Neuntes Kapitel

Dieser unerträgliche Abgrund zwischen der Ankunft und dem Zeitpunkt, wenn es wirklich losgeht …

Die Frischhaltefolie von den Büfettplatten, hieß es, würde wirklich gleich entfernt werden. Und der DJ wäre bestimmt in Kürze fertig mit dem Aufbau seiner Anlage. Bis dahin wären hundertfünfzig Pfund an der Bar hinterlegt, jeder könne sich also ein paar Gläser hinter die Binde kippen und auf Braut und Bräutigam anstoßen und sich so die Wartezeit verkürzen. Man könne sich miteinander bekannt machen …

Tragischerweise waren zu wenig Leute in der Rugby Club Bar, damit die Sache in Fahrt kam. Thorne fehlte die nötige Geräuschkulisse, um abzutauchen. Er holte seinem Dad ein Pils und für sich ein Guinness und verzog sich in die nächste Ecke. Dort saß er nun, trank sein Bier und versuchte, die rechte Begeisterung aufzubringen für kalten Nudelsalat, Schweinefleischpastete und Scotch Eggs, diese hart gekochten Eier, die mit Schinken umhüllt, paniert und anschließend überbacken wurden. Prostete jedem zu, dessen Blick er auffing, und gab sich Mühe, nicht zu gelangweilt oder unglücklich oder gar zu aufmunterungsbedürftig zu wirken. Erzählte ein paar halbwüchsigen Jungs Witze, die laut wieherten und ihr Radler tranken. Und jeder Frau, die es hören wollte, dass er ein Gedächtnis habe wie ein Goldfisch, weil er an dieser Krankheit mit dem komischen Namen leide. Dieser falle ihm gerade nicht ein, wie hieß die gleich wieder? Entschuldigte sich augenzwinkernd bei ihnen, falls er mit ihnen geschlafen habe und sich nicht daran erinnern könne.

Thorne freute sich, dass sein Dad gut drauf war. Sich scheinbar wohl fühlte. Eine große Erleichterung nach dem Anruf vor vierundzwanzig Stunden, mit dem sich der Abend mit Eve Bloom erledigt hatte …

 

Der große, unbehandelte Fichtentisch in der Küche war für vier Personen gedeckt. Thorne hatte noch keinen der anderen Gäste gesehen. Eve wandte sich vom Herd um.

»Nur falls du dich wunderst, sie sind in ihrem Zimmer.« Sie flüsterte laut, als befände sie sich auf einer Bühne. »Denise und Ben. Ich glaub, sie zanken sich …«

Thorne füllte zwei Gläser mit Wein. Er flüsterte zurück. »Aha. Ist es schlimm? Soll ich zwei Gedecke wegräumen …?«

Eve trat an den Tisch und griff nach ihrem Glas. »Nein, auf keinen Fall. Ben würde sich doch wegen eines Streits nicht das Abendessen verderben lassen. Cheers.« Sie nippte an ihrem Wein und nahm das Glas mit zum Ceranherd, auf dem mehrere große Kupferpfannen standen. Mit einer Kopfbewegung deutete sie zur Tür, als Schritte und Stimmen in der Wohnung laut wurden. »Die beiden mögen es, wenn die Fetzen fliegen. Die kloppen sich gern, aber normalerweise ist es so schnell vorbei, wie es gekommen ist …«

Thorne versuchte beiläufig zu klingen. »Sie kloppen sich?«

»So mein ich es nicht. Nur verbal. Sie brüllen, und manchmal fliegt was gegen die Wand, aber nie etwas, was kaputtgehen könnte …«

Thorne sah zu ihr hinüber. Sie war wieder am Herd beschäftigt und stand mit dem Rücken zu ihm. Er starrte auf ihren Nacken. Auf ihre Schulterblätter, die sich braun abhoben gegen das cremefarbene Leinentop.

»Ich fress alles in mich rein«, sagte sie.

