Fusselbart mit Hut
Es ist nicht leicht, mit Mitte 30 noch Computerspielfan zu sein. Mitte 30, da schaut man sonntags den Tatort, baut seinem Sohn ein Baumhaus und schließt, wenn man noch ein bisschen Zeit hat, eine Riesterrente ab oder sortiert endlich mal die Inbusschlüssel im Werkzeugkasten nach Größe.
Aber ich habe da noch einen kleinen Nachholbedarf, denn in meinem Elternhaus herrschte strenges Computerverbot. Meine Eltern waren überzeugt, dass meine beiden Brüder und ich sonst nur noch vor dem Commodore 64 hocken und uns streiten würden, wer als Nächstes spielen darf. Und meinen stolz vorgetragenen Weltklasse-Vorschlag «Dann kauft uns einfach drei Computer!» ignorierten sie.
Das führte eigentlich nur dazu, dass ich mich regelmäßig bei Nachbarn einlud.
«Hey, Christian», sagte ich dann beispielsweise, «sollen wir heute Abend Bombjack daddeln?»
«Ich hab Fußballtraining!»
«Ach, doof. Na, dann sag deiner Mama einfach, sie soll mich reinlassen!»
Solche Verbote sind also Unsinn, und ich rate allen Eltern davon ab. Nutzen Sie die Zeit lieber dafür, Ihren Kindern wichtige Dinge beizubringen. Wie zum Beispiel, dass man im Kino nicht telefoniert, keine ungepoppten Maiskörner durch die Gegend flitscht und dass der Satz: «Alda, isch hasse disch, isch mach disch fertisch!», wenn man’s genau nimmt, keinen einzigen «sch»-Laut enthält. Das wäre wirklich wichtig, vor allem, wenn Ihre Kinder Jeanine und Pascal heißen und am 28. 08. 2011 um 20 Uhr im Kölner Cinedom bei «Die Drei Musketiere» neben mir saßen.
Weil ich also der Überzeugung bin, dass man für Videospiele nie zu alt ist, war ich letztes Jahr zum ersten Mal auf der Gamescom in Köln, Europas größter Spielemesse. Schon während der Bahnfahrt dorthin wurde meine Überzeugung auf die Probe gestellt. Nach wenigen Minuten war ich umringt von Halbwüchsigen mit Camouflage-Stoffhosen und T-Shirts, deren Aufschriften ich nicht verstand. Sachen wie «Save the Utullians!», «Morion rules!» und «Kill the Seprons!». (In meinem nächsten Leben möchte ich Texter für Videospiel-T-Shirts werden. Ich glaube, schneller und unangestrengter kann man sein Geld gar nicht verdienen. Höchstens noch als Komponist für Türglockentöne.)
Aber es wurde noch schlimmer: Während wir auf die Messe zufuhren, stiegen richtige Hardcore-Fans ein, in Verkleidungen, die ich ebenfalls nicht begriff. Super Mario, Batman und Max Payne hätte ich ja noch erkannt, aber eine schwarz-rot gekleidete Piratin mit einem Schild «Free Albion!»? Ich habe absolut keine Ahnung, was das Mädel mir und der Welt mitteilen wollte. Da die stolze Piratin sich aber neben mich stellte und mich demonstrativ angrinste, lächelte ich ihr wissend zu, deutete auf die Flagge und sagte: «Free Albion! … Na, Mensch, ich drück die Daumen! So nach dem arabischen Frühling – da wird’s doch in Albion auch mal klappen!»
Jetzt hatte das Mädel keine Ahnung, was ich ihm mitteilen wollte.
Erst überlegte ich noch, ob ich vielleicht bei der Kölnarena aussteigen und mir, wie es sich für echte Mittdreißiger wohl gehört, ein paar Semino-Rossi-Karten holen sollte. Aber da waren wir schon an der Messe angekommen, und ich steuerte sofort auf den Stand der Freiwilligen Selbstkontrolle zu. Dort wurden die begehrten roten Armbänder ausgeteilt, die ihren Besitzer als volljährig auswiesen und ihn damit zum Ausprobieren aller Spiele berechtigten. Als ich dem Mitarbeiter meinen Arm hinhielt, lächelte er mich nur süffisant an. «Na, ich denke, das brauchen wir bei Ihnen nicht.»
«Warum?», fragte ich.
«Na, dass Sie volljährig sind, sieht man ja wohl.» Er grinste noch breiter. «Und es gibt kein spezielles Armband für Über-40-Jährige.»
Ich erwog kurz, ihm mit einem seiner Armbändchen die Luft abzuschnüren. Aber dann heißt es in den Zeitungen ja gleich wieder: «Videospielfan läuft Amok». Und den Gefallen wollte ich all den CSU-Politikern, die in solchen Fällen schnell die Schützenvereins-Uniform ausziehen, das Jagdgewehr weglegen, vor eine Kamera hechten und «Ja, ja, die Ballerspiele sind schuld!» krakeelen, nicht tun.
