7

Auf der Main Street weinten die Überlebenden.

Danny und ihr Suchtrupp tauchten am Fuß der Wilson Street auf. Hier gab es ein Dutzend Auferstandene, die mit leeren Gesichtern zwischen den Autos umherirrten. Sie waren vollkommen stumm.

Die Überlebenden, die Amys Arbeitsteam gebildet hatten, waren an die Hauswände zurückgewichen und hielten sich von den wiederbelebten Toten fern. Doch sie rannten auch nicht vor ihnen davon. Es schien, als gäbe es zumindest eine kleine Hoffnung. Vielleicht waren sie ja gar nicht tot gewesen.

Der Himmel war jetzt hell und der Tagesanbruch nur noch eine Frage von Minuten, und trotz des Horrors veranstalteten die Vögel ihren morgendlichen Singwettbewerb. Eine lange Minute standen Danny, Patrick, Weaver und Wulf an der Kreuzung Wilson und Main und betrachteten die zuvor ordentlich aufgereihten Leichen auf den Gehwegen, wie sie sich schüttelten und drehten und langsam erhoben. Nicht alle regten sich. Vielleicht die Hälfte oder zwei Drittel, dachte Danny. Der Rest verhielt sich wie richtige Leichen und blieb still liegen.

Keiner wusste, was er sagen sollte, bis Wulf die Worte fand.

»Das hier«, sagte er, »ist das Beschissenste, was passieren kann.«

Eine der wandelnden Leichen bemerkte die vier und starrte sie mit offenem Mund an. Nach einer Weile machte sie ein paar unsichere Schritte in ihre Richtung. Wulf riss die spitze Flaggenstange von der Front der Notarkanzlei und hielt sie vor sich, zum Zustoßen bereit.

Danny trat mit einem Stiefel gegen den Stiel, sodass er zerbrach.

»Vergiss das mit dem Gehirn«, sagte sie.

Wulf murmelte ein paar Obszönitäten und wich zurück. Amy machte weiter unten auf der Straße einen weiten Bogen um die lebenden Toten. Ein paar folgten ihr taumelnd.

Danny hielt sich dicht bei den Häusern, während sie sich den nächsten Zivilisten näherte, eine Gruppe, die auf den Stufen des Frisörsalons Schutz suchte. Das war direkt neben dem Pritschenwagen, auf dem ein paar Wesen auf Klappstühle gestützt versuchten, auf die Beine zu kommen. Eines von ihnen trug die Uniform eines Highway-Polizisten. Es war Jordan Park, tot wie der Rest.

Noch vor ein paar Stunden hatte Danny auf einem der Klappstühle gehockt, Chili gegessen und ihren Kater zu kurieren versucht. Danny dachte, sie sollte Parks Leichnam vielleicht das Funkgerät und die Pistole abnehmen – ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass dieses Wesen eine Waffe trug, und das Funkgerät konnte nützlich sein.

Sie bemerkte, dass mehrere der erwachten Toten davon angezogen wurden, dass sie die Straße entlangging. Sie kamen auf sie zugewankt.

Danny schwankte zwischen Hoffnung und Schrecken. Jemanden durch Tod zu verlieren war ein großes, beängstigendes Mysterium, etwas, das jedem eines Tages widerfahren würde. Zu erleben, wie jemand von diesem Tod wiederauferstand, wenn auch nur halbwegs – war das eine Art Gnade oder das Schlimmste überhaupt?

Mehrere von den Wesen näherten sich über die Wilson Street. Vorhin, als sie vom Berg heruntergekommen waren, hatte Dannys Suchtrupp ein paar von ihnen drinnen hinter den Fenstern markierter Häuser gesehen, Köpfe, die langsam den Lebenden gefolgt waren, als sie vorbeigingen. Vielleicht waren es dieselben gewesen, die ihr jetzt folgten.

Danny war schwindlig. Ihre Augen brannten, wenn sie blinzelte. War das die Wirkung des Gifts oder der Infektion oder was auch immer es war? Dann wurde ihr bewusst, dass es sich wahrscheinlich um etwas viel Einfacheres handelte: Erschöpfung. Es war vierundzwanzig Stunden her, seit der Wecker sie aus dem Bett geworfen hatte.

Sie blickte Amy an, die auf sie zukam. Amys Stirn war auf diese besorgte Weise gerunzelt, die normalerweise bedeutete, dass Danny fix und fertig war und es nicht merkte.

»Ich geh noch in ein paar Häuser und schaue nach, ob irgendwer überlebt hat und sich versteckt«, sagte Danny.

»Pass auf dich auf«, sagte Amy. »Ich brauche dich hier.« Sie eilte davon, um mit zwei Männern zu sprechen, die eine schluchzende Frau die Straße hinunterführten. Danny öffnete die unverschlossene Tür von Mr. Carters Haus. Sie wollte nachsehen, ob noch jemand am Leben war. Vielleicht fand sie dort auch Excedrin – Schmerzmittel und Koffein zweckmäßig in einer Tablette kombiniert. Mr. Carter war Dannys Biologielehrer gewesen. Auch Kelleys, wenn sie sich richtig erinnerte. »Mr. Carter?«, rief sie in den Flur hinein. Keine Antwort.

Danny dachte über die Situation mit den toten Wesen nach, die draußen herumliefen. Sie hatten die Gliedmaßen, Gesichter und das Haar von Menschen, und sie trugen die Kleidung, die sie sich als Menschen am Vortag angezogen hatten, doch etwas Elementares fehlte, ein Fehlen, das sie als nichtmenschlich auswies. Danny wollte herausfinden, was das war. Es schien wichtig zu sein. Wenn sie erkannte, was nicht stimmte, wüsste sie wenigstens, was sie unternehmen könnte – oder zumindest, wie sie sich fühlen sollte. Vielleicht dachte sie auch zu viel darüber nach. Sie waren tot. So viel war sicher. Ihr Verstand war nicht dazu fähig, die Bedeutung der Sterblichkeit zu analysieren. Im Moment dachte sie nur: Das Licht brennt, aber niemand ist zu Hause. Sie dachte stenographisch, begriff jedoch, dass sich größere Fragen hinter denen verbargen, die sie sich stellte.

Danny blickte aus dem Fenster auf die Straße und beobachtete ein Kind, nicht älter als fünf Jahre, wie es die Straße entlangtorkelte, wobei sich der Kopf wie ein schwingender Fächer drehte. Verdammt, das Kind hatte noch nicht einmal richtig angefangen zu leben! Danny fragte sich, ob auch Babys untot herumlagen und in den Himmel starrten. Gern wäre sie die Fragen, die ihr durch den Kopf schwirrten, losgeworden, doch sie würden nicht verschwinden. Sie musste die Dinge systematisch angehen, oder es würde ihr wie den anderen Überlebenden ergehen, die sie am Straßenrand sehen konnte und die wie gebannt mit den Untoten Blicke tauschten.