»Werd darauf achten.«

»Keine Sorge, das merkst du schon, wenn es so weit ist …«

Thorne sah sich in der Küche um. Zwei gerahmte Schwarzweißposter von Filmen. Ein Chromkessel, ein Toaster und ein Mixer. Ein großer, teuer aussehender Kühlschrank. Der Laden schien gut zu laufen, auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, was Eve gehörte und was ihrer Mitbewohnerin. Die vielen Kräuter in den Terrakottatöpfen gingen vermutlich auf Eves Konto. Und die lateinischen Namensschilder – wahrscheinlich von Blumen – auf der riesigen, fast eine ganze Wand einnehmenden Tafel wohl ebenso. Angenehm überrascht war er, als er in der linken unteren Ecke seinen Namen und seine Handynummer las.

»Weshalb haben sie sich denn in den Haaren, deine Freunde? Nichts Ernstes …?«

Sie wandte sich um und leckte sich die Finger ab. »Keith. Erinnerst du dich an ihn? Der Typ, der mir samstags aushilft. Er war hier, als Ben kam. Ben vermutet, dass er auf Denise steht, und Denise sagte ihm, er solle kein solcher Idiot sein … »

Thorne erinnerte sich an den Blick, mit dem Keith ihn bedacht hatte, als er sich in dem Laden mit Eve unterhielt. Vielleicht war es nicht nur Denise, auf die er stand …

»Was denkst du?«, fragte er. »Über Keith und Denise …«

Eine Tür quietschte und wurde zugeschlagen, und einen Augenblick später wurde die Küchentür von einer schlanken, blonden Frau aufgestoßen. Sie war barfuß und trug weite Camouflageshorts und eine ärmellose schwarze Herrenweste. Sie trat von hinten zu Eve und rief: »Das riecht super!«

Dann drehte sie sich zu Thorne um. Ihre Haare waren einen Tick kürzer und heller als die von Eve. Obwohl sie schlank wirkte, betonte die ärmellose Weste ihre durchtrainierten Arme und Schultern. Ein breites Lächeln zeigte sich auf ihrem fein geschnittenen Gesicht.

»Hallo, du bist sicher Tom. Ich bin Denise.« Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und ließ sich auf den Stuhl gegenüber fallen. »Ist Tom in Ordnung? Oder Thomas?« Sie schnappte sich die Weinflasche und schenkte sich sehr großzügig ein.

»Tom passt …«

Sie beugte sich über den Tisch und plapperte drauflos, als würden sie sich schon ewig kennen. »Eve hat gar nicht mehr aufgehört, von dir zu reden. Ich konnte es schon nicht mehr hören.« Ihre Stimme war überraschend tief und etwas theatralisch. Thorne wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Stattdessen trank er noch einen Schluck Wein. »Fließt richtig über. Vermutlich kehrt sie uns im Augenblick nur deshalb am Herd den Rücken zu, weil sie knallrot angelaufen ist …«

»Halt die Klappe«, sagte Eve lachend, ohne sich umzudrehen.

Denise nahm einen großen Schluck und grinste Thorne erneut an. »In Fleisch und Blut«, sagte sie. »Ein Mann, der Mörder fängt.«

Thorne konnte nach dem Vormittag in Soho etwas Entspannung gebrauchen. Allmählich fing er an, den Abend zu genießen. Diese Frau war zweifellos total verrückt, aber nichtsdestotrotz sehr sympathisch.

»Im Augenblick bin ich ein Mann, der sie nicht fängt …«

»Wir brauchen alle mal eine Pause, Tom. Morgen fängst du wahrscheinlich eine ganze Wagenladung.«

»Einer würde mir reichen …«

»Genau, ein richtig dicker Fisch.« Sie hob ihr Glas, als wolle sie ihm zuprosten.

Thorne lehnte sich zurück und sah hinüber zu Eve. Als hätte sie seinen Blick gespürt, drehte sie sich um und lächelte.

Thorne wandte sich wieder Denise zu. »Was ist mit dir? Was machst du so?« Er betrachtete den winzigen, glitzernden Stecker in ihrer Nase und dachte: Schauspielerin, Autorin, Performancekünstlerin …

Sie verdrehte die Augen. »Gott, IT. Tut mir Leid, stinklangweilig, fürchte ich.«

»Na ja …«

»Mach dir nichts draus. Ich seh schon, wie du wegdämmerst. Verdammt, was glaubst du, wie ich mich dabei fühle? Den ganzen Tag diese pickligen Herr-der-Ringe-Leser, denen ich ständig was aus dem Netz herunterholen soll …«

