen, und aus seinen Innereien bluteten Benzin und Kühlerflüssigkeit.
Dannys Vorteil war das Überraschungsmoment. Sie wusste, was jetzt kam. Ein weiterer Hammerschlag für ihren geschundenen Körper. Aber sie hatte sich darauf vorbereitet, so gut es ging. Ihr Bewusstsein blendete sich kurz nach dem Crash ein paarmal aus und ein, doch dann war sie wieder da und blickte über den erschlafften Airbag durch die zerstörte Windschutzscheibe auf die Seite des Humvee. An den Glasresten des Fahrzeugs klebte Blut, und der Schütze sackte gerade ins Innere und hielt sich das verletzte Gesicht. Mit dem Angriff hatte Danny einen Volltreffer gelandet.
Dann setzten die Schmerzen in ihrer verkrüppelten Hand mit voller Wucht ein, und ein paar Sekunden lang dachte Danny, sie wäre zu nichts anderem mehr imstande, als unter diesen Schmerzen zu leiden. Sie füllten ihre komplette linke Körperhälfte mit Feuer und schreiendem blauen Licht aus. Jeder durchtrennte Nerv in ihren Fingerknöcheln erwachte kreischend. Danny keuchte, verdrehte die Augen und wand sich im Sitzgurt. Dann ebbte die Explosion zu einem konstanten Hämmern ab, und sie war wieder handlungsfähig.
Die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Sie löste den Gurt und kroch durch den leeren Fensterrahmen. Dannys Beine würden sie nicht aufrecht halten, aber sie musste hinter die beiden Fahrzeuge gelangen, weil die 20-mm-Kanone sie jeden Moment ins Visier nehmen würde. Sie stützte sich am Interceptor ab und wankte nach hinten. Zwischendurch griff sie nach ihrer Schrotflinte auf dem Rücksitz. Sie war noch in Ordnung. Es wurde Zeit, richtig böse zu werden. Danny spürte, wie sich die stählerne Manschette über der Amputationswunde mit warmer Flüssigkeit füllte – zweifellos Blut.
Dann erinnerte sie sich an den Zet. Die Jäger waren in der Stadt. Trotz der Gefahr von vorn durfte sie ihre Rückendeckung nicht vergessen. Ihre Beine reagierten wieder, also ging sie hinter den Humvee. Sie wollte gerade zur Tat schreiten, als sich das Wesen mit ausgestreckten Klauen auf sie stürzte.
Amy hörte, wie die Kanone aktiviert wurde. Sie alle kannten dieses Geräusch von der Demonstration auf dem Flugplatz. Sie musste nichts sagen. Wer auch immer die Beobachter in den Schatten waren, es wurde Zeit, sich in Bewegung zu setzen. Die Frauen zerstreuten sich. Da sie in die falsche Richtung blickte, erhielt Amy keine Gelegenheit, sich zu überzeugen, dass jemand außer ihr selbst die erste Kanonensalve überlebte. Sie machte einen langen Schritt, der ihre Beinmuskeln spürbar spannte, und warf sich dann mit einem Hechtsprung neben das Haus links von ihr. Außer dem Donnern der Kanone war nichts zu hören. Sie hatte das Gefühl, von den Projektilen zerrissen zu werden, aber sie war immer noch am Leben. Sie warf sich ein Stück weiter und stieß gegen etwas Hartes. Es war die Mauer des Hauses. Sie kroch um die Ecke, kam auf die Beine und rannte los.
Jemand war neben und jemand anderer hinter ihr. Wer sie waren oder wie viele, wusste sie nicht. Dann kamen sämtliche Beobachter aus ihren Verstecken, mit gebleckten Zähnen und ausgestreckten Armen. Amy erkannte, was sie waren, und die Angst verlieh ihr Flügel.
