Neunundzwanzigstes Kapitel
Sie spazierten gemächlich die Kentish Town Road hinunter zu Thornes Wohnung. Es war kurz nach neun und begann gerade zu dämmern, aber es war noch warm genug, um ohne Jacke zu laufen. Auf der Straße war viel los, und es war laut wie immer. Ständig fuhren Autos an ihnen vorbei; wer immer es konnte, hatte das Verdeck zurückgeschoben, und die meisten hatten die Fenster heruntergekurbelt.
Trotz Eves vorheriger Bemerkung hatten sie beide nicht wenig gegessen. Doch Thorne führte dieses merkwürdige Gefühl im Magen auf etwas ganz anderes zurück. Bevor sie die Wohnung verließen, hatte Eve ihm geholfen, das Bett zu machen, das saubere weiße Laken über die neue Matratze zu breiten, die sie mitgebracht hatte. Thorne wusste genau, dass sie, wenn sie zurückkamen, ihm dabei helfen würde, es wieder zu zerwühlen.
Es gab bestimmte Dinge in seinem Leben, auf die er sich verlassen konnte: Es gab immer irgendwo eine nächste Leiche; Blut ließ sich nie ganz beseitigen; wer ohne Motiv mordete, neigte dazu, es noch mal zu tun. Aber diese Art Versprechen hatte für Thorne schon sehr lange nicht mehr gegolten …
Eve griff plötzlich nach seiner Hand und zog sie hoch, so dass sich ihre nackten Unterarme berührten. »Sonnengebräunt würdest du besser aussehen«, sagte sie.
»Ist das eine Einladung?«
»Wann hast du das letzte Mal richtig Urlaub gemacht?«
Selbst nachdem er eine Minute darüber nachgedacht hatte, konnte Thorne nicht einmal eine ungefähre Antwort geben. Es lag weniger an einem Mangel an Zeit denn an mangelnder Lust und einem Mangel an Leuten, mit denen er verreisen konnte. »Das ist eine Weile her«, sagte er.
»Liegst du gern am Strand rum oder unternimmst du lieber was?«
»Eigentlich beides. Oder gar nichts. Ich finde, mit der Zeit wird es ein bisschen langweilig, nur am Strand zu liegen. Aber wahrscheinlich nicht ganz so langweilig, wie durch ein Museum zu laufen …«
»Nicht leicht zufrieden zu stellen, hm?«
»Entschuldige …«
»Also gut, wohin würdest du fahren wollen, wenn du es dir aussuchen könntest?«
»Ich wollte schon immer mal nach Nashville.«
Sie nickte. »Ah ja. Das Country-and-Western-Ding …«
»Noch eins von meinen dunklen Geheimnissen …«
»Mir gefiel es.«
»Wirklich?«
»Aber du wirst doch später nicht auf pervers machen und deine lederne Reithose anziehen? Die Peitsche und die Sporen rausholen …?«
Sie bogen in die Prince of Wales Road ein; aus dem Pizza Express an der Ecke drang Jazzmusik. Thorne fragte sich, ob eine Pizza vielleicht nicht besser gewesen wäre. Die Kombination aus Curry und schwülem Abend führte dazu, dass ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.
Sie hielten noch immer Händchen, und Thorne spürte die Nässe zwischen ihren Handflächen. Er war sich nicht sicher, ob es ihr Schweiß war oder seiner.
Das Motorrad schlängelte sich problemlos durch den Verkehr. Dann und wann, wenn zu viel los war oder die Straße eng wurde, musste er anhalten und warten. Zwischen Meldefahrern und Eilboten auf Mopeds. Doch es dauerte nie lange, bis sich eine Lücke auftat. Der Rucksack schlug gegen seinen Rücken, wenn er über Schwellen und Schlaglöcher fuhr …
An Ampeln hielt er und sah auf die Uhr. Wahrscheinlich war er etwas früher dort, aber das wäre egal. Er würde das Motorrad abstellen, etwas durch die Gegend laufen und warten. Sich abseits halten, bis es Zeit für ihn war.