Hinten am Herd lachte Eve. Thorne wusste sofort, dass sie das Gleiche dachte wie er. »Wo ich arbeite, bedeutet herunterholen etwas ganz anderes …«

Als Ben, zumindest nahm Thorne an, dass es Ben war, in die Küche schlenderte, war Denise die Erste, die aufhörte zu lachen. Er ging zum Herd, wo Eve stand und kochte, und begann, an einem Fingernagel zu kauen. Mit einer Kinnbewegung deutete er auf Thorne. »Hi …«

Thorne nickte zurück. »Hi. Du bist wohl Ben?«

Der Wein gluckerte in ihr Glas, und Denise meinte spitz: »Oh ja, das ist Ben.« Ben wirkte nicht gerade glücklich über das entsetzlich aufgesetzte Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, als sie seinen Namen ausspuckte.

Eve warf mit einem Geschirrtuch nach ihr. »Jetzt hört auf, ihr zwei.« Sie beugte sich vor und küsste Ben auf die Wange. »Das hier ist in fünf Minuten fertig …«

Ben ging rüber zum Kühlschrank und holte sich eine Dose Lager. An Thorne gewandt, hob er sie hoch. »Auch eins?«

Thorne hob sein Weinglas. »Nein, danke …«

Ben schlüpfte hinter seiner Freundin vorbei und setzte sich neben Thorne. Er war groß, gut gebaut, blond gelockt, hatte einen rötlich braunen Spitzbart und gepflegte, spitz zulaufende Koteletten. Obwohl er bereits über dreißig und damit eindeutig fünfzehn Jahre zu alt dafür war, steckte er in einer Skateboarderkluft. Er streckte die Hand aus und stellte sich vor. »Ben Jameson …«

Thorne tat es ihm nach, wobei er sich plötzlich etwas merkwürdig fühlte, leicht overdressed mit seinen Chinos und seinem schwarzen Polohemd von Marks &. Spencer …

»Ich bin am Verhungern«, erklärte Ben.

Eve trug vier Platten zum Tisch. »Hier kommt Abhilfe …«

Eine halbe Minute lang waren nur Tellerklappern und Gläserklirren zu hören sowie Stühlescharren, als das Essen serviert wurde.

»Das sieht großartig aus«, sagte Thorne.

Zustimmendes Nicken von Denise und Grummeln von Ben, ein Lächeln von Eve und anschließend Schweigen. Thorne wandte sich nach rechts. »Bist du auch in der Computerbranche, Ben?«

»Wie bitte?«

»Ich dachte, ihr beide hättet euch vielleicht in der Arbeit kennen gelernt …«

»Um Gottes willen, nein. Ich mache Filme.«

»Aha. Hab ich schon was gesehen?«

»Nur wenn du dir gerne Ausbildungsvideos reinziehst«, sagte Denise.

Thorne spürte, wie unter dem Tisch etwas gegen seinen Fuß drückte. Er erwiderte den Druck in der Hoffnung, es könnte Eves Fuß sein. Sie sah ihn an …

»Genau, das mach ich momentan«, sagte Ben. Er trommelte mit seiner Gabel gegen den Tellerrand. »Aber ich hab da noch eine Menge am Laufen.«

Denise legte die Hand auf Bens Hand, die Gabel hörte auf zu schlagen. Ihr Ton klang extrem herablassend. »Aber klar doch, mein Schatz …«

Ben schob seine Nudeln auf dem Teller herum. Ohne aufzublicken, entgegnete er: »Und was gibt’s bei dir Neues, Den? Irgendwelche spannenden Systemabstürze? Interessante neue Computerviren …?«

Thorne nahm den ersten Bissen. Er fing Eves Blick auf. Sie lächelte und zuckte leicht mit den Schultern. Er schaute hinüber zu Denise und Ben, die überallhin sahen, solange sie sich nicht gegenseitig ansehen mussten. Der Streit war vielleicht offiziell beigelegt, aber offenkundig waren sie noch immer darauf aus, dem anderen eins reinzuwürgen.