Ich streifte also ohne Bändchen durch die Flure der Messe. Wenn mich heute einer fragen würde, was denn da so präsentiert wurde – ich habe keine Ahnung! Die ganze Zeit suchte ich eigentlich nur eines: Menschen, die älter waren als ich. Das war nicht einfach. Stattdessen sah ich immer jünger werdende Videospielfans in immer länger werdenden Schlangen stehen und hörte sie Dinge rufen wie: «Yes! Noch vier Stunden, dann darf ich Diablo III spielen!» Ich kam mir vor wie Peter Scholl-Latour beim Kinderschminken.
Irgendwann beschloss ich, mich nicht länger um die Altersfrage zu kümmern und endlich das zu tun, weshalb ich gekommen war: Spielen.
Ich stellte mich also an einem Nintendo-Stand an. Sofort steuerte ein weiß gekleideter Promoter auf mich zu und drückte mir lächelnd eine Anstecknadel in die Hand.
«Wow, ein Super-Mario-Pin», sagte ich und versuchte, dabei möglichst begeistert zu klingen. «Was bedeutet der? Bin ich jetzt Mitglied in einem Club? Bekomme ich regelmäßig Super-Mario-Infos? Krieg ich vielleicht sogar was geschenkt?»
Der Promoter starrte mich etwas verwirrt an und sagte dann: «Ja. Äh … diesen Pin.»
Wir schauten uns beide fünf Sekunden lang stumm in die Augen. Dann griff der Promoter nach dem Pin.
«Aber vielleicht sind Sie dafür auch einfach schon zu alt.»
Ich zog meine Hand schnell zurück, riss die Verpackung auf und steckte mir den Pin an. In dem Moment drehte sich der Junge, der gerade vor mir ein Nintendo-Spiel ausprobierte, um und sagte: «Mein Papa steht auch total auf Super Mario.»
Ich nickte lächelnd.
Der Junge wandte sich wieder zum Bildschirm und flüsterte dabei: «Voll peinlich.»
Ich verließ den Super-Mario-Stand und näherte mich meiner letzten Hoffnung: der «World of Warcraft»-Area. Das habe ich zwar noch nie gespielt, ich wusste aber aus verschiedenen Fernsehsendungen, dass viele Menschen in meinem Alter das tun. Einige WoW-Fans kommen nämlich dadurch zu zweifelhaftem Ruhm, dass sie nächtelang zocken, völlig abtauchen, alle sozialen Kontakte abbrechen und erst Monate später bei Tine Wittlers «Einsatz in vier Wänden Spezial – Die Computernerd-Bude» wieder auftauchen.
Ich schaute mich also um, und tatsächlich stand ich plötzlich zwischen Menschen in meinem Alter. Auf der Bühne, vor der sich alle versammelt hatten, fand gerade eine Verlosung statt. Ein Moderator hielt ein kleines Plastikpaket hoch und rief: «Okay, und jetzt hab ich hier noch einen Schlüsselanhänger. Den bekommt derjenige, der mir sagen kann, welches Geräusch die Königin Amira macht, wenn sie den Feuerball wirft!»
Ich verdrehte die Augen und wollte schon rufen: «Junge, wir sind alle über 30, wir scheißen auf deinen Schlüsselanhänger!»
Aber da schnellten schon mindestens 300 bleiche Daddler-Arme in die Luft. Der Moderator ging zu einem der Fans, einem Hardcore-Gamer mit Fusselbart und Strohhut, und hielt ihm das Mikro vor den Mund. Die Menge verstummte, alle Blicke richteten sich auf den Fusselbart. Der holte tief Luft, beschrieb mit seiner Hand eine werfende Bewegung und sagte dann:
«Sie macht: ‹Gssssscccchhhhht›!»
Alle johlten anerkennend auf und applaudierten, während der Moderator dem Fusselbart seinen wohlverdienten Schlüsselanhänger überreichte.
Ich war fassungslos.
Als dann neben mir ein ebenfalls mindestens 30 Jahre alter Fan zu seiner Begleitung sagte: «Ah, richtig: ‹Gsssssccccccht!› Ich dachte erst: ‹Wrrruuuuufffff!›, aber das ist ja der Eisblitz!», da wusste ich: Es ist Zeit zu gehen.
Auf halbem Weg nach Hause klingelte mein Handy. Mein Vater war dran. «Junge, wo bist du?»
«Ich komme gerade von der Gamescom.»
«Ah, gutes Stichwort: Sag mal, wie kann ich eigentlich Solitär und Minesweeper von der Festplatte unseres Computers löschen?»
«Ach, Papa», seufzte ich. «Meinste nicht, dass es Zeit wird, eure Haltung gegenüber Computerspielen mal zu überdenken? Wenn sie euch nicht gefallen, dann spielt sie halt nicht. Aber ihr müsst sie doch nicht gleich löschen!»
«Junge, das Problem ist ein ganz anderes! Seit wir die Dinger auf dem Rechner entdeckt haben, sitzen deine Mutter und ich nur noch vor dem Kasten, spielen Solitär und streiten uns, weil keiner den anderen ranlassen will! Also: Wie löscht man das?»
Ich wusste es: Man ist nie zu alt.