Danny verließ das Wohnzimmer, ging an der Treppe neben der Küche vorbei und sah lediglich ein völlig normales Haus. Eine Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Fußschemel vor Mr. Carters Lieblingssessel. Neben dem Küchenherd stand eine halbe Tasse Kaffee. Kein Zeichen einer weltbewegenden Krise, nicht einmal in der Zeitung. Vielleicht wandelte das, was von ihm übrig war, durch ein anderes Stockwerk. Sie konnte oben nachschauen und einen Blick in den Keller werfen. Aber es gab keinen Grund. Er war tot, egal, ob er sich bewegte oder nicht.

Es gab Strom, und auf dem Esszimmertisch stand ein aufgeklapptes Notebook. Danny überprüfte das Internet. Alles sah normal aus. Die Suchseite war geöffnet. Sie musste nur eine Anfrage eingeben.

Danny behandelte Computer wie Telefone. Sie waren vor allem Gebrauchsgegenstände, um während ihrer Einsätze mit Kelley in Kontakt zu bleiben. Das Internet war für Schlagzeilen da und um sich durch den Bürokratismus der Veteranengesundheitsvorsorge zu klicken. Sie wusste nicht, wie man tiefer im Internet grub als bis zu Nachrichtenseiten und ein paar sozialen Medien. Dannys Kompetenzen lagen in der analogen Welt: Waffen, Fahrzeuge und Taktik.

tote wiederauferstehen, tippte sie.

Die Antwortseiten luden, und Dannys Herz machte einen Satz. Doch dann sah sie, dass es ausschließlich Seiten über Monsterfilme und christliche Websites waren. Keine Nachrichten. Sie klickte die Seite von Fox News an. Sie war wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet. Die Nachrichten bei CNN waren einen Tag alt. Danny klickte sich durch ein paar hindurch. Sie beschrieben die ersten Panikzustände im Ausland, die Befürchtungen, es könnte auch die USA erreichen, doch es gab nichts Aktuelles. Es herrschte Einigkeit darüber, dass es eine Krankheit war, womöglich durch einen biologischen Kampfstoff ausgelöst. Vielleicht eine ansteckende Grippe. Doch all das waren nur Spekulationen, die nirgendwohin führten.

Sie verbrachte ein paar Minuten damit, fieberhaft mehrere Seiten anzuklicken, und las überall das Gleiche, als hätte das gesamte Internet seine Aufmerksamkeit auf die seltsame Krankheit gerichtet, die sich über den Planeten ausbreitete, um dann plötzlich irgendwann am Vortag aufzuhören, die Informationen zu aktualisieren. Was wahrscheinlich der Fall war, wenn die Zahl der Toten überall gleich hoch war. Trotzdem war es seltsam. Bestimmt gab es noch einige Leute, die sich eingeschlossen hatten oder in ihren Schlafzimmern versteckten und bis jetzt überlebt hatten. Sie würden wahrscheinlich twattern oder tschilpen oder wie das hieß und Nachrichten verschicken. Vielleicht gab es sie, nur wusste Danny nicht, wie sie sie finden sollte.

Vielleicht hat man ja auch die Regierungsserver abgeschaltet, überlegte sie. Schließlich ging fast alles im Internet durch staatlich betriebene, amerikanische Knotenpunkte. Vielleicht hatten sie einfach einen Knopf gedrückt und rechtzeitig das gesamte System lahmgelegt. Aber diese paranoiden Gedanken brachten sie nicht weiter. Statt sie zu informieren, machte das Netz sie noch viel verrückter und panischer. Sie klappte den Computer zu.

Mit dem, was in ihrem Hinterkopf an Daten analysiert wurde, ordnete Danny den Wust an Fragen zu einer brauchbaren Struktur. Sie wusste, dass irgendein tödlicher Erreger Millionen Menschen getötet hatte. Irgendwie wurde er übertragen – ein Sprühmittel, das von einem Flugzeug aus verbreitet worden war, oder Gas oder Terroristen, die mit einem Sprühgerät herumliefen.

Sie musste irgendwo anfangen. Das verlangte Dannys Arbeitshypothese. Also beschloss sie, davon auszugehen, dass der Erreger eine Krankheit war. Es klang vernünftig genug, um darauf aufzubauen. Die Todeswelle hatte sich derart rasch verbreitet, weil die Opfer, sobald sie infiziert waren, so schnell und so weit rannten, wie sie nur konnten, bis sie tot umfielen. Sie wusste nicht, ob es die Krankheit war, die sie tötete, oder ob sie einfach so lange rannten, bis ihr Herz versagte. Doch zahlreiche Menschen, mit denen sie in Berührung kamen, wurden ebenfalls infiziert. Dann fingen diese Leute ebenfalls an zu rennen. Die Sache hörte nicht auf, sich auszubreiten, bis niemand mehr übrig war, der noch infiziert werden konnte. Es war wie ein tödlicher Staffellauf. Danny war entweder immun oder nicht nah genug gewesen, um krank zu werden. Sie dachte an ihre Deputys, denen sie befohlen hatte, sich der Gefahr auszusetzen. Doch zu diesem Zeitpunkt war das noch kein Kriterium gewesen. Vielleicht war es das auch jetzt nicht. Unglücklicherweise verstand sie nicht das Geringste davon.

Sie stieg die Kellertreppe zur Hälfte hinunter und rief erneut nach Mr. Carter. Keine Antwort. Wenn er dort unten war, zurück von den Toten, sollte er lieber dort bleiben. Wenn die Armee oder sonst jemand ein paar Einheiten bereitstellen konnte, um die Stadt zu säubern, konnten sie Mr. Carter ebenfalls fortschaffen.

Danny kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf die Couch, doch da hatte sie die Tür im Rücken. Also wechselte sie zum Sessel. Doch von dort konnte sie auf die Straße blicken und die Infizierten umhergehen sehen. Sie brauchte etwas anderes, das sie anschauen konnte. Sie nahm Kelleys Brief aus der Brusttasche und drehte die fest zusammengefalteten Seiten in den Händen. Sie hatte Angst, die Nachricht zu lesen, und fragte sich gleichzeitig, was wohl drinstand. Sie wollte wissen, ob Kelley noch am Leben war. Sie stellte sich ein Gespräch mit ihr vor, wie sie ihr erklärte, dass sie keine andere Möglichkeit gehabt hatte, dass es ihr leidtat, so engstirnig zu sein, dass das Leben es ihnen so bestimmt hatte. Doch Kelley würde ihr unablässig widersprechen. Sie hörte nie zu. Danny wollte sie am liebsten schütteln, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Kehr mir nicht den Rücken zu. Da drehte Kelley sich mit ausgestreckter Hand um und zeigte mit einem abgekauten Finger auf Danny: Sie war tot, ihr Kiefer hing herab, und die Augen glichen Blasen.