»Also gut.« Eve verschränkte die Arme. »Wenn ihr beiden euch nicht sofort küsst und versöhnt, könnt ihr euch auf der Stelle verziehen und euch eine Pizza holen. Kapiert?«

Denise und Ben sahen zu Eve, die sich die größte Mühe gab, ernst dreinzublicken. Die miese Stimmung zwischen dem Pärchen schien angesichts ihrer gespielten Verärgerung dahinzuschmelzen. Die beiden schüttelten rasch den Kopf, umarmten sich und erklärten, es täte ihnen Leid. Thorne sah zu, wie sich die drei die Hand gaben – sich beieinander entschuldigten, ohne dass es für ihn oder sie peinlich wurde. Die Dynamik zwischen diesen dreien machte Thorne sprachlos, die Wärme und die Stärke ihrer Beziehung. Sie waren offensichtlich dicke Freunde.

Er lächelte und winkte ab, als sie sich bei ihm entschuldigten. Beeindruckt und eifersüchtig …

Als sein Mobiltelefon läutete, beugte sich Denise aufgeregt vor. Sie schien wirklich aufgeregt. »Das könnte der erste von diesen Mördern sein, Tom …«

Toms Magen verkrampfte sich, als er den Namen auf dem Display sah. Eine Sekunde lang überlegte er, ob er nicht die Küche verlassen sollte, um den Anruf entgegenzunehmen, so tun sollte, als handle es sich um etwas Berufliches. Er fand, das wäre überzogen, nuschelte: »Tut mir Leid«, und meldete sich.

»Das ist schlimm, Tom. Sehr schlimm. Ich hab versucht, die Sachen für morgen zusammenzusuchen. Alles für die Reise vorzubereiten. Die Sachen aufs Bett zu legen und auszusuchen. Aber ich hab da ein Problem mit diesem blauen Anzug …«

Thorne hörte zu, wie sein Vater in Windeseile von der anfänglichen Panik zu kompletter Hysterie wechselte. Bis er nur noch schluchzte. Thorne schob seinen Stuhl zurück, blickte zu Boden und verließ den Tisch.

»Dad, hör zu. Ich bin morgen früh bei dir, so früh wie möglich. Wie ich es dir versprochen hab.« Er ging zum Küchenfenster, schaute hinaus auf den London Fields Park. Das Licht oben auf der Canary Wharf blinkte ihm zu, als er dastand und sich fragte, ob Eve und die anderen wohl das Weinen hörten, und darüber nachdachte, was er tun sollte.

Eve stand auf und ging zu ihm hinüber. Sie legte ihm die Hand auf den Arm.

»Ist gut, Dad«, sagte Thorne. »Ich fahr jetzt erst nach Hause, in Ordnung? Um meine Sachen und den Mietwagen zu holen. Beruhig dich, okay? Ich bin so schnell wie möglich bei dir …«

 

Die miese Kuh an der Rezeption musterte Welch, als befürchte sie, er habe vor, etwas mitgehen zu lassen. Als sei er ein Stück Scheiße, das einer dieser Geschäftsleute an der Bar an seinem Schuh hereingeschleppt hatte. Dabei war es wirklich nicht das verdammte Ritz …

»Ich hab vor ein paar Tagen angerufen, um ein Zimmer zu reservieren«, sagte Welch.

Die Kuh stierte in ihren Computer und pflanzte sich ein Lächeln ins Gesicht, das zugleich aufgesetzt und abweisend wirkte. »Ah ja«, sagte sie. »Nur eine Übernachtung, richtig?«

Am liebsten hätte Welch ihr eine gescheuert. Kurz überlegte er, ob er den Geschäftsführer verlangen und sich beschweren und das Minimum an Service und Scheißhöflichkeit einfordern sollte, auf das er Anspruch hatte. »Ja, eine Übernachtung. Frühstück ist dabei, oder?«

Das Mädchen blickte nicht auf. »Ja, Sir, Frühstück ist im Preis inbegriffen.«

Welch schoss durch den Kopf, was wohl passieren würde, wenn sie morgens zu zweit zum Frühstück erschienen. Er wusste nicht, ob sie zum Frühstück bleiben wollte. Er überlegte, ob er fragen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen.

