Die Nacht der singenden Lebenden

Drei Dinge gibt es auf dieser Welt, vor denen ich wirklich Angst habe: Seuchen, Atomkrieg und Musicals.

Während ich aber die von Seuchen und Atomkrieg ausgehende Gefahr für einigermaßen kontrollierbar halte, steigert sich meine Musicalpanik von Tag zu Tag. Es werden immer mehr. Sie kommen immer näher. Und ich schwöre: Sie verfolgen mich.

 

Während ich diese Zeilen schreibe, liegt zum Beispiel neben mir ein Kölner Veranstaltungsmagazin, das auf dem Cover für eine «Best of Musical»-Gala wirbt. Das Titelfoto zeigt 15 Bühnenkünstler, die in Richtung Kamera laufen, die Arme energiegeladen schwingen und mit ihrem Gesicht das machen, was man in Musicalschulen wohl unter Lächeln versteht: Sie ziehen die Oberlippe über die Zahnreihe. Aber das ist kein Lächeln. Gehen Sie mal in einen Zoo und beobachten Sie ein Rudel Schakale. Wenn da einer die Oberlippe über die Reißzähne zieht und auf Sie zukommt, denken Sie sich dann: «Ach, der lächelt aber freundlich, den streichel ich mal!»? Na eben.

Ich muss dieses Titelbild nur anschauen, und mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Eine Handvoll Zombies, die mit verfaulten Gesichtern und Gedärmen in der Hand auf mein Haus zumarschieren, könnte mir nicht halb so viel Angst machen. «Die Nacht der lebenden Toten»? Da lache ich doch. «Die Nacht der singenden Lebenden» – das macht mich fertig!

 

Ich weiß genau, wie meine Musicalphobie begann: Als ich noch ein Kind war, drückte mein Vater meiner Mutter zum Geburtstag mal einen Umschlag in die Hand. Darin war eine Eintrittskarte für «Miss Saigon», in Stuttgart. Meine Mutter wusste, wie sehr mein Vater Musicals hasst («In der Oper wird gesungen, was zu dumm ist, um gesprochen zu werden. Und im Musical wird es sogar noch getanzt!», so sein Standardspruch), und fragte deshalb vorsichtig: «Geh ich da allein hin?»

Mein Vater schüttelte entrüstet den Kopf. «Also, hör mal, für wen hältst du mich denn?»

Dann holte er einen zweiten Umschlag hervor. Und drückte ihn mir in die Hand.

Als meine Mutter und ich dann im Stuttgarter Musicaltheater saßen, starrte ich fassungslos auf die Bühne. Ich verstand auch nicht ansatzweise, was da gerade vor sich ging und warum die Menschen um mich herum so begeistert waren.

«Mama, warum singen die denn ständig?»

«Das ist ein Musical»

«Geht’s dem einen nicht gut?»

«Er tanzt.»

«Und was machen die alle mit ihrem Gesicht?»

«Sie lächeln!»

Damals sah ich auch zum ersten Mal die berühmteste aller Musicalgesten, die mich noch heute schaudern lässt: Die Musicalfaust. In jeder Produktion schaut früher oder später einer der Darsteller ergriffen, streckt die Hand nach vorne, ballt sie dann zur Faust und zieht sie langsam, wie unter großer Anstrengung, wieder zu sich.

Als Kind war mir völlig klar, was der Mann da grade machte.

«Vorsicht, Mama, er saugt unsere Seelen auf!»

Der Abend nahm ein abruptes Ende: Als endlich der im Programmheft groß angekündigte Hubschrauber auf dem Dach der Pappmaché-US-Botschaft landete, sprang ich auf, winkte und rief: «Hier! Ich will auch mit! Fliegt mich hier raus!!!»

 

Wovor genau ich Angst habe, ist dabei schwer zu erklären. An die Theorie, dass Musicaldarsteller Seelen fressen, glaube ich heute nur noch bedingt. Es ist eher ihre schiere Masse, die mir Angst macht. Wie bei diesen Marienkäfern auf dem Balkon, die man anfangs noch irgendwie putzig findet. Bis man dann feststellt, dass da überall Marienkäfer sind, und man leicht verunsichert die Fenster schließt.

Und Köln ist weiß Gott voller Musicaldarsteller: im Supermarkt, im Fitness-Studio und – besonders schlimm – in Kneipen. Man erkennt sie daran, dass sie beim Hereinkommen nicht «Hallo!» sagen, sondern «Tataaa!». Dann schnappen sie sich einen Stuhl, drehen die Lehne kess nach vorne, setzen sich drauf und schieben langsam ihre Lippe über den Oberkiefer, während ich mich im Hintergrund hinausschleiche.

Vor einigen Jahren krallte sich die Musicalindustrie auch noch eine meiner All-Time-Lieblingsbands und verwurstete sie zu einem unwürdigen Tanz-Hüpf-Grinse-Spektakel: «We Will Rock You – das Queen-Musical». Mit «Bohemians» und einer «Killer Queen» und einem Planeten «e.Bay», auf dem das Ganze spielt. Da soll man nicht heulen?

 

Natürlich bin ich nicht der einzige Mensch mit Musicalphobie. Schauen Sie mal nach Hamburg. Dort wurde der «König der Löwen» auf eine Insel im Hafen verbannt. Erinnert nur mich das an die Leprakolonien vor mittelalterlichen Städten? Vermutlich spielen die Hamburger Stadtoberen insgeheim mit dem Gedanken, irgendwann die ganze Insel loszufräsen und elbabwärts Richtung Brunsbüttel treiben zu lassen. Da können Timon und Pumbaa ihre Musicalhand so sehnsüchtig Richtung Ufer strecken, wie sie wollen!

 

Nur manchmal, wirklich ganz, ganz selten, passiert mir bei Musicaldarstellern das, was mir auch bei Zombies gelegentlich passiert: Ich habe Mitleid mit ihnen.

Kürzlich sah ich einen Werbespot für eben den «König der Löwen». Darin gab es eine Szene mit zehn Akteuren, die mit einem Stück Wiese auf dem Kopf im Kreis tanzten. Im Hintergrund lief Musik, vermutlich ein emotionaler Elton-John-Heuler. Vielleicht war’s aber auch ein Stimmungskracher mit dem Titel «Ich hab ’ne Wiese aufm Kopf, ich bin die Steppe!». Ich weiß es nicht, denn ich hörte natürlich nicht zu. Stattdessen kam mir der Gedanke: Wie demütigend muss das sein? Da nimmst du zehn Jahre lang Gesangsunterricht in London, Schauspielstunden in München und Musical-Faust-Nachhilfe in New York, und dann wirst du im «König der Löwen» dritte Grasnarbe von rechts? Und irgendwann steht auf deinem Grabstein: «Hier liegt der berühmte Musicaltänzer XY. Er hatte während seines gesamten künstlerischen Lebens ein Stück Wiese auf dem Kopf. Jetzt auch.»

Der Gedanke machte mich sehr traurig. Aber nur kurz. Dann schob sich langsam meine Oberlippe über die Zahnreihe.