Während des Angriffs auf den Humvee hatte sich für Danny die Zeit verlangsamt, doch nun lief sie schneller als gewöhnlich ab. Die Ereignisse überschlugen sich in rasendem Tempo und zuckten wie ein Stroboskopgewitter an ihr vorbei. Danny stach dem Zet ins Gesicht, als er nach ihr greifen wollte. Durch seinen Schwung wurde ihre primitive Waffe tief in den Kopf getrieben, bis der Haken am Schädelknochen kratzte. Sie zog die Speerspitze heraus, stieß das Wesen mit einem Fußtritt zurück und erschoss es.
Als die 20-mm-Kanone vor weniger als einer Minute das Feuer eröffnet hatte, war eine seltsame Leere über Danny gekommen. Der Donner bedeutete das Ende von Amy, das Ende einer langen Bindung. Danny war zu ihnen zurückgekehrt, und dies war ihre Buße. Sie musste nur noch ihre Aufgabe zu Ende bringen, so viel davon, wie ihr möglich war, bevor sie selbst in Stücke gerissen wurde. Dann würden die anderen ohne sie auskommen müssen. Sie würde sterben, bevor sie diese Sache erledigen konnte. Das war unausweichlich. Doch ihre Gedanken formulierten dieses Wissen nicht. Sie dachte nur zwei Worte: zu spät. Sie standen für alles andere.
Die Kanone hatte nur einen einzigen Feuerstoß abgegeben. Inzwischen musste den Leuten klar geworden sein, dass sich hinter ihnen etwas tat. Danny feuerte zweimal mit der Schrotflinte in den Humvee. Sie machte sich nicht die Mühe, genau zu zielen, sie hielt die Waffe nur über ihrem Kopf ins Heckfenster und drückte den Abzug. Zwei der Untoten stürmten in die Kabine des Humvee, als Danny sich davon entfernte. Vor ihr sah sie das ASV, von dem eine weiße Schießpulverrauchwolke im Sonnenlicht davontrieb.
Es schien keine Übergangsphasen zu geben, wenn sie von einem Schauplatz zum nächsten wechselte. Danny war hier und dann dort, wo sich etwas anderes ereignete. Ein weiterer untoter Jäger war hinter ihr. Sie drehte sich um und schoss, und das Wesen wurde zu Boden geworfen. Danny drückte sich mit dem Rücken gegen die nächste Mauer, dann rannte sie weiter. Hinter dem Humvee drehte sich der Geschützturm des ASV. Sie musste näher heran und unter den tiefsten Schusswinkel des Laufs gelangen. Alle Wüsten, in denen sie jemals gekämpft hatte, alle Feinde, gegen die sie jemals gekämpft hatte, verschmolzen nun miteinander. Alle waren nur noch dünne Schatten, die unter einer hellen, endlosen Sonne flackerten.
Murdo sah, wie der Drachenatem des Kanonenfeuers über seinen Kopf hinweg auf die Zivilisten zuschoss, die sich bereits in alle Winde zerstreuten. Der Donner war ohrenbetäubend. Die plumpe Frau, die ständig weinte, wirbelte herum und stürzte. Ihr war der Arm an der Schulter abgerissen worden. Die anderen waren mit wenigen Sprüngen von der Straße verschwunden. Die Leuchtspuren jagten die Main Street entlang und erreichten den umgebauten Streifenwagen. Die Lichter auf dem Dach explodierten in roten und blauen Plastikfetzen und Scherben aus Chrom. Das Dach wurde eingedellt. Estevez war ein Künstler. Trümmer flogen aus dem Stahlrohrrahmen. Er konzentrierte das Feuer auf die Fahrerseite, und die Person hinter dem Lenkrad wurde zerrissen. Estevez ließ die Feuerkontrollen los.
Es gab ein Problem. Das Blut, das aus dem Polizeifahrzeug lief, war schwarz und nicht rot. Und nun waren Schüsse zu hören. Alles geschah viel zu schnell.