»Du«, krächzte sie.

Danny erwachte.

Nur wenige Minuten waren vergangen, seit sie in Mr. Carters Sessel eingenickt war. Es war nicht gerade erholsam gewesen, doch es würde helfen. Sie steckte die Nachricht zurück in die Brusttasche. Als sie den Hausflur entlangging, setzte sie ihr Resümee fort. Waren wirklich Millionen gestorben? Und ein paar Stunden später wieder zum Leben erwacht? Aber nicht alle. Doch die Wiederauferstandenen waren kalt und hatten keinen Herzschlag. Sie waren nicht wirklich lebendig, doch hieß das, dass sie wirklich tot waren? An dieser Stelle geriet Dannys Hypothese ins Stocken. Ein Baum hatte keinen Herzschlag, und wahrscheinlich spürte er es nicht, wenn Käfer seine Blätter fraßen. Trotzdem war ein Baum lebendig. Warum sollten diese Wesen also nicht lebendig sein?, dachte sie. Warum bin ich mir so sicher? Spielt das überhaupt eine Rolle?

Mit pochendem Schädel verließ sie das Haus und wäre beinahe mit einem der Wesen zusammengestoßen. Es stand am Fuß von Mr. Carters Vordertreppe und starrte mit blicklosen Augen und herabhängendem Unterkiefer zu Danny hinauf. Es war das weiche Gesicht eines Jungen, vierzehn oder fünfzehn, der ein T-Shirt der Dodgers trug. Sein Gesicht war bleich wie Kerzenwachs, bis auf die fast schwarzen Lippen, und das Innere seines Mundes war grau. Danny wich zurück. Der Junge zeigte keine Reaktion. Sie fragte sich, ob er überhaupt auf etwas reagierte, vielleicht einfache Befehle.

»Husch«, sagte Danny und fuchtelte mit den Händen vor ihm herum. Die Augen des Jungen richteten sich auf ihre Hände. Er starrte sie immer noch an, als sie sie sinken ließ. Blöd, er war einfach blöd. Er begriff gar nichts. Der Junge war ein Roboter aus Fleisch. Danny schwang sich übers Treppengeländer und ging um den toten Teenager herum.

Sie brauchte einen Plan.

Ein paar von den unerschrockenen Überlebenden hatten selbst einen Plan gemacht, während Danny in Mr. Carters Haus gewesen war. Sie trieben die Infizierten (die sie für Danny nun waren) zusammen. Es hätten auch Schafe oder Schweine sein können, die sie einsammelten. Ein paar der Überlebenden standen mit ausgestreckten Armen in einer Haltung da, die Danny an die Verteidigung beim Basketball erinnerte. Sie blieben vor dem nächsten Infizierten stehen und bewegten sich nach links und rechts. Mit den Handschuhen und Masken sahen sie wie japanische Verkehrspolizisten aus. Andere begaben sich selbst in diesen Kreis, um einen Infizierten anzulocken. Dann ließen sie ihn dort zurück und machten sich auf zum nächsten. Es war wie ein menschlicher Pferch. Danny bewunderte die Tatkraft, mit der sie agierten – die Überlebenden beschäftigten sich selbst, um den Schock und die Verzweiflung zu lindern –, doch sie war sich nicht sicher, ob sie wussten, was zu tun war, wenn die Herde zu groß wurde, um sie in Schach zu halten. Es waren jetzt mindestens vierzig oder fünfzig in der Mitte. Vielleicht die Hälfte der Infizierten auf der Main Street. Außerdem machte Danny sich Sorgen wegen einer möglichen Übertragung der Krankheit. Falls es überhaupt eine Krankheit war – war sie wirkungslos geworden? Das glaubte sie nicht. Wenn diese Wesen umhergehen konnten, musste der Erreger noch immer aktiv sein. Vielleicht sollten sie ihnen nicht zu nahe kommen. Sie wusste immer noch zu wenig.

Danny sah eine Minute lang zu. Manchmal erkannte einer der Überlebenden einen Freund oder Verwandten und begann zu weinen oder zu stammeln und versuchte den anderen zu erklären, dass dieser da anders war. Dann kam einer der Männer, die mit dem Einfangen der Infizierten beschäftigt waren, zu Danny, um den Jungen mit dem Dodgers-T-Shirt vor Mr. Carters Treppe einzufangen.

»Wo wollen Sie sie hinbringen?«, fragte Danny.

»Troy, der Kerl da drüben, sagt, dass wir sie durch den Quik-Mart in die dahinter liegende Gasse führen können. Das ist wie ein Gefängnishof.«

»Ist Troy in der Nähe?«

Danny fand den Feuerwehrmann in der Gasse auf der bergabgewandten Seite der Main Street. Er begutachtete die errichteten Barrikaden auf beiden Seiten des Parkplatzes hinter dem Quik-Mart. Sein Team bestand aus mehreren Überlebenden, einschließlich des Jungen und des blauhaarigen Mädchens, die sie in der Turnhalle gesehen hatte. Sie hatten mit Weaver und Patrick Süßigkeiten gegessen, erinnerte sich Danny. Jetzt benutzten sie Regale für Nahrungsmittel, um die Lücken zwischen den nebeneinander geparkten Wagen in der Gasse zu füllen und auf diese Weise einen Zaun zu bauen. Wenn die Wiederauferstandenen weiterhin so dumpf blieben, dachte sie, würde diese primitive Sicherheitsverwahrung wahrscheinlich ihren Zweck erfüllen.

Die nächste Frage war, mit wie vielen sie es zu tun hatten? Zu Beginn waren es fünfzig gewesen, doch die Zahl hatte sich in der letzten Stunde verdoppelt. Im Umkreis von ein paar Meilen konnten es mehrere Tausend sein. Bisher verhielten sich die Überlebenden bewundernswert ruhig. Das lag hauptsächlich am Schock, wie Danny aus Erfahrung wusste, und wenn er nachließ, würden sie sich allesamt in nutzlose Nervenbündel verwandeln. Dann würde sie mit hysterischen Anfällen, Prügeleien, Plünderungen und weiß Gott was noch fertigwerden müssen. Und wenn die herumlaufenden Leichen anfingen zu verwesen …

Zum ersten Mal kam es Danny in den Sinn, dass die Überlebenden Forest Peak wahrscheinlich verlassen mussten. In all den Jahren, die sie immer wieder zurückgekommen war, während sie sich geschworen hatte, sich und Kelley dort herauszuholen, hatte sie sich das so jedenfalls nicht vorgestellt.

