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Keine hundert Meter entfernt stand der Armeekonvoi auf dem Freeway – zwischen den vielen Fahrzeugen des täglichen Lebens, die ebenfalls verlassen waren. Es sah beinahe wie das Standbild einer gewöhnlichen Verkehrsszene aus. Aber dieser Verkehr würde sich für sehr lange Zeit nicht von der Stelle bewegen. Der Himmel wurde allmählich heller. Bis zum Sonnenaufgang war es noch eine knappe Stunde. Das Licht genügte, um mindestens zwei Dutzend Gestalten zu erkennen, die zusammengekauert zwischen den Militärfahrzeugen auf dem Asphalt lagen. Andere verteilten sich zwischen den zivilen Fahrzeugen, soweit sie sehen konnten. Beide Frauen hatten ihre Taschenlampen gelöscht. Sie wollten niemanden vorzeitig auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen.
Hinter der Mauer ertönte hungriges Stöhnen, doch es schien die Zets auf dem Freeway nicht im Geringsten zu stören. Vielleicht waren sie schon zu sehr verwest, um sich rühren zu können, dachte Danny. Aber sie hatten Nahrung gehabt, sodass sie in besserer Verfassung sein mussten als die auf der anderen Seite der Mauer. Das schien ein entscheidender Faktor zu sein. Danny hoffte, dass die schnellere Variante in dieser Gegend nicht vorkam. Sie waren dem Epizentrum immer noch recht nahe, höchstens sechs Meilen. Die intelligenteren Zombies hatte sie mindestens achtzig Meilen entfernt gesehen. Das wäre eine Erklärung, warum Magnussen so ungezwungen mit den Untoten umging, aber nicht dafür, dass sie Danny als Köder benutzen wollte.
Danny würde in den Cougar steigen und ihn zur Seite fahren, um den Weg für den Lastwagen freizumachen. Dann wollte sie San Francisco für immer hinter sich lassen. Diese Gedanken wiederholte sie immer wieder. Nur noch fünf Minuten, dann war sie auf dem Weg nach Boscombe Field.
»Gib mir eine deiner Schädelhacken«, flüsterte Danny.
Magnussen griff nach hinten und löste eine Waffe vom Gürtel. Sie achtete darauf, es ohne das typische Geräusch des Klettverschlusses zu tun.
Die Aufmerksamkeit der Frauen richtete sich auf den Lastwagen, der das dritte Fahrzeug der aus zwanzig Einheiten bestehenden Formation war. Die Ladung wurde von einer Plane mit aufgedrucktem Tarnmuster verdeckt. Flankiert wurde es von Humvees und Geländewagen mit verschiedenen Armee-Tarnfarben in Grün und Gelb. Mehrere davon waren mit zivilen Autos zusammengestoßen. Ein Stück weiter stand der schwere Cougar MRAP quer auf der Fahrbahn, wie Magnussen es beschrieben hatte. Obwohl Danny und Magnussen nichts unternommen hatten, um auf sich aufmerksam zu machen, begannen sich nun die Gestalten auf dem Freeway zu rühren.
Danny wurde für einen Moment vom Anblick des Lastwagens aus dem Konzept gebracht. Das tiefgelegte Fahrzeug mit dem Führerhaus zwischen den Vorderrädern, das an die Zugmaschine eines Baukrans erinnerte, ließ nur den Schluss zu, dass es sich um einen Raketentransporter handelte. So etwas hatte Danny schon oft gesehen. Obwohl die Ladung nicht sichtbar war, gab es nach Dannys Erfahrung nur ein einziges Raketensystem, das einen so großen Transporter benötigte: eine Patriot-Startlafette. Ansonsten ging der Trend zu immer kleineren Startsystemen für taktische Lenkflugkörper. Diese Lafette enthielt sechzehn Patriot-Raketen in vier Startschächten, und jede einzelne konnte mit ihrer Sprengkraft ein größeres Gebäude in Trümmer legen. Das war viel zu viel Feuerkraft für ihre Zwecke. Das konnte nur zu einer Katastrophe führen. Scheiß drauf, dachte Danny und unterdrückte ihre Skrupel. Die Katastrophe ist längst eingetreten.
Es wurde höchste Zeit, mit der Aktion zu beginnen.