»Hinter uns!«, sagte Murdo, und Parker schaltete die Heckkamera ein. Sie sahen gerade noch rechtzeitig, wie der Sheriff mit einer Schrotflinte auf sie zurannte.
Parker legte den Rückwärtsgang ein und ließ die Maschine losrollen. Die Kamera zeigte ein Gemetzel, das der Kanonendonner übertönt hatte. Der Humvee war von einem zweiten Streifenwagen gerammt worden. Murdo begriff sofort, was los war. Man hatte ihnen einen Köder vor die Nase gehalten. Sie hatten genau dort gestoppt, wo sie stoppen sollten, in dem Abstand, den sie von gut ausgebildeten Männern erwarten konnte. Und dann hatte das Miststück sie fertiggemacht.
Auf dem verwackelten Kamerabild sah es nicht danach aus, als würde sich am Humvee noch irgendwer bewegen. Der Sheriff lief mitten auf der Straße. Dann ließ sich die Polizistin fallen, und der M1117 fuhr über sie hinweg. Parker rammte im Rückwärtsgang den Humvee und drückte ihn gegen die Wand des Hauses am Straßenrand.
»So läuft das!«, sagte Murdo triumphierend zu Parker. Dann blickte er durch die vordere Scheibe und sah, wie der Sheriff wieder auf die Beine kam. Mit einer Bodenfreiheit von fünfundvierzig Zentimetern hatte sie sich nur auf die Erde legen müssen.
Die Frau machte sie zum Narren. Und nun erkannte Murdo ihre Strategie. Jetzt war alles klar. Der Sheriff hatte Freunde mitgebracht, mehrere Araber, wie es aussah, dunkelhäutige Menschen mit weißen Zähnen. Nur dass sie vor ihnen davonrannte und auf sie schoss. Sie waren hinter ihr her.
»Ach du Scheiße«, sagte Parker.
Es waren Zets, und sie rannten. Sie wankten wie Affen, aber sie waren schnell.
Estevez eröffnete das Feuer mit der Kanone, und ein halbes Dutzend dieser Wesen wurde zerfetzt. In der Ferne erzitterten die Rosenbüsche im Park und ließen ihre Blätter auffliegen, als die Geschosse hindurchrasten. Der Springbrunnen mitten im Park löste sich in seine Bestandteile auf. In der Landschaft bildeten sich Krater, von denen Sandfontänen hochschossen. Murdo hatte den Sheriff nun aus dem Blick verloren. Es ging nur um sie. Das Wichtigste war es, sie aufzuhalten. Aber sie schien spurlos verschwunden zu sein.
»Geben Sie mir eine neue Ladung!«, rief Estevez.
Dann schüttelte sich das Wrack des umgebauten Streifenwagens auf der Main Street und erwachte zum Leben. Ein glänzender Haken riss die Reste der Windschutzscheibe heraus. Der Sheriff war im Gefährt und machte sich bereit, sie anzugreifen.
Amy rannte um ihr Leben.
»Hier entlang«, sagte eine Stimme, und weil sie in ihrem linken Ohr war, wandte sie sich nach links. Sie sah ein schwarzes Rechteck. Sie rannte hinein, prallte dann gegen etwas und stürzte. Es gab einen Knall und dann Dunkelheit. Sie waren in einem Gebäude. Eins der Wesen krachte gegen die andere Seite der Tür und hämmerte dagegen.
Hände packten Amy und zogen sie auf die Beine. Dann rannten sie wieder und wichen beinahe tänzerisch den Objekten innerhalb des Gebäudes aus. Lagerräume und schmale Korridore. Es roch nach Schimmel und Moder. Dann ein großer Raum mit Holz an der Decke, Dunkelheit, eine Million Stühle und Tische, Blechgeschirr und Vitrinen. Es war ein Antiquitätenladen, der nur von einem Sonnenfleck auf dem Boden erhellt wurde, der durch das staubige Fenster zur Main Street hereinfiel.