Troy begegnete Danny ein paar Meter weiter in der Gasse. »Ich musste die Leute irgendwie beschäftigen«, sagte er entschuldigend. »Eine Frau hat Amy Cutter angegriffen, weil sie nicht versucht hat, ihren Mann wiederzubeleben. Er war ja schon wieder da, ich meine, er ist herumgelaufen. Doch sie wollte einen Herzschlag. Und Cutter wusste nicht, was sie ihr sagen sollte. Also bin ich dazwischengegangen und Ihrem Rat gefolgt: Halt sie auf Trab. Sie scheinen froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Aber ich habe keine Ahnung, was wir tun sollen, wenn wir die Opfer eingesperrt haben.«

»Opfer?«

»Die Toten. Ich weiß nicht, wie ich sie sonst nennen soll. Wulf hat gesagt, sie wären …« Er schnitt eine Grimasse. Wollte es nicht aussprechen.

Danny flüsterte fast: »Zombies, ich weiß.«

»Aber es passt irgendwie nicht.«

»Ich stelle sie mir als Infizierte‹ vor, obwohl das auch nicht viel besser ist. Aber wir haben die Sache nun mal am Hals. Und da draußen sind noch viel mehr von ihnen. Ich schätze, hundertmal mehr. Ich weiß nicht, ob wir vor Ort die Stellung halten können. Eine Gefahr scheinen sie nicht darzustellen, aber was ist, wenn sie immer noch ansteckend sind? Wenn sie anfangen … zu verwesen? Vielleicht müssen wir weiter nach oben. Forest Peak hat es ziemlich heftig erwischt, aber ich denke, die Welle endet hier. Oben in Big Bear oder Alpine Glen könnte es viel besser aussehen.«

Troy sah, wie die Überlebenden ihren Pferch um den Parkplatz herum begutachteten. Zeit für den Zusammentrieb. Schafft diese toten Schwachköpfe in den Knast. Er nickte Danny zu.

»Sie haben gesagt, die Welle ist bis hierhergekommen. Genau das war es. Eine Welle. Wir sind also an der Flutgrenze.«

»In der Zwischenzeit«, sagte Danny, »bringen Sie Ihre Leute zurück in die Turnhalle. Vielleicht kann Amy die Frau dazu überreden, dass sie ihren toten Mann untersucht. Ich wüsste gern, womit wir es zu tun haben, falls sie etwas herausfinden kann. Und Amy kann das.«

Als Danny auf die Rückseite der Polizeiwache zuging, um nach Maria zu schauen, wurde ein weiterer Aspekt ihrer Arbeitshypothese klar. Wenn Forest Peak den Rand eines theoretischen Ausbruchsgebiets in Los Angeles darstellte und Downtown L. A. das Epizentrum war, dann konnte man wahrscheinlich einen großen gezackten Kreis um die Stadt ziehen – und jenseits davon lag ein großer nicht infizierter Bereich bis zum nächsten Infektionsgebiet. Sie musste einen Blick auf die Wandkarte in der Wache werfen.

Danny hatte genug davon, halb ausgegorene Pläne zu entwerfen, die sie nicht weiterbrachten. Aber sie konnte kaum etwas anderes tun. Sie bekam diese Sache einfach nicht in den Griff. Sie rief Amy über Funk.

»Hast du mit der Untersuchung angefangen? Over.«

»Nein, out. Ich meine, over.«

»Spielt die Frau des Opfers mit?«

»Sie ist total dagegen.«

»Versuch es weiter. Oder such dir einen anderen Infizierten. Ich will wissen, womit wir es zu tun haben. Over.«

»Okey dokey«, sagte Amy, und das Funkgerät verstummte.

In der Polizeiwache saß Maria noch immer am Funktisch, neben ihr zwei Schokoriegelverpackungen und eine Diät-Cola. Danny bekam ein schlechtes Gewissen. Sie kümmerte sich um die Bedürfnisse ihrer Leute genauso wenig wie um ihre eigenen. Maria sollte etwas Anständiges essen, sofern sie etwas auftreiben konnten. »Wie geht’s?«, fragte Danny.

»Ganz gut«, sagte Maria. Doch es klang nicht ehrlich. »Sie haben nicht zufällig einen Mann mit Schnurrbart und einem Coors-T-Shirt gesehen? Er hat eine Jeansjacke an. Und flache Cowboystiefel. Hellbraun, glaube ich. Ungefähr so groß wie Sie.«

Danny lächelte. »Nein, aber Sie würden eine gute Polizistin abgeben. Ein ausgeprägtes Beobachtungs- und Erinnerungsvermögen.«

Maria erwiderte das Lächeln, doch ihre Augen waren tränenverschleiert. Sie stieß einen Seufzer aus und klopfte mit einem Bleistift auf das Funkgerät: »Nirgendwo etwas Neues. Das Internet bringt auch nichts Aktuelles. Es sind noch sechs Polizeidienststellen über Funk erreichbar. Vorher waren es neun, doch jetzt sind es sechs. Und niemand weiß, was los ist.« Ihr Akzent ließ vermuten, dass Spanisch ihre Muttersprache war.

»Aber sie sagen, dass alle wieder zum Leben erwacht sind, genauso wie hier«, fuhr Maria fort. »Die Überlebenden haben ihre toten Verwandten zu den Krankenhäusern und Polizei- und Feuerwehrwachen gebracht, und jetzt sind da diese riesigen Mengen … diese muertos vivos, die alles verstopfen. Ein Polizist hat gefragt, ob wir hinunterkommen könnten, um ihnen zu helfen. Ich hab gesagt, dass ich Sie fragen werde.«

Danny schnaubte. Notaufnahmen überschwemmt von lebenden Leichen. Sie wünschte, Forest Peak hätte ein Krankenhaus. Danny warf einen Blick auf die Notizen, die sich Maria in Blockschrift zu den übrigen Funkgesprächen gemacht hatte. »Was ist das hier?«

»Der Funkkontakt zur Wetterstation ist vor zwanzig Minuten abgebrochen.«

»Irgendwelche Neuigkeiten von dort?«

»Immer der gleiche Satz über die infizierten Toten, die wieder zum Leben erwachen, bis die Verbindung unterbrochen wurde.«

»Und nichts auf den Militärfrequenzen?« Danny wusste bereits, dass die Antwort »Nein« lautete. Abgesehen von dem allgemeinen Verbot unkontrollierten Funkkontakts benutzten heutzutage fast alle Abteilungen digitale Satellitenübertragung für die Kommunikation und nicht Funk. Digital konnte man nicht mithören. Und Danny wusste nicht einmal, wie viele Einheiten im Land waren. Wie immer wurde an jedem Kriegsschauplatz über die Truppenstärke gelogen. Der wahre Umfang von Personal auf amerikanischem Boden war viel geringer, als sich die meisten Menschen vorstellten. Wahrscheinlich steckten sie alle in C-5B-Galaxy-Großraumtransportflugzeugen, um in Washington D. C. die Straßen zu säubern. Damit die Führung nicht von unansehnlichen Toten gestört würde.