Neben ihm heulte eine Kawasaki auf, bereit loszusausen. Ein Mädchen in abgeschnittenen Jeans saß hinten, drückte sich bei jedem Aufjaulen des Motors fester an ihren Freund. Bei Gelb war die japanische Maschine weg, und er sah ihr nach. Er selbst legte einen langsamen Start hin.
Fuhr nicht schneller als nötig …
Er hatte Zeit genug, und das Letzte, was er wollte, war, herausgewinkt zu werden.
Dabei ging es ihm weniger um die Geldbuße oder die Strafpunkte. Er war nur so aufgeregt, so erfüllt von dem, was er gleich tun würde, dass er Angst hatte, den Mund nicht halten zu können, falls ein Bulle ihn fragte, wohin er wolle.
Holland sah auf die Uhr und war platt, als ihm klar wurde, dass er bereits eineinhalb Stunden hier war.
»Ich muss zurück«, sagte er. »Könnte ich diese Fotos haben?«
Irene Noble kletterte müde vom Sofa und schlüpfte in ihre Schuhe. »Ich geh und hol sie …«
Während er wartete, ließ sich Holland ihr Gespräch noch einmal durch den Kopf gehen und staunte, zu welchem Ausmaß an Selbsttäuschung manche Leute fähig waren. Irene Noble war keineswegs dumm. Es fiel ihm schwer zu verstehen, warum sie – sie hatte behauptet, sie und frühere Pflegeeltern hätten die Kinder zusammen im Bett ertappt – so schnell überzeugt war, Sarah Foley sei von ihrem Bruder geschwängert worden. War ihr keine andere Erklärung in den Sinn gekommen?
Er hörte sie die Treppe herunterkommen und rufen. »Mir kommt es so vor, als seien noch keine fünf Minuten vergangen, seit diese Aufnahmen gemacht wurden.«
Wahrscheinlich keine andere Erklärung, mit der sie leben konnte …
Sie kam mit einem kleinen Stapel Fotos in der Hand ins Zimmer, eine Hand voll Polaroidaufnahmen und ein paar etwas größere Standardfotos. Holland nahm sie ihr ab. Sie trat zurück, setzte sich auf die Sofalehne, zeigte auf die Fotos und begann zu erklären.
»Die zwei hier hatte ich im Rahmen auf dem Sideboard stehen. Sie wurden in der Schule aufgenommen, kurz bevor sie verschwanden. Die anderen sind von einer Geburtstagsparty, die wir für Sarah gaben. Es müsste ihr elfter Geburtstag gewesen sein. Roger hatte gerade die Sofortbildkamera gekauft …«
Ab dem Moment, als er einen Blick auf das erste Foto warf, hörte Holland nichts mehr außer seinem Atmen. Ein Mädchen in einem blau gemusterten Kleid und nach hinten gebundenem Haar lachte, als wäre da etwas, von dem nur sie wisse, wie irre komisch es sei. Holland hob das Foto von Sarah hoch, um das Gegenstück zu sehen, das Porträt ihres Bruders.
»Mein Gott«, sagte er.
Irene stand auf. »Was ist?«
Holland blätterte die anderen Fotos durch, um sicherzugehen, blieb an einem hängen, starrte es an, triumphierend und zu Tode erschrocken. Er hörte nicht, als Irene Noble ihn bedrängte, was denn nicht stimme, sah nicht, als sie zu ihm kam.
Sarah Foley saß am Tisch, das Messer in der Hand über einem Kuchen; die Mädchen links und rechts von ihr wirkten weitaus begeisterter als sie. In der oberen rechten Ecke des Fotos war gerade noch Mark zu sehen. Seine Finger krallten sich um die Türkante, als wolle er sie aufreißen und hinausstürmen oder sich auf die Kamera und denjenigen stürzen, der sie hielt.
Ihr Gesicht war schmaler, seines womöglich etwas voller. Die Augen waren größer und die Haut glatter, was verständlich war. Es waren die Gesichter von Kindern, in denen das Leben noch keine Spuren hinterlassen hatte. Aber ihr Gesichtsausdruck war Holland vertraut.
Die Fotos vor ihm zeigten Menschen, die er kannte.