»Nur eine Sekunde, Sir …«

Während die Rezeptionistin die Tastatur bearbeitete, ließ Welch den Blick durch die Lobby schweifen. Die Pflanzen waren aus Plastik. Der graue Teppich sah aus, als müsse man fürchten, bei einem Sturz gehäutet zu werden. Neben der Rezeption stand eine Tafel mit der Aufschrift: Das Greenwood Hotel in Slough begrüßt Thompson Mouldings Ltd …

»Das wär’s, Sir. Wenn Sie das bitte ausfüllen würden.« Sie schob ihm ein Formular über den Tisch. Er musste ein paar Sekunden überlegen, bis ihm die Adresse des Männerwohnheims einfiel. »Ich bräuchte kurz eine Kreditkarte. Sie wird nicht belastet, aber …«

»Nicht nötig. Ich zahle bar.« Er unterschrieb das Formular und zog ein Bündel Zehnpfundnoten aus seiner Jackentasche.

»Kein Problem, Sir …«

Welch hatte eine Karte, mit der er hätte zahlen können. Aber er wollte, dass sie sein Geld sah. Er zog den Gummi herunter und zählte es ihr vor. Das Männerwohnheim war absolut grauenhaft, aber wenn man ohne feste Bleibe entlassen wurde, hatte es seine Vorteile. Man bekam zur Entlassung doppelt so viel ausbezahlt wie die anderen.

»Sie müssen nicht im Voraus zahlen, Sir. Die Rechnung muss erst beglichen werden, wenn sie unser Haus verlassen.« Sie legte eine Schlüsselkarte auf die Geldscheine und schob ihm den ganzen Stapel zu. »Zimmer 313. Dritter Stock.«

Er packte sein Geld und versuchte, nicht laut loszubrüllen. »Das ist mir verdammt noch mal klar. Ich weiß, wie das geht, okay?«

Das Mädchen hinter der Rezeption wurde rot und wandte sich ab.

Welch griff nach dem Plastikbeutel, der eine Zahnbürste, Kondome, saubere Unterwäsche und Socken für morgen enthielt. Er überlegte, ob er sich zu den Typen von Thompson Mouldings in der Bar gesellen und einen kippen sollte. Nein, es war besser, direkt aufs Zimmer zu gehen, sich vielleicht zu duschen und jede Sekunde zu genießen …

Ein breites Grinsen auf dem Gesicht, marschierte er zum Lift.

 

Thorne wusste, solche Dinge passierten nur auf Familienhochzeiten. Woanders war das unmöglich: Eine alte Frau, siebzig, wenn nicht älter, tanzte in einer Ecke ungelenk mit einem kleinen Jungen; zwei Frauen in den Vierzigern brüllten sich über einen Tisch hinweg an, schrien so laut, dass ihre Kommentare über das Essen/die Kleidung/den Service über Madonna/Oasis/George Michael hinweg zu verstehen waren; kleine Kinder schlitterten auf den Knien über die Tanzfläche, während noch kleinere kreischten oder um sich schlugen, um trotz der lauten Musik wach zu bleiben.

Ein Teil für immer verbunden durch Blutsbande, die anderen nur für ein, zwei Stunden. Musterten und taxierten einander, bis sie den Blicken nicht mehr standhielten. Von einem Fick oder einem Streit nur ein Bier oder einen Blick entfernt.

Zwanzig Minuten waren vergessen, seit das glückliche Paar sich zum ersten Tanz zu »Lady in Red« auf die Tanzfläche begeben hatte, und Thorne saß noch immer wie festgenagelt auf seinem Platz in der Ecke. Von hier aus konnte er das Geschehen im Hauptsaal überblicken und ein Auge auf seinen alten Herrn haben.

Ein Blick hinüber – sein Vater saß nicht mehr an der Bar. Thorne stand auf und bestellte sich noch ein Guinness. Während er wartete, bis es gezapft wurde, spazierte er durch den Hauptsaal.

Er kam an Leuten vorbei, die er nicht gut oder überhaupt nicht kannte. Ihre Gesichter waren bunt beleuchtet von der jämmerlichen Lichtorgel des DJs – erst rot, dann grün, dann blau. Am gegenüberliegenden Ende des Saals blickte Thorne nach rechts und sah durch den Bogen, der in einen kleineren Saal führte, seinen Vater, wie dieser sich grummelnd am Büfett Essen auf einen Pappteller häufte, das er nie und nimmer essen würde.

»Mach halblang, Dad. Wie viele Hühnchenschenkel kann ein Mensch essen?«

»Kümmer dich um deinen eigenen Kram …«

»Das ist zu viel … Du musst die Hand drunterschieben …«

»Scheiße …«

Der mickrige Pappteller war unter der Last umgeknickt.

