9

Seit dem Zwischenfall an jenem Morgen hatte Murdo ständig eine Pistole in der Hand. Gegen Mittag war die Disziplin unter seinen Männern völlig zusammengebrochen. Sie stritten sich. Es gab eine Prügelei zwischen Ace und Parker, als Parker von Ace vorgeworfen wurde, Partei für die getötete Frau zu ergreifen, weil sie »Halbniggerin« war.

Murdo brütete mehrere Stunden lang im Kontrollturm. Man hatte die Zivilisten zusammengetrieben, in den Speisesaal gesperrt und an jedem Ausgang Wachen postiert. Es waren Reese und Boudreau, die Cammy aus dem Waschraum trugen, in eine Abdeckplane gehüllt. Ihre blutlosen, gelblich grauen Füße hingen aus dem Plastikmaterial. Maria wollte von ihnen wissen, was sie mit ihr vorhatten.

»Sie ist tot«, erwiderte Boudreau, als hätte Maria ihnen nekrophile Absichten unterstellt. Sie schleppten die Leiche über den Parkplatz und zwischen ihren klobigen Gefährten hindurch. Estevez entriegelte das Tor, dann verschwanden die beiden mit Cammy zwischen den Büschen. Schon nach anderthalb Minuten kamen sie zurückgerannt und erstatteten ihren Kameraden Bericht, bevor Reese zum Tower hinüberlief und Murdo informierte.

Keiner der Zivilisten konnte erkennen, was der Grund für die Aufregung war, aber die Machos waren sichtlich erschüttert.

Der Speisesaal lag auf der Rollbahnseite des Gebäudes, und kein Fenster ermöglichte einen Blick zum Tor. Doch die Zivilisten mussten nicht lange warten, bis auch sie von der Neuigkeit erfuhren. Estevez stieg in das M1117 ASV und bemannte den Geschützturm, und als Murdo den Tower verließ, zeigte er auf die Wüste und rief: »Zets!«

Schüsse waren zu hören. Viele der Überlebenden gingen zu Boden. Pfeiffer postierte sich am Fenster. »Sie schießen durch den Zaun«, sagte sie.

Einige Minuten später kamen die Söldner wieder ins Gebäude. Diesmal war auch Murdo bei ihnen, mit gereckter Brust und hoch erhobenem Kopf. Sie hatten ihren früheren Stolz wiedergefunden, als wären sie auf Bärenjagd gewesen.

»Es wird Sie freuen zu erfahren«, sagte Murdo mit zu lauter, tönender Stimme, »dass wir etwa zehn Zets ausgeschaltet haben, die sich hier am Büfett bedienen wollten.« Er blickte die Zivilisten der Reihe nach an, als würde er von ihnen erwarten, dass sie ihm dankten. Er begegnete ausschließlich feindseligen Blicken und trat einen Schritt zurück. Dann richtete er sich zu voller Größe auf.

»Wir alle sollten uns daran erinnern, dass es zu einem Unfall gekommen ist. Zu einem bedauernswerten Unfall. Aber jetzt haben wir Ihnen allen das Leben gerettet. Wir haben es ohne Zögern getan, wir haben es getan, ohne irgendetwas von Ihnen zu verlangen. Wir haben unsere Pflicht als vereidigte Sicherheitskräfte der Vereinigten Staaten getan. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um mich als heldenhafter Eroberer bejubeln zu lassen. Aber ich erwarte, dass Sie den Männern, die soeben Ihren Arsch gerettet haben, wenigstens ein bisschen Scheißrespekt entgegenbringen.«

Am Ende seiner Ansprache war sein Gesicht gerötet, und er hatte den Kopf vorgereckt, auf die typische kampflustige Art, die seine natürliche Haltung war. Mehrere Sekunden lang sagte niemand etwas.

Dann erhob sich Linda Maas, von irgendeinem inneren Feuer getrieben, und hob die Hand. Sie sprach, ohne auf Murdos Erlaubnis zu warten. »Wurden sie vom Geruch des frischen Fleischs angelockt? Weil Sie die Leiche nach draußen gebracht haben? Sie Schweine haben sie nicht einmal begraben, nicht wahr?«

»Dazu blieb uns keine Zeit«, brüllte Reese mit voller Lautstärke. Seine Hand legte sich auf den Lauf seiner Automatik.

Murdo trat vor Reese und wandte den Zivilisten den Rücken zu. »Sie hören mir jetzt ganz genau zu«, sagte er zu Reese, obwohl seine Worte an das gesamte Publikum gerichtet waren. »Diese Leute sind verwöhnt, weich und undankbar. So sind Zivilisten überall auf der Welt. Sie wissen nicht, wie viel Blut, Schweiß und Tränen es kostet, den Frieden eines Landes zu sichern, haben Sie verstanden?« Murdo war jetzt nur noch wenige Zentimeter von Reese entfernt und blickte mit funkelnden, blutunterlaufenen Augen zum größeren Söldner auf. »Also können weder Sie noch ich Respekt von ihnen erwarten. Wir sind keine Armeesoldaten. Wir sind weder die Marines noch die Air Force oder die Navy.«

Murdo trat zurück, damit er alle seine Männer ansehen konnte. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. Er legte eine Hand auf Reeses Arm und drückte.