Danny legte die Hand auf Marias Schulter und schlug ihr vor, eine Pause zu machen. Maria schüttelte den Kopf. Was sollte sie tun, einen Spaziergang machen? Danny konnte das verstehen. »Lassen Sie mich wissen, wenn es Neuigkeiten gibt.«

Amy untersuchte den Toten, während Weaver und Troy ihn festhielten.

Der Mann strampelte kraftlos wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte. Er lag auf einem Klapptisch in der Turnhalle, der einzige Infizierte, den sie dorthin geschafft hatten. Sie hatten ihn in den Vorraum des Gebäudes gebracht, weil sie nicht wollten, dass sich die Krankheit dort ausbreitete, wo die Leute schliefen und aßen, obwohl es vielleicht genauso dem Wunsch nach einer todesfreien Zone wie medizinischen Überlegungen entsprang. Die Turnhalle war zu einer Art geheiligtem Ort für die Lebenden geworden. Patrick stand in ein paar Metern Entfernung an der Tür, neben der Frau des toten Mannes. Sie hatte niemandem ihren Namen gesagt, die lebende Leiche jedoch Larry genannt, und sie bestand noch immer darauf, dass jemand herausfand, was mit ihm nicht stimmte. Weil Amy beschlossen hatte, einen der Toten zu untersuchen, konnte sie es genauso gut mit ihm tun. Er erkannte seine Frau nicht.

Amys Tierarztbesteck war dem sehr ähnlich, was bei Menschen benutzt wurde. Sie hatte einen Teil davon aus dem Transporter geholt, der jetzt neben der Turnhalle stand. Ihre pelzigen Freunde waren alle am Morgen geflohen. Sie hoffte, Diggler, dem Schwein, ging es gut. Amys Instrumente befanden sich in einer Skalpelltasche und nicht in ihrem Veterinärkoffer, weil auf der Tasche in goldenen Lettern ihre Berufsbezeichnung stand, und sie glaubte nicht, dass Mrs. Larry damit einverstanden wäre, dass eine Tierärztin ihren Mann untersuchte – nicht einmal, wenn er tot war. Manche Leute waren sehr empfindlich. Neben den Instrumenten waren da noch die Stiftlampe für die Augen, ein Otoskop, ein Stethoskop und ein Doppler-Blutdruckmessgerät, das ganz anders aussah als das für Menschen mit der aufblasbaren Manschette, obwohl sich damit der Blutdruck genauso gut messen ließ. Sie horchte an Larrys kaltem, schwammigem Brustkorb. Es gab schwappende Geräusche, jedoch keinen Herzschlag. Und keinen Puls an den Handgelenken oder dem Hals. Patrick notierte ihre Feststellungen auf ein weißes Blatt aus einem Mathematikheft, das er unter der Tribüne gefunden hatte.

»Ich kann auch am Hals keinen Puls feststellen«, sagte Amy. »Ebenfalls keine Blutzirkulation, keine Pupillenerweiterung, und die Körpertemperatur lag in den letzten zwanzig Minuten beständig bei 26,6 Grad. Der, äh … Korpus … oder die kranke Person, wie auch immer«, verbesserte sich Amy, als Mrs. Larry ihr einen scharfen Blick zuwarf, »zeigt kaum Körperaktivität, weshalb die Temperatur möglicherweise konstant geblieben ist. Muskelaktivität erzeugt Wärme. Okay.«

Das infizierte Wesen öffnete den Mund, und ein schwaches Röcheln kam aus der Kehle. Amy gab unfreiwillig ein angewidertes Geräusch von sich. »Weiter geht’s. Es scheint eine gewisse Atemaktivität zu geben, doch sie ist nicht freiwillig oder so. Ich meine, autonom.«

Larrys verzweifelte Frau fuhr dazwischen: »Wie können Sie die richtigen Wörter dafür nicht kennen? Sie sind Ärztin!«

»Ärzte sind furchtbar vergesslich«, erklärte Amy. »Wir wollten die Begriffe sowieso ändern. Autonom klingt so kalt, nicht wahr?« Sie setzte die Untersuchung fort. »Ich würde gern die Leberkerntemperatur messen, doch die Ehefrau des Betroffenen dürfte nicht damit einverstanden sein …«

Amy blickte zu Mrs. Larry, die den Kopf schüttelte. Sie hatte genug Folgen von CSI gesehen, um zu wissen, dass man das bei Toten machte, und ihr Larry war nicht tot.

»Dann«, fuhr Amy fort, »machen wir ein paar Stichtests.«

»Tun Sie ihm nicht weh«, sagte die Frau und hielt sich die Augen zu. Amy benutzte eine normale Nähnadel, mit der man die Feiertagsflagge zusammenhielt.

Sie stach dem Toten in den Finger und versetzte dann seinem Knöchel und seiner Wange ebenfalls einen Stich. Nicht das leiseste Zucken. »Keine Reaktion auf die Nadelstiche. Keine Empfindung. Wie bei einem Diabetiker oder so.«

Die Untersuchung wurde noch fünfzehn Minuten fortgesetzt. Am Ende schwitzten Weaver und Troy von der Anstrengung, den Körper festzuhalten. Es war keine sichtbare Kraft in den Gliedmaßen, doch die Arme und Beine wanden sich unter dem Griff, und die schlaffe Haut über den Muskeln machte es schwer, sie festzuhalten.

Und Larry wurde nicht müde. Er hörte nicht auf, sich zu bewegen.

Weaver hatte zu Beginn der Untersuchung aufmerksam zugesehen und die Leiche, die er festhielt, genau betrachtet. Er konnte Bartstoppeln im Gesicht erkennen. Die Haut war aschfarben, beinahe metallisch. Er sah, dass es die kleinen, dunklen Adern unter der Haut waren, die diesen Effekt erzeugten. Der Mund schien nicht feucht zu sein, und die Zunge hatte die Farbe eines einen Tag alten gebratenen Steaks. Die Zähne waren unnatürlich gelb, fast wie Getreidekörner, wahrscheinlich weil die bläuliche Haut diesen Kontrast bewirkte, und nicht, weil sie die Farbe geändert hatten. Patrick hielt häufig lange Vorträge darüber, welche Wirkung Farbe hatte. Weaver hatte dazu immer nur gegrunzt, obwohl es im Grunde interessant war. Er fühlte sich nur nicht kompetent genug, um etwas zu erwidern.