Michelle und Jimmy James waren bei ihr und liefen vor ihr durch den Laden. Amy folgte ihnen, dann zögerte sie – weil sie ein seltsames Bild durch das Fenster sah. Die Kinder drängten sie, sich zu beeilen. Aber Amy musste irgendwie mit dieser Vision zurechtkommen.
Es war Danny auf der Main Street, mit einer Schrotflinte. Sie stürzte, dann rollte das schwere Fahrzeug genau über sie hinweg und krachte gegen etwas außerhalb ihres Sichtfeldes. Als Nächstes sah sie, wie Danny wieder aufstand. Amy verstand es nicht. Es war eine Vision, mehr nicht. Irgendwo im Gebäude flog krachend eine Tür auf, und Amy folgte den Kindern durch eine Öffnung auf der anderen Seite.
Danny konnte ihr Glück kaum fassen, als der Motor des Streifenwagens sofort ansprang. Der Schütze hatte das Feuer auf die obere Hälfte des Fahrzeugs konzentriert, und der Motor war unbeschädigt geblieben. Ein paar Geschosse hatten die Bahnschwellen an der Vorderseite getroffen, aber nichts Wichtiges zerstört. Das Dach jedoch sah wie ein zerknülltes Tuch aus metallischer Spitze aus. Die tragenden Säulen waren praktisch nicht mehr vorhanden. Der Innenraum war mit Zombieingeweiden besudelt und stank, aber Danny hatte schon wesentlich Schlimmeres erlebt.
Blut floss vom Amputationsschutz ihrer linken Hand bis zum Ellbogen hinunter. Die Speerspitze war verbogen. Sie hätte sich beinahe selbst damit verletzt, als sie in das Fahrzeug stieg. Es war überflüssig, die Handschellen zu öffnen, mit denen sie die Zombiefrau gefesselt hatte. Die Arme des Wesens hingen noch am Lenkrad, aber der Rest des Körpers war nicht mehr da. Mit der gesunden Hand feuerte Danny zweimal die Schrotflinte ab und entfernte zwei der schnellen Zets vom Wagendach. Sie hatten am Metall gezerrt, um ins Innere zu gelangen.
Sie drückte das Gaspedal durch, und die Maschine beschleunigte. Der M1117 Guardian rollte weiter wie ein rasender Stier, der die Herausforderung eines Matadors annahm. Die mühlsteingroßen Räder wirbelten den Sand auf, als das Gefährt schneller wurde. Die Entfernung zwischen beiden Fahrzeugen betrug nun um die zweihundert Meter. Danny hatte nur eine ungefähre Vorstellung von dem, was sie tun wollte. Das Hotel sauste links von ihr vorbei. Dann der Parkplatz, auf dem sie den Mustang wiedergefunden hatte. Ein Jäger warf sich auf den Streifenwagen, und eins der Stoßstangenhörner, die aus der Schwelle ragten, bohrte sich in seine knochige Brust. Das Wesen klappte die Kiefer auf und zu, mühte sich ab und wurde dann unter die Räder gerissen. Danny verlor keine Geschwindigkeit. Jetzt kam das ASV zusehends näher. Aus ihrer niedrigen Perspektive verdeckte es den Himmel wie ein riesiges Schlachtschiff. Die Böschung neben dem Hotel sauste an Danny vorbei, und kurz sah sie die markante Treppe, die zum Bahnhof hinunterführte. Für Danny fühlte es sich fast so an, als würde sie fliegen. In wenigen Augenblicken würde der Zustammenstoß erfolgen.
»Mach sie platt!«, schrie Murdo rasend vor Wut.
Parker gab Gas, und das ASV hielt auf den angenagten Kadaver des hässlichen Polizeifahrzeugs zu.
»Geben Sie mir eine neue Ladung!«, rief Estevez erneut.