Danny hetzte neben Magnussen die Böschung hinunter, dann trennten sie sich. Danny lief auf den Cougar zu, die Zet-Killerin quer über die Fahrbahnen zum Führerhaus des Lastwagens. Die Zombies bemühten sich stöhnend, auf die Beine zu kommen, einige torkelten bereits auf die lebende Beute zu. Sie trugen Schutzwesten und Kevlar-Helme, wie Magnussen angekündigt hatte. Die Unterkiefer hatten genügend Bewegungsfreiheit. Danny wich ihnen aus.
Das frühe Licht der Dämmerung hatte das tückische Stadium erreicht und war wie Mondlicht. Man konnte bereits eine Menge erkennen, aber es gab noch sehr viel, was man nicht sah. In jedem Schatten konnten sich Klauen und Zähne verbergen, die zum Zupacken bereit waren. Also hielt sich Danny von allem fern, in dessen Nähe es relativ dunkel war.
Das bedeutete, dass sie Umwege laufen musste, um zwischen den Fahrzeugen hindurchzugelangen. Sie brauchte viel länger als erwartet, um den Cougar zu erreichen. Einige der taumelnden Zets sammelten sich an ihrem Ziel, nicht weil sie es vorhersehen konnten, sondern weil sie sich Dannys Route auf dem kürzesten Weg näherten. Zwei von ihnen kamen dort zuerst an. Beide trugen Hawkstone-Tarnkleidung. Große, einstmals muskulöse Kerle. Einer war glatzköpfig, und vom Nasenrücken bis zum Kinn fehlte ihm die Haut. Das Wesen hatte obere Augenlider, aber keine unteren. Die Augäpfel hingen in einer Masse aus blutig geronnenem Gewebe bis auf die freiliegenden Wangenknochen herab. Zwischen den Kiefern zeigten sich die Zähne wie ein Palisadenzaun. Die Uniform des anderen war schwarz von altem Blut. An den Oberarmen fehlte das Fleisch, und die Unterarme baumelten nutzlos an den blanken Knochen. Die Uniformärmel hingen in Fetzen von den Schultern. Dieser trug einen Helm.
Hinter Danny kamen drei weitere auf sie zu, etwa drei Meter von der Fahrertür des Cougar entfernt. Das verstümmelte Paar stand zwischen ihr und dem Fahrzeug. Danny nahm eine Schädelhacke in die eine Hand und die Brechstange in die andere.
Sie beschloss, die Sache direkt anzugehen. Sie zielte mit der Brechstange auf den Zombie ohne Gesicht und zerschmetterte ihm die Zähne. Sie zuckte innerlich zusammen, als sie den Schaden sah. Es war etwas anderes, wenn die Zähne zersplitterten und die Bruchstücke zu Boden fielen. An manchen hingen noch die Nervenfäden. Sie schlug erneut zu, und der Kuhfuß am Ende drang in die Schläfe ein. Beim Aufprall platzte ein Auge und verspritzte graue Flüssigkeit. Das Wesen ging zu Boden.
Es war noch aktiv und versuchte zu ihr zu gelangen, aber Danny hatte sein Gehirn ausreichend geschädigt. Das zweite Wesen wurde durch den Helm geschützt, was die Angelegenheit schwieriger machte. Danny befand sich noch keine zehn Sekunden lang im Kampf, die Zombies hinter ihr kamen immer näher, und sie musste noch zum Führerhaus des MRAP hinaufsteigen, was etwas ganz anderes als bei einem Geländewagen war. Allein die Räder reichten Danny bis zur Brust. Sie musste eine Leiter an der Seite des Fahrzeugs hinaufklettern und dann die Tür über ihrem Kopf aufziehen. Wenn sie dabei einen Fehler machte, würde sie von der Leiter stürzen. Sie musste schnell handeln und beim ersten Versuch hineingelangen. Andernfalls würde sie von den Zets heruntergezerrt.
Der Gestank der Untoten lag wie ein unsichtbarer Verwesungsschleim in der Luft, sodass ihr das Atmen schwerfiel.