Und die Augen – Weaver konnte sie nicht anschauen, obwohl es auch bei Augenkontakt kein Erkennen gab. Es war, als hätte jemand mit Wasser verdünnte Magermilch in den Augapfel injiziert. Doch besonders verstörte, wie die Augen fast blind durch den Raum wanderten, aber dann bei einem menschlichen Gesicht innehielten und es intensiv anstarrten.

Weaver wandte den Blick ab und ertappte sich dabei, wie er Patrick ansah, der mit Heft und Stift in der Hand in einer merkwürdigen Haltung dastand, die Schultern hochgezogen und die Knie zusammengepresst. Weaver machte sich Sorgen um ihn. Patrick war viel stärker, als er selbst glaubte, doch er war so darauf fixiert, auf alles zu reagieren, so in seiner Rolle, dass man nicht sagen konnte, wo die wahren Gefühle begannen und die gespielten aufhörten. Andererseits mochte Weaver auch das an ihm.

Weaver hielt sich selbst für gehemmt und verschlossen. Patrick war im Grunde genau das Gegenteil. Im Moment sah der arme Kerl aus, als wüsste er nicht, ob er sich übergeben oder in Ohnmacht fallen sollte, obwohl ihn die Frau der Leiche in seiner Schauspielkunst übertraf. Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, erinnerte sich Weaver. Aus dem Shakespeare-Drama Hamlet. Patrick (der das Bühnenbild für die Inszenierung gestaltet hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten) hatte Weaver erklärt, wer Hekuba war, obwohl Weaver es sofort wieder vergessen hatte. Patrick kannte sich mit vielen Themen aus, einschließlich der Klassiker des Theaters. Alan Rickman hatte den Polonius gespielt, und Weaver hatte Rickman sehr gemocht, wie er sich jetzt erinnerte. Sie hatten sich auf einer der Partys nach der Inszenierung die Hand geschüttelt. Larrys Frau erinnerte sehr an Hekuba.

Weaver kam plötzlich der Gedanke, dass die Schwulenehe nicht mehr das kontroverseste Beziehungsthema in der Gesellschaft war. Ehen zwischen Lebenden und Toten, wie das, was sie gerade mit ansahen, wären das neue Problemthema. Die katholische Kirche hätte damit ihren ganz großen Auftritt. War Alan Rickman noch am Leben? Weaver riss sich zusammen. Ich schweife ab, dachte er.

Nachdem Amy fertig war, stellten Troy und Weaver den Ehemann trotz der Proteste von Mrs. Larry auf die Füße und schoben ihn hinaus auf den Parkplatz. Sie verschlossen die Tür, als der Leichnam zu den Lebenden zurückgewankt kam. »Das können Sie nicht tun, das ist ein freies Land!«, protestierte die Frau.

»Tote haben keine Menschenrechte«, sagte Troy und ging zur Herrentoilette, um sich die Hände zu waschen. Wie Amy feststellte, war Mrs. Larry nicht bereit, allein dort draußen bei ihrem Mann zu sein.

In der Polizeiwache sagte Danny zu Maria, dass alles unter Kontrolle war, und ging durch die Hintertür hinaus. Das brachte Maria auf den Gedanken, dass nicht alles unter Kontrolle war, weil sie selbst immer genau das sagte, wenn das Taxi während der Arbeitszeit den Geist aufgab. Sie fragte sich, ob ihr Mann da draußen war, und falls ja, wie sie das Ganze überstehen sollten. Er war ständig irgendwie in Schwierigkeiten. Jetzt war er wahrscheinlich tot, und nicht einmal dabei war Verlass auf ihn. Sie schluckte ihren Kummer hinunter und drehte auf der Suche nach Leben den Funkknopf über die Frequenzskala. Der rothaarige Sheriff tat sein Bestes.

Als sie die Gasse entlangging, überkam Danny der gleiche Anflug von Panik wie am Vorabend, als sie in der Dunkelheit auf die Main Street zugegangen war und sich gefragt hatte, ob noch irgendjemand am Leben war.

Gleich nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie mehrere solcher Träume gehabt, von Menschen, die ohne ein Wort fortgingen und sie allein an Orten wie Schulen und Krankenhäusern zurückließen.

Auf einmal sah sie das Mädchen mit den blauen Haaren.

Die Kleine kauerte zwischen zwei Autos, die zur einen Seite der Absperrung gehörten, die Arme um die knochigen Knie geschlungen. Sie beobachtete die gefangenen Infizierten, wie sie sich gegenseitig anrempelten. Danny ging zu ihr hinüber. Der Gestank der verfaulenden Körper in der Mittagssonne war unerträglich. »Wen beobachtest du?«, fragte Danny, denn die Augen des Mädchens folgten einem von ihnen.

»Meine Mutter«, sagte sie und zeigte auf eine dickliche Frau mittleren Alters mit Dauerwelle. Die tote Frau starrte irgendwohin, ohne ihr Kind wahrzunehmen.

»Wo sind die anderen hingegangen?«

»In die Schulturnhalle hat der Schwarze gesagt.«

»Der Feuerwehrmann?«

Das Mädchen verstummte wieder. Danny hätte sich jetzt vorstellen und den Namen des Mädchens in Erfahrung bringen sollen, aber sie wollte keine allzu persönlichen Beziehungen aufbauen. Bis auf Weiteres waren sie alle nur irgendwelche Zivilisten. Das würde sich erst dann ändern, wenn sie davon überzeugt war, dass das Sterben aufgehört hatte. Danny blickte auf und bemerkte, dass die Mutter des Mädchens sie anschaute, obwohl die toten Augen immer noch nicht die Anwesenheit der lebenden Frau bemerkt zu haben schienen. Danny musste dem Mädchen eine Aufgabe geben, und zwar schnell. Es war nicht gut für sie, sich auf eine tote Person zu fixieren, egal, wer es war. »Du hast einen Bruder, stimmt’s?«, fragte sie das Mädchen.

»Jimmy James.«

»Ich brauche deine Hilfe. Jemand muss sich um ihn kümmern, und ich bin zu beschäftigt.«

Zum ersten Mal sah das Mädchen sie an. Sie war naturblond und hatte helle Wimpern und kleine, gleichmäßige Sommersprossen. Sie schien zu überlegen, ob Danny ihr irgendeinen Blödsinn erzählte, damit sie mitmachte. Sie antwortete nicht, sondern blickte wieder zu ihrer Mutter.