»Verdammt, wir sind nicht mal die Nationalgarde!«

Darüber mussten die Söldner leise lachen.

Murdo redete weiter, nachdem er in Fahrt gekommen war. »Wir sind einfach nur gute alte Amerikaner, aber wir sind Amerikaner mit einem Ehrenkodex. Wir wissen, was Disziplin, Loyalität und Pflicht bedeuten. Ja, verdammt, in der ganzen Aufregung haben wir Fehler gemacht. Freiheit gibt es nicht umsonst. Aber …« Er reckte einen stumpfen Finger himmelwärts. »… die höchste Autorität wird uns vergeben, was auf den blutigen Schlachtfeldern des Krieges geschehen ist, denn es sind nicht die Toten, die trauern, sondern die Lebenden. Das sollten wir nie vergessen. Wir trauern um die Toten. Auch ich trauere in diesem Moment um die Toten, genau hier in meinem Herzen. Und ich werde jeden Wichser auf der Stelle töten, der etwas anderes sagt.«

»Und was wird jetzt geschehen?«, fragte Amy. Mit seiner Rede schien er auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen.

Murdo schlug mit der Faust in die offene Hand. »Ich sage Ihnen, was jetzt geschehen wird. Wir ziehen ab«, verkündete er. »Zu viele Zets. Hier ist es nicht mehr sicher genug.«

Die Sonne ging hinter einer dichten, formlosen Wolke unter, die sich am Horizont ausbreitete. Der Himmel war mit blassem Rot und orangefarbenen Streifen durchsetzt, als das Licht erlosch und die Welt in Dunkelheit versank.

Während des ganzen Nachmittags waren hastig Vorräte in die Fahrzeuge geschafft worden. Die meisten Lebensmittel gingen in das ASV und einen Humvee unter Bewachung der Hawkstone-Leute. Als Zugeständnis wurden auch ein paar essbare Vorräte in das Wohnmobil geladen, damit die Zivilisten unterwegs nicht verhungerten. Toilettenpapier, Batterien und Erste-Hilfe-Material – alles, was den Leuten in den Sinn kam – wurden rund um Patricks Bett aufgehäuft.

Die Dringlichkeit der Situation war niemandem außer Murdo klar. Amy hatte den Eindruck, dass er kurz vor dem Verrücktwerden stand. Nur so schien er damit umgehen zu können. Draußen trieben sich Untote in immer größerer Zahl herum, aber sie glaubte, dass sie auf dem Flugplatz sicherer waren, zumindest bis zum Morgen. Wer konnte schon sagen, was alles in der Dunkelheit geschehen würde? Aber sie behielt ihre Meinung für sich und tat, was ihr gesagt wurde, genauso wie alle anderen.

Als die Fahrzeuge zu Murdos Zufriedenheit beladen waren, wurden die Überlebenden zügig zum Weißen Wal geführt. Murdo befahl ihnen, an der Tür anzuhalten. »Sie und Sie«, sagte er und zeigte auf Reese und Estevez, »werfen die Schwuchtel raus. Bringen Sie den Kerl her.«

Amy überraschte sich selbst, als sie laut rief: »Nein! Er ist nicht einmal bei Bewusstsein!«

Murdo wandte sich ihr mit eigenartig leerem Blick zu. »Es ist mir scheißegal, was er ist. Ich will keinen zweiten Verletzten in diesem Bus haben. Mit Jones haben wir schon genug zu tun. Reese, Estevez, tun Sie es.«

»Bringen Sie ihn wenigstens ins Gebäude«, sagte Amy mit zitternder Stimme.

Reese und Estevez schleppten den Bewusstlosen ins Terminal. Sie wollten Patrick gleich hinter der Eingangstür auf dem Boden ablegen. Doch dann bellte Amy: »Nach oben!« Sie widersprachen ihr nicht, sondern trugen ihn die Treppe hinauf und warfen ihn im Männerschlafsaal auf ein Bett. Amy bemühte sich, Patrick in eine entspannte Lage zu bringen, und deckte ihn zu.

»Okay«, sagte Reese, als Amy keine Anstalten machte, von Patricks Seite zu weichen. »Gehen wir.«

»Scheiß drauf, Mann«, sagte Estevez zu Reese. »Verschwinden wir einfach von hier.«

»Gehen wir«, sagte Reese noch einmal zu Amy.

»Komm schon, Mann. Wir haben wirklich nicht viel Zeit.« Estevez gab Reese einen Klaps auf den Oberarm.