Danny erkannte, dass sie gar nicht den Helm des Zombies vor ihr zerstören musste. Er hatte keine Arme. Danny schlug ihm brutal gegen die Knie. Das Wesen kippte zur Seite, und mit drei langen Sprüngen erreichte sie das riesige Fahrzeug. Dann die Leiter hinauf – der Griff befand sich am unteren Rand der Tür. Sie zog daran, und die Hydraulik ließ die Tür aufschwingen. Sie packte den Rahmen und zog sich hoch, während ihr bewusst war, wie nahe das halbe Dutzend Untote hinter ihr war und wie leicht es für sie wäre, ihr jetzt ein Stück Fleisch aus der Wade zu reißen. Mit einer letzten Kraftanstrengung hievte sie sich in die Kabine des MRAP. Zuerst schlug ihr der Gestank entgegen, dann der Schwarm aus rosinengroßen fetten Fliegen. Der verweste und reanimierte Soldat stürzte sich im nächsten Augenblick auf sie.
Das Wesen hatte sich schon sehr lange im Führerhaus des Cougar aufgehalten. Offenbar war der Soldat verletzt hineingeklettert und dort verblutet. Als er wiederbelebt wurde, war er drinnen gefangen und in den winterschlafähnlichen Zustand gefallen. Die ganze Zeit war er in der großen Hitze der geschlossenen Kabine verwest und von der Sonne gebraten worden. Dass er sich in diesem fortgeschrittenen Verfallsstadium überhaupt noch bewegen konnte, war ein Zeugnis für die Widerstandsfähigkeit eines menschlichen Körpers. Teile von eiterndem Fleisch glitten von seinen Gliedmaßen. Die Uniform war ein Sack, der mit der Flüssigkeit geplatzter Eingeweide gefüllt war. Der Gestank war unerträglich.
Dannys Geist schaltete sich ab. Sie flüchtete nur noch vor diesem Ding, das sich mit seinem Gewicht auf sie warf. Die Kiefer schnappten, wodurch die Lippen abrissen und dann nur noch wie ertrunkene Würmer am Gesicht hingen. Danny flog durch die Luft, anderthalb Meter tief und zwei Meter weit, dann schlug sie mit solcher Wucht auf den Asphalt, dass nur die Schmerzen ihr verrieten, noch am Leben zu sein. Die Handgranaten an ihrem Gürtel drückten sich in ihre inneren Organe und drohten sie zum Platzen zu bringen. Ihr Schädel prallte vom Boden ab, ohne dass die Strickmütze irgendeinen Schutz bot. Danny sah, wie sich das Universum auf einen Stecknadelkopf zusammenzog, doch schon einen Sekundenbruchteil später kehrte ihr Bewusstsein zurück – gerade noch rechtzeitig, um ihre entsetzlichen Rückenschmerzen wahrzunehmen.
Im nächsten Moment fiel das Wesen aus dem Führerhaus des MRAP auf sie. Es explodierte. Dreißig Liter Flüssigkeit, die wie übelstes Abwasser war, spritzten ihr ins Gesicht, gefolgt von mehreren Schüsseln Reis. Nein, kein Reis, sondern Maden.
Vielleicht schrie Danny. Sie wusste es nicht. Sie bemühte sich mit betäubten Sinnen, sich von diesem Ding zu entfernen, während ihr der Kopf vom Schlag auf den Asphalt schwirrte. Jede Bewegung schmerzte, aber sie musste irgendetwas tun, um diesem Albtraum aus verfaultem Fleisch und Knochen zu entkommen, der sich über sie ergossen hatte.
Unter ihr bewegte sich etwas anderes. Sie war auf den armlosen Zet gefallen. Irgendwo versuchte er, Dannys Körper mit dem Mund zu packen.
Die übrigen Monster beugten sich über sie, um ein Stück von ihr zu erwischen. Sie stöhnten und bleckten die Zähne.
Danny schaffte es, die Beine unter ihren Körper zu ziehen. Das linke trug kein Gewicht, sodass sie erneut stürzte. Sie stemmte sich hoch und rollte sich unter das massive, V-förmige Fahrgestell des Cougar. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, und ihre gedankliche Bandbreite war stark eingeschränkt. In erster Linie bemühte sie sich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Also griff sie nach einer der Handgranaten, zog mit unbeholfenen Fingern am Draht und warf sie in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dann kroch sie, wie sie es in der Wüste getan hatte. Der zähflüssige Verwesungsschleim klebte ihre Kleidung am Asphalt fest. Maden fielen ihr haufenweise aus dem Haar, und sie spürte, wie sich etliche in ihrem Mund wanden.