Die Matratze hatte unter dem Gewicht des Toten nachgegeben.

Plötzlich war Thorne wütend auf seinen Vater. Wütend, weil er das Kindermädchen spielen musste. Und noch wütender in Anbetracht der Tatsache, dass, wenn er denn zu Hause sein könnte, auch nur tote Hose wäre. Sämtliche Spuren kalt, neue Hinweise Fehlanzeige. Er wurde nicht gebraucht.

Er bückte sich, um das verschüttete Essen aufzuheben, überlegte es sich jedoch anders und schob es mit dem Fuß unter den Tisch.

 

Das Zimmer war megariesig. Vielleicht kam es ihm auch nur so vor. Ihm war klar, sein Raumgefühl war noch nicht zurück. Mann, in Ruhe scheißen zu können …

Welch musste sich zusammenreißen, um nicht sofort ins Bad zu rennen und sich einen runterzuholen. Genau das hatte er getan, als Jane sich bei ihm im Männerwohnheim meldete. Eines ihrer Fotos gepackt und losgelegt. Er hatte kaum fassen können, was sie vorschlug.

Er war von den Socken gewesen. Wie hatte sie herausgefunden, wo er steckte? Nicht dass er sich darum scherte, er war absolut begeistert. Dass er noch mal von ihr hören würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte angenommen, sie sei eine dieser blöden Tussis, die drauf standen, Knastis wie ihm zu schreiben, solange sie im Gefängnis saßen, aber rannten, was das Zeug hielt, sobald sie rauskamen. Dessen war er sich so sicher gewesen, dass er die Briefe weggeworfen hatte, die sie ihm ins Gefängnis geschickt hatte. Die Fotos hatte er behalten, logisch. Die würde er niemals hergeben …

So lange Zeit hatte er damit verbracht, sich auszumalen, wie sie wohl ohne diese Kapuze aussähe, oder wenn sie ihr Gesicht aus dem Schatten nähme. Und jetzt, wo er kurz davor stand, sie zu sehen, war es ihm egal. Das war die Wahrheit. Er wusste, wie ihr Körper aussah, dass sie ihn ihm hingeben würde, ihm erlauben würde, ihn zu besitzen. Und das war alles, was er wollte.

Welch atmete langsam und tief aus. Sah auf die Uhr. Er streichelte sich selbst durch die Hose, bezweifelte, ob er sich noch länger zurückhalten konnte, wenn sie nicht bald einen Zahn zulegte …

Es klopfte an der Tür. Dreimal. Sanft.

 

Auf dem Weg zurück zur Bar war Thorne, nachdem er seinen Vater in Sicherheit gebracht hatte, von seiner Tante Eileen zur Seite gezogen worden, die sich erkundigte, ob er sich auch amüsiere und ob er etwas dagegen hätte, kurz mit einem ihrer Neffen zu reden, der mit dem Gedanken spiele, zur Polizei zu gehen. Thorne dachte, dass er es vorziehen würde, eine Leiche zu waschen, und sagte, ja, natürlich hätte er nichts dagegen, wobei er, als er sich seinen Weg zurück zur Bar bahnte, inständig darauf hoffte, sein Bier möge noch auf ihn warten …

Er nahm einen großen Schluck und leerte sein Glas um ein Drittel. Während ihm das Bier die Kehle hinunter rann, beobachtete er, wie gegenüber an der Bar schneidende Blicke gewechselt wurden. Irgendein Cousin und ein Freund der Braut schienen es aufeinander abgesehen zu haben. Thorne beschloss, keinen Finger krumm zu machen, selbst wenn sie sich die Scheiße aus dem Leib prügelten.

Ihm dämmerte, dass er mit der Annahme falsch lag, so was gäbe es nur bei Hochzeitsfeiern im Familienkreis. Auf Trauerfeiern im Familienkreise konnte man das gewiss ebenso erleben. Das Schlüsselwort war Familie. Dabei galt es, das Wort mit einem metaphorischen Fingerzeig auszusprechen, als sei man ein Darsteller aus EastEnders oder eine dieser lokalen Fernsehberühmtheiten, die ihren Sprachfehler für einen Akzent hielten.

Thorne sah hinüber. Wahrscheinlich würde der Ärger erst später richtig losgehen. Vielleicht draußen auf dem Parkplatz.