Reese drehte sich zu Estevez um. »Sie ist die verdammte Ärztin, Mann. Wir müssen eine Ärztin mitnehmen. Sie kann hier nicht bleiben und Boy George pflegen.«

Amy hatte eine plötzliche Eingebung, die in ihrer Einfachheit wunderbar war.

»Ich bin keine Ärztin«, sagte sie. »Ich bin Veterinärin.«

Damit hatte sie ihre Aufmerksamkeit.

»Blödsinn«, sagte Estevez. »Sie haben Jones zusammengenäht.«

»Ist genauso wie bei einem Hund, nur alles etwas größer«, sagte Amy.

»Ernsthaft?«, fragte Reese.

»Ich bin ein Pferdedoktor«, sagte Amy.

Die Männer wirkten verwirrt. Reese zeigte in Richtung Parkplatz. »Geh und sag es Murdo«, wies er Estevez an. »Vielleicht erzählt sie keine Scheiße.«

Sie war eine Tierärztin, nicht mehr und nicht weniger.

Murdo war die Sache peinlich, und das machte ihn wütend. Die Flüchtlinge im Wohnmobil hatten lauthals darüber gelacht. Murdo konnte nicht fassen, dass sie ausgerechnet über ihn lachten, den Mann, der ihr Leben in den Händen hielt. Wie dieser Wichser, der vor einer Weile Schuhe auf den Präsidenten geworfen hatte, worauf alle ihn als Helden gefeiert hatten. Wo war das Problem, wenn Jones von einer Expertin für Tiere verarztet worden war? Letztlich war es doch nur Fleisch. Trotzdem spürte Murdo das Brennen seines geröteten Gesichts. Vielleicht sollte er die Schlampe erschießen, um den anderen eine Lektion zu erteilen. Aber er hatte das Gefühl, dass diese Leute große Schwierigkeiten machen würden, wenn es nur noch eine einzige weitere Gewalttat gab.

»Vorschlag«, sagte Murdo zu Estevez. »Wir lassen sie einfach hier zurück, wenn sie es unbedingt so haben will. Aber wenn wir rausfahren, ketten wir das Tor an das ASV, reißen es aus den Angeln und schleppen es eine Meile weit über die Straße. Dann werden wir sehen, ob Madame Tierärztin es witzig findet, wenn sämtliche Zets herbeieilen und nach Frischfleisch suchen. Was meinen Sie dazu?«

»Ich bin dabei!«, antwortete Estevez.

Also wurden die Motoren des M1117 Armoured Security Vehicle und der zwei Humvees angeworfen. Ace manövrierte einen Humvee im weiten Kreis herum, bis er hinter dem Weißen Wal stand, das einzige zivile Fahrzeug, das sie mitnahmen. Reese stieg zusammen mit Molini ins Führerhaus des Wohnmobils. Murdo war im ASV, weil er der Boss war. Parker saß am Lenkrad. Jones lag hinten im zweiten Humvee. Flamingo brauchte fünf Minuten, um im Terminalgebäude die Treppe hinunterzusteigen, so wund waren seine Hoden.

Boudreau erschoss ein paar Zets, die sich in der Nähe aufhielten, schloss das große Tor auf und ließ es aufschwingen. Er hielt eine zehn Meter lange Kette bereit, um das Tor am ASV zu befestigen, wenn es so weit war. Die nächsten Untoten in der Wüste waren vielleicht fünf Minuten entfernt, vielleicht sogar weniger. Der Konvoi war zum Aufbruch bereit, sobald Flamingo mit dem Rumzicken aufgehört hatte. Er versuchte, an der Wand von Hangar 1 zu urinieren.

»Scheiße, was ist los?«, wollte Murdo wissen, als er aus dem ASV stieg.

»Ich kann nicht pissen«, sagte Flamingo. »Es fühlt sich an, als müsste etwas kommen, aber es geht nicht. Das Miststück hat meinen Schwanz ruiniert.«

»Sie haben zehn Sekunden, um Ihr Werkzeug einzupacken, Flamingo. Dann fahren wir los.«

Die Nacht verschluckte die Welt in Kälte und Dunkelheit. Wind kam auf. Murdo glaubte das Stöhnen der Zets in der finsteren, öden Landschaft hören zu können. Dann glaubte er einen Motor zu hören. Murdo wandte sich der Straße zu, und Boudreau blickte in die gleiche Richtung. In der Ferne waren wippende Scheinwerfer zu erkennen. Sie kamen über die Straße genau auf den Flugplatz zu. Das Fahrzeug konnte kein anderes Ziel haben, weil es hier kein anderes Ziel gab.

Kurz darauf beobachteten sie, wie ein verdreckter 1968er Mustang in Liebesapfelrot dreißig Meter vor dem Tor zum Stehen kam.

Infektion - Tripp, B: Infektion - Rise Again
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