Danny versuchte es noch einmal. »Das mit deiner Mutter tut mir wirklich leid. Diese Situation ist für uns alle schwierig. Aber ich kann dich nicht hier zurücklassen, verstehst du? Ich kann nicht. Und in ein paar Tagen, wenn wir anderen unten im Tal in der Rettungsstelle sind und du keine Kartoffelchips mehr hast und diese Typen hier anfangen zu verfaulen, dann würdest du dir bestimmt wünschen, du wärst mitgekommen.«

Das Mädchen setzte einen Blick auf, als hätte Danny sie geohrfeigt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr über die Wangen liefen, ihr Kinn zitterte, und schließlich weinte sie. Danny nahm sie in den Arm und drückte den kleinen Kopf gegen ihre Brust, während sie sich wünschte, es wäre Kelley. Das Mädchen weinte, bis Dannys Hemd nass war. Danny spürte das Brennen der Tränen, die sie selbst weinen müsste. Irgendwo in ihr gab es ein Meer davon.

Dann machten sie sich auf den Weg, kletterten über den Zaun in die Büsche und schlugen sich durch das Gestrüpp bis zur Pine Street.

Die Toten liefen überall herum.

Sie schienen sich ein wenig schneller zu bewegen als zuvor. Vielleicht wurden sie durch die Sonnenwärme aktiviert wie bei Eidechsen. Und sie schienen ein wachsendes Interesse an den beiden Lebenden zu haben, die sich zwischen ihnen hindurchschlängelten.

Danny führte das blauhaarige Mädchen auf der anderen Seite der Pine Street hinter den Häusern entlang, dann gaben sie ihre Deckung auf und betraten einen umzäunten Hof. Der Hof bildete eine Art Lichtung zwischen den wankenden Leichen. Oberhalb befand sich das Nordende der Main Street, und gegenüber der Kreuzung war die Turnhalle. Sowohl auf der Straße als auch dem Parkplatz drängten sich die Untoten. Fast alle blickten in Richtung Turnhalle. Danny rief Troy über Funk.

»Troy, gib mir eine 10-66.«

Troy antwortete mit leiser, verschwörerischer Stimme, die ein wenig gedämpft klang, als würde er sich die Hand vor den Mund halten. »Es geht uns gut, wir haben die Türen verschlossen, hier ist es sicher. Aber wir sind in der Unterzahl, wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben. Und hier ist eine Frau, die ausflippt, weil ihr Mann da draußen ist.«

»Lebt er?«

»Nein.«

»Ich bin auf der anderen Seite der Main Street. Sieht aus, als könnte die Situation eskalieren. Wir müssen die Überlebenden aus der Stadt schaffen. Das große Wohnmobil ist nicht weit von der Tür entfernt. Weaver hat die Schlüssel. Ich denke mal, es passen dreißig Leute rein, wenn man es vollpackt. Wie viele sind bei Ihnen?«

»Das ist die gute Nachricht«, sagte er. »Mehrere Leute haben vor fünf Minuten die Nerven verloren und sind mit ein paar Lastwagen und einem Lieferwagen die 144 hinaufgefahren. Ich hab also ungefähr ein Dutzend hier, und Amy ist gerade mit fünf weiteren hereingekommen. Sie sind völlig durcheinander. Ich kann das gut verstehen. Wie ist Ihre Lage, Sheriff?«

Meine Lage ist beschissen, hätte sie am liebsten gesagt, danke der Nachfrage. Doch sie antwortete: »Ich habe hier ein Mädchen …«

»Michelle«, ergänzte das blauhaarige Mädchen.

»Sie heißt Michelle«, fuhr Danny fort, »und Maria ist in der Wache. Ich weiß nicht, wo Wolfman ist, außer er ist bei Ihnen.« Danny hatte plötzlich eine ungefähre Vorstellung, was als Nächstes zu tun war. »Okay, wir machen Folgendes. Wir bringen so viele wie möglich in das Wohnmobil und die Übrigen vielleicht auf Eugenes Pritschenwagen, und dann verschwinden wir von hier. Hinauf nach Big Bear. Dort dürften sich Tausende von Flüchtlingen tummeln, aber mit unseren Uniformen verschaffen wir uns vielleicht ein wenig Respekt. Irgendwelche Einwände? Over.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Troy antwortete. »Flüchtlinge … Verdammt. Ja, ich bin bereit, die Stadt zu verlassen. Wir können ein Schild aufstellen, für alle, die sich hier in der Gegend noch in ihren Kellern verstecken, damit sie uns folgen können, wenn sie den Mumm haben. Ach verdammt, 10-6, over.«

Zehn-sechs: Bleib dran. Danny hörte über das Funkgerät Geräusche im Hintergrund, dann war es still. Sekunden später ertönte Geschrei, dann flog eine Tür der Turnhalle auf. Eine Frau rannte schreiend hinaus: »Larry! Larry, wo bist du?« Die Frau stürzte sich in die dichte Menge der wandelnden Toten, und Danny verlor sie aus den Augen. Kurz darauf tauchte Troy auf. Als er sah, wie groß die Menge der Infizierten geworden war, blieb er stehen und wich dann zum Gebäude zurück. Danny winkte über die Köpfe der wandelnden Toten hinweg. »Troy, hier drüben.« Er winkte zurück und drückte das Sprechfunkgerät gegen sein Gesicht.

»Sheriff, wollen Sie, dass ich die Frau da raushole?«

»Ich hole sie, und Sie sorgen dafür, dass die anderen nicht in Panik geraten. Out.« Danny wandte sich an Michelle. »Bleib dicht bei mir«, sagte sie.

Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Danny trat durch den Haupteingang der Polizeiwache auf die Main Street, wo die Toten umherliefen und ihr mit stumpfen Augen folgten, als sie die Stufen heruntersprang und in der Menge verschwand. Die kleine Michelle blieb zurück, und Danny hörte, wie Maria auf sie einredete, wahrscheinlich froh darüber, jemanden in ihrer Nähe zu haben, der ein bisschen aufgeschlossener war als Danny. Sie konnte Larrys Frau in der Menge hören, wie sie nach ihrem Mann rief; sie hatte ihn noch nicht gefunden, und wie zu erwarten war, antwortete er nicht. Danny bahnte sich ihren Weg durch die abstoßenden Wesen, deren Gestank nach Exkrementen und altem Fisch sie würgen ließ. Sie hatte schon schreckliche Dinge in ihrem Leben gerochen, vor allem den beißenden Gestank verbrannten Fleischs, doch das hier war nicht nur ekelhaft, es war fremdartig. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares in der Nase gehabt. Ihr Magen rebellierte. Dann hörte sie die verzweifelten Rufe einer weiteren Stimme.

»Danny, wo zum Teufel bist du?« Es war Amy.