Danny zerrte ihr taubes Bein unter dem Fahrzeug hindurch und auf der anderen Seite wieder ins frühe Licht der Dämmerung. Hinter einem Rad rollte sie sich schützend zusammen. Sie fragte sich, wie lange zehn Sekunden dauern konnten und ob das Fahrzeug mit Notlaufreifen ausgestattet war. Wenn ja, würde sie vielleicht überleben. Andernfalls würde sie in zwei Hälften zerrissen werden. Sie legte die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Ihr Gehirn nahm wieder die Arbeit auf.
Die Granate ging hoch.
Die Druckwelle stieß Danny vom Reifen des Cougar weg. Sie spürte es kaum. Um sie herum ging ein Regen aus Granatensplittern, organischer Substanz und Feuer nieder. Im Schatten des riesigen Sicherheitsreifens blieb sie davor geschützt. Das Fahrzeug selbst bewegte sich kaum auf den Stoßdämpfern, obwohl der Lack Feuer fing.
Danny kroch auf Ellbogen und Knien von der Explosionsstelle weg. Sie hatte keine Ahnung, ob sich eine Horde von Untoten für sie interessierte oder sie das einzige lebende Wesen auf diesem Abschnitt der Straße war.
Sie kroch weiter und stellte fest, dass sie hinter den MRAP gelangt war. Der vorderste Humvee stand genau vor ihr. Sie schleppte sich weiter darauf zu und lehnte sich schließlich dagegen. Sie hatte kaum noch Energie übrig. Sie spuckte mehrmals, um ihre Mundhöhle zu säubern, und würgte trocken. Dann wollte sie nur noch schlafen. Sie konnte nicht weiterkämpfen. Ihre Zeit war gekommen. Sie hatte ihr Glück aufgebraucht.
Doch dann geschah etwas um sie herum. Offenbar war die Kavallerie eingetroffen. Sie sah Leute, die sich zwischen den Fahrzeugen bewegten. Es waren keine Zets. Sie liefen zielstrebig und geduckt und huschten von einem Auto zum nächsten. Danny vermutete, dass sie sich darüber freuen sollte. Es konnten nur Zivilisten sein, die sich hier draußen verbarrikadiert hatten, außerhalb der sogenannten Sicherheitszone, und sie hatten ihr Versteck verlassen, als sie die Explosion der Granate gehört hatten. Vielleicht hatten sie eine funktionierende Dusche und Whisky. Sie sprach die Leute nicht an, die nun die Explosionsstelle umzingelten. Sie würden Danny sowieso finden. Außerdem hatte sie nicht mehr genug Luft in den Lungen.
Dann hörte sie etwas anderes. Flüche. Sie drehte langsam den Kopf, während ihre Halswirbel schmerzhaft dagegen protestierten. Es war Magnussen, die Zet-Killerin. Sie lief auf den MRAP zu, sie war wütend und fluchte hysterisch. Und sie hatte Danny nicht gesehen.
»Verdammte Idiotin!«, hörte Danny, »Amateur« und »Scheißpolizistin«. Magnussen rammte dem nächsten Zet gezielt ein Messer in den Kopf, ließ es darin stecken und griff nach einer Schädelhacke an ihrem Gürtel. Die Luger hielt sie in der anderen Hand. Danny war beinahe von ihrem Pflichtbewusstsein gerührt, denn Magnussen wollte den MRAP selbst aus dem Weg schaffen. Danny fragte sich, warum die anderen, die soeben eingetroffen waren, nicht ihre Deckung verließen, um Magnussen wenigstens zu helfen. Sie waren ungewöhnlich still. Wahrscheinlich dachten sie, dass Danny tot oder untot war.
Bis zum Sonnenaufgang waren es jetzt nur noch wenige Minuten. Die Welt nahm wieder Farbe an. Bald sangen die Vögel, falls überhaupt noch Vögel sangen. Danny drehte mühsam den Kopf zurück, um zu sehen, was die Neuankömmlinge taten.
Sie spürte, wie ein Schwall Eiswasser durch ihren Körper sickerte, als ihre Schmerzen von nackter Angst überlagert wurden.
Es waren keine Überlebenden, die sich zwischen den Fahrzeugen auf dem Freeway bewegten. Es waren Untote. Und Danny wurde jetzt klar, was sie taten.
Sie waren auf der Jagd.
Und sie jagten im Rudel.