»Einen Moment noch!«, rief Murdo zurück. »Hier geht es um eine beschissene Mutprobe!«
Estevez kam vom Turm herunter und hielt sich an Handgriffen fest. Von seiner Position aus konnte er nicht mehr nach vorn sehen, aber Murdo ließ keinen Zweifel daran, was geschah. »Machen Sie sie einfach platt! Wenn sie ausweicht, bleiben Sie an ihr dran. Das ist die Endrunde des Spiels. Sie kann uns hier oben überhaupt nichts anhaben!«
Der Abstand verringerte sich. Der Streifenwagen verließ den Schatten des Hotels, dann war er im Freien und raste weiter die Main Street entlang. Von hier aus hatte man einen guten Blick auf den Versorgungszug unten am Bahnhof. Wenn das hier vorbei war, wollte Murdo die Lok anwerfen und damit nach Colorado fahren. Dort würden sie sich mit der Hauptstreitmacht zusammentun. Auf gar keinen Fall wollte er hierbleiben, wo es Zombies gab, die rannten und jagten. Dann blendete er diese Gedanken aus, weil es nur noch wenige Sekunden bis zum Zusammenstoß waren.
Amy folgte den Geschwistern durch eine Privatwohnung, die sich an den Antiquitätenladen anschloss. Auch hier türmten sich alte und kaputte Dinge, aber es gab auch eine Kochnische, ein Wandtelefon und ein paar Inseln normalen Lebens. Sie hielten sich an den Händen, um sich gegenseitig durch das Gerümpel zu führen. Hinter ihnen bewegten sich die Jäger krachend durch die Verkaufsräume. Sie zerschlugen Dinge und warfen Mobiliar um, während sie der Witterung ihrer Beute auf dem kürzesten Weg folgten.
Die Menschen standen nach dem Abstecher durch die Dunkelheit plötzlich wieder im grellen Sonnenlicht – unter einer Markise an einer kleinen Nebenstraße. Am Ende der Gasse sahen sie die blutigen Wracks eines ineinander verkeilten Humvee und eines Streifenwagens. Beide Fahrzeuge waren gegen das Ziegelsteingebäude auf der anderen Seite der Kreuzung gekracht.
Amy musste entscheiden, in welche Richtung sie weiterlaufen sollten. Auf der Main Street herrschte Chaos, und sie war zu übersichtlich. Die Gasse war schmal, und hier konnten sie leicht von den Wesen in die Enge getrieben werden. Sie hörte eine Stimme. Es war Becky, die am anderen Ende der Gasse stand und ihnen von einer Anhöhe aus zuwinkte. Dann lief sie weiter.
Amy drückte die Hände der Kinder fester und rannte mit den beiden los, so schnell sie konnte. Sie kämpften sich durch die lange, vermüllte Gasse, in der überall etwas lauern konnte.
Hinter ihnen zersplitterte Glas. Eine Tür flog krachend auf. Die Jäger waren ihnen dicht auf den Fersen. Jetzt konnten sie nur noch rennen und hoffen, dass sie schneller als die Untoten waren. Von unten kam ein gewaltiger Knall, Metall schlug quietschend gegen Metall, dann erzitterte der Boden unter krachenden Geräuschen. Amy bekam kaum etwas davon mit. Sie hörte nur den Pulsschlag in ihren Ohren, die klatschenden Schuhe und den keuchenden Atem der Kinder neben ihr.
Als der Sheriff das Lenkrad des Streifenwagens herumriss, geschah es im letzten möglichen Augenblick. Murdo wusste jedoch, dass es zu spät für sie war, sich noch zu retten. Zu spät. Parker schrie triumphierend und drehte gleichzeitig das Lenkrad des ASV, um das Polizeifahrzeug weiterverfolgen zu können.
Genau in diesem Moment erkannte Murdo, was sie getan hatte. Der Sheriff hatte sie ausgetrickst.