Danny schob sich zwischen den Leichen wie zwischen Riesenschnecken hindurch, angewidert von ihrer Berührung, doch nicht bereit, sich irgendwelche Empfindlichkeiten zu erlauben. Berühr sie eben, verdammt noch mal! Kämpf dich zu Amy durch! Es dauerte allerdings; die Toten waren aktiver als zuvor, betatschten ihre Uniform und hielten sie fest.

Sie trafen sich auf der Straße vor dem Gemischtwarenladen. Danny sah den Highway-Streifenpolizisten vorbeitrotten und hinter ihm den Vokuhila-Typen mit dem FUCK-T-Shirt. Irgendwie war seine Unterlippe abgerissen und hing nur noch an einem Hautfetzen auf einer Seite. Seine Zähne waren zu sehen.

Dann tauchte Amy aus der Menge hinter ihm auf. Sie versuchte die Infizierten nicht zu berühren, wurde aber trotzdem geschubst, wenn sie aneinanderstießen.

»Schön, jemand Lebendigen zu sehen«, sagte Amy. »Hast du eine ebenfalls lebende Frau in einem gelben Polohemd gesehen?«

»Sie ist dort drüben«, sagte Danny und deutete mit dem Kinn die Straße hinunter. »Holen wir sie. Ich will, dass in einer halben Stunde alle die Stadt verlassen haben.«

Die beiden Frauen bewegten sich durch die stumme, schlurfende Menge, Danny vorneweg, während Amy ihr folgte, die Hände um den Oberkörper geschlungen, als hätte sie eine Maus und nicht Tausende wiedererweckter Leichen gesehen.

»Er ist nicht tot!« Larrys Frau zeigte anklagend auf Amy und den toten Lawrence, als hätte sie die beiden beim Fremdgehen erwischt.

»Ich weiß, dass er sich bewegt, aber er lebt nicht. Wir können ihn nicht in die Turnhalle lassen.« Amy flehte die Frau an, etwas, das nie funktionierte, wie Danny aus Erfahrung wusste.

Also trat Danny zwischen den Mann und seine Frau. Sie nahm einen tiefen Atemzug. Neuer Versuch. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. Sie packte die Frau am Arm.

»Es ist nicht ihre Schuld, Ma’am. Staatliche Vorschriften. Gehen wir zurück …«

»So eine Vorschrift gibt es nicht!«

Amy nahm den anderen Arm der Frau, und sie und Danny schoben sie sanft in Richtung Turnhalle. Die Zombies – verdammt, das sind sie wirklich, dachte Danny – kamen ihnen während des Handgemenges unangenehm nahe. Andere folgten den Überlebenden in Richtung Turnhalle, und immer mehr kamen hinter Bäumen und Häusern und aus Torwegen hervor. Es waren Hunderte. Amy setzte sich weiter mit der Frau auseinander, die aufgeregt plapperte, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

Dann machte sie einen Satz nach vorn und fletschte dicht vor Amys Gesicht die Zähne: »Wenn er nicht am Leben ist, warum läuft er dann die Straße entlang? Was für eine Ärztin sind Sie überhaupt, wenn Sie nicht einmal den Unterschied zwischen tot und lebendig kennen?«

Danny zog die Frau zurück, doch sie schüttelte Danny ab, stapfte genau auf Larry zu und rief ihn beim Namen. Danny packte Amys Handgelenk: Lass sie gehen. Sie wollte sowieso keine Hysterikerin in der Turnhalle, die die anderen nur aufwiegelte. Gerade als Danny vorschlagen wollte, die Stadt endlich zu verlassen, krächzte ihr Funkgerät.

»Es gibt eine neue Bandansage. Ich glaube, es ist dringend«, sagte Maria.

»Nichts für den offenen Funk?«, fragte Danny in ihr Schultermikro.

»Nein.« Maria klang ängstlich.

»Wir sind gleich da«, versprach Danny. »Wir verlassen die Stadt, machen Sie sich ebenfalls bereit.«

Es war ihr egal, wohin sie gingen, solange es dort keine Toten gab. Auf einmal tauchten Patrick und Weaver hinter ihnen auf.

»Wir sind hier, um Ihnen mit der durchgedrehten Frau zu helfen«, sagte Patrick, und Weaver grunzte.

»Vergessen Sie sie«, sagte Danny.

Sie bahnten sich einen Weg zur Polizeiwache, wobei sie in sicherem Abstand von der anwachsenden Menge von Zombies blieben. Danny hatte nach ihrer Rechnung bisher zwei Lebende in dem Durcheinander verloren: Larrys Frau und Wulf. Der alte Mann war vor mindestens zwei Stunden auf seine iltishafte Art in der Landschaft verschwunden. Danny hatte keine Ahnung, wo er war. Sie gingen an Mrs. Larry vorbei, die die Arme um den Hals ihres schwankenden Mannes geschlungen hatte, den Kopf an seine Brust und sein nicht schlagendes Herz gepresst. Danny bemerkte, dass sich die Zombies etwas schneller bewegten.

»Es ist, als würden sie allmählich den Tod abschütteln«, sagte Amy und sprach damit Dannys Gedanken aus. »Sie scheinen schneller zu werden.«

Sie betraten die Wache und verschlossen die Tür.

»Hören Sie nur.« Maria weinte. Sie drehte den Lautstärkeknopf am Funkgerät. Es war wieder die künstliche Sprachausgabe, die von irgendeiner anonymen Seele in einer Nachrichtenzentrale programmiert worden war:

» essen lebendes Fleisch. Wiederhole: Die Toten essen lebendes Fleisch. Wiederhole: Die Toten essen lebendes Fleisch. Wiederhole: Die TOTEN essen …«

Danny streckte die Hand nach dem Knopf aus und stellte leise. Weaver kratzte sich am Nacken, als würde er über einen Schachzug nachdenken. Dann krächzte eine alte Stimme: »Wie oft habe ich es euch gesagt? Wir müssen ihnen den Schädel einschlagen.«

Es war Wulf. Er musste von hinten hereingekommen sein, denn in der Gasse waren keine Zombies bis auf diejenigen, die in Troys Pferch gefangen waren. Jetzt saß er bei geöffneter Tür in seiner Zelle und füllte einen Rucksack mit Vorräten.

»Ich bleibe nicht«, sagte er. »Das hier ist der einzige sichere Ort in der Stadt, aber nicht mehr lange.«

Maria packte Dannys Handgelenk. »Was hat diese Nachricht zu bedeuten? Ist sie wahr?«

Danny kratzte sich auf die gleiche Weise wie Weaver am Nacken. Ihr Verstand arbeitete schneller, aber ohne ein bestimmtes Ziel. Diese neue Information war zu viel. Wenn die Nachricht stimmte, wenn sie wahr war …

Ein schriller Schrei hallte aus Richtung Main Street durch die Luft.

Infektion - Tripp, B: Infektion - Rise Again
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