Als Danny auswich, konnte sie in das Cockpit des ASV blicken. Die Zeit bewegte sich rasend schnell, aber jeder flüchtige Eindruck war so lebhaft wie Bilder, die an einer Wand hingen. Krähen am blauen Himmel, Bäume mit braunen Blättern. Der riesige Kühlergrill des ASV vor dem Beifahrerfenster ihres Fahrzeugs. Die Nase des Streifenwagens vor dem Hintergrund des Bahnhofs. Dann war die Tür offen, und Danny segelte durch die Luft. Sie hörte einen gewaltigen Zusammenstoß, aber zufällig war ihr Gesicht dem Boden zugewandt, als es geschah. Sie landete auf der Böschung, und der Schutz über ihrer linken Hand flog davon. Sie drückte sich den verletzten Arm in die Magengrube und rollte weiter.
Als Danny zur Ruhe kam, lag sie auf dem Rücken auf dem aufgeplatzten Beton des Bahnsteigs. Zehn Meter weiter kam das ASV die Böschung herunter. Es landete kopfüber auf dem Dach, und der Geschützturm wurde in den Boden gerammt. Das Erstaunliche war, dass das Fahrzeug offenbar völlig intakt geblieben war. Es hatte sich auf etwa sieben Höhenmetern zweimal überschlagen, und nun sah es aus, als wäre nur eine kräftige Zugmaschine nötig, um es wieder aufzurichten, worauf es unbeschadet weiterfahren würde.
Danny hoffte, dass die Insassen tot waren, aber darauf konnte sie sich nicht verlassen. Und sie waren keineswegs im Fahrzeug gefangen. Das Ding hatte jede Menge Türen und Luken. Danny musste sich eine Waffe besorgen, bevor die Arschlöcher herauskriechen konnten.
Sie stand auf, und wäre sie in einer besseren Gemütsverfassung gewesen, hätte sie sich darüber gefreut, dass ihre Gliedmaßen im Großen und Ganzen funktionsfähig waren. Sie hatte sich aus einem schnell fahrenden Auto geworfen und den Sturz praktisch unverletzt überstanden. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die sie mit ihrem Handstumpf hatte. Die Schmerzen waren wie lautes Geschrei, von dem ihre Ohren und Nerven taub wurden. Danny humpelte über den Bahnsteig auf die Treppe zu.
Dann sah sie sie. Drei Jäger, die vorsichtig über die Böschung lugten. Sie beobachteten Danny.
Zwei weitere tauchten auf, dann kroch einer weiter vor und zeigte sich in voller Lebensgröße. Sie wurden mutiger. Danny hörte ein Rascheln in den Büschen, wo die Böschung in einen Hügel überging. Es wurde Zeit, sich möglichst schnell von hier fortzubewegen.
Danny entschied, dass sie doch nicht zur Main Street zurückkehren wollte. Sie rannte über den Bahnsteig zum staubbedeckten Zug und schloss sich in einem Passagierwaggon ein. Sie lief geduckt bis zum Ende des Waggons, dann stieg sie durch eine Tür auf der anderen Seite aus.
Sie trat auf den Boden und humpelte an den Gleisen entlang, so schnell ihre schmerzenden Glieder sie trugen. Schließlich war Potter hinter einer langgezogenen Kurve verschwunden, wo die Bahnlinie einer wuchtigen Felsformation ausweichen musste.
Nach einer Weile fühlte sie sich müde und schwindlig. Sie fand, dass sie sich ein gutes Stück von der Stadt entfernt hatte. Danny setzte sich zwischen die glühend heißen Gleise, eine kleine dunkle Gestalt auf der flachen weißen Salzebene der Wüste. Sie ließ das Blut von ihren Fingerstümpfen auf die eiserne Schiene tropfen. Es zischte und trocknete zu kleinen rostigen Münzen mit dunklen Rändern. Die Sonne heliographierte kryptische Botschaften auf ihre Netzhaut. Hab getan, was ich konnte, dachte sie.
Dann fiel sie auf die Seite und lag reglos da.