Es war bei solchen Feiern, dachte er, bei Geburten, Hochzeiten und Todesfällen, dass die Unterströmungen an die Oberfläche stiegen und instabil wurden. Sich in Strudel von Bier und Bacardi ergossen. In Sentimentalität, Aggression, Neid, Argwohn und Gier.

Derlei war reserviert für unsere Nächsten, wurde vor Fremden verborgen, selbst wenn der Großteil unserer Familie aus genau solchen bestand.

Ein junger Kerl um die sechzehn, siebzehn kam auf Thorne zu. Wohl der Neffe, der beruflichen Rat suchte. Eigentlich war Thorne durchaus in der Stimmung, ihm diesen zu erteilen …

Er könnte mit etwas Statistik anfangen. Zum Beispiel wie viele Morde von mit dem Opfer nicht bekannten Tätern begangen wurden und wie wenige dies im Vergleich zu den Morden waren, bei denen Täter und Opfer verwandt waren. Er würde dem Jungen erzählen, dass er sich, was Familien betraf, über die in ihnen herrschenden Spannungen und die in ihrem Namen begangenen Taten niemals wundern sollte. Er würde dem dummen kleinen Streber erklären, dass Familien gefährlich waren.

Dass sie zu allem fähig waren.

 

Als der Typ durch die Tür kam, war Welch klar, dass er in Schwierigkeiten steckte.

Diesen Blick kannte Welch. Er hatte Jahre im Gefängnis damit verbracht, ihm aus dem Weg zu gehen. Das war der Blick, den er oft genug in dem Gesicht von gewöhnlichen, waschechten Mördern gesehen hatte. Dieser Blick voll kalter Verachtung, den Caldicott gesehen haben musste, bevor sie ihm unten in der Wäscherei das Gesicht grillten …

Welch dachte, er hätte sich vielleicht mehr zur Wehr setzen sollen, aber was hätte er schon tun können? Der Kerl war ihm körperlich weit überlegen. Die Jahre im Kittchen hatten ihn mental abgehärtet, aber körperlich hatte er abgebaut. Zu viel Zeit zum Lesen und viel zu wenig Zeit für Sport …

Die letzten Augenblicke seines Lebens beschäftigte Welch der Gedanke, dass Schmerz umso schrecklicher war, wenn man ihm wehrlos ausgeliefert war, nicht einmal dagegen protestieren konnte …

Der Schrei in seiner Kehle wurde erstickt – irgendetwas war um seinen Hals geworfen worden –, war nicht mehr als ein gepresstes Röcheln. Auch sein Körper war machtlos. Instinktiv entzog er sich den Qualen, doch durch jedes Zucken, mit dem er dem reißenden, stechenden Schmerz zu entkommen trachtete, zog sich die Schnur nur enger, die ihm die Luft abdrückte.

Welch presste den Kopf auf den Teppich, wobei die Schnur noch tiefer in seinen Hals schnitt, die Zähne sich noch tiefer in seine Zunge gruben. Er spannte sich an gegen die Hände, die seinen Nacken nach hinten zogen, verrenkte sich und verbrachte die letzten Sekunden vor seinem Tod in einer fötalen Haltung.

Ich sterbe wie ein Baby, dachte Welch, die Augen weit aufgerissen, und sah doch nichts in seiner Kapuze. Bis sich schließlich eine sanftere Schwärze über ihn senkte …

 

Thorne hatte soeben seinen Vater ins Bett gebracht und ging über den Gang in sein eigenes Zimmer, als das Handy läutete. Er ließ es läuten, bis er im Zimmer war.

»Du bist noch spät auf …«

»Super, oder?«, erwiderte Eve. »Morgen ist ein Lie-in angesagt. Und wie war die Hochzeit?«

»Perfekt. Langweilige Ansprachen, beschissenes Essen und eine Rauferei.«

»Und wie war die Hochzeit selbst …?«

»Ach die? Ja, die ging schon …«

Sie lachte. Thorne saß auf dem Bett, das Telefon zwischen Schulter und Kinn geklemmt, und fing an, die Schuhe auszuziehen. »Hör mal, das mit gestern Abend tut mir wirklich Leid …«

»Sei nicht albern. Was macht dein Dad?«

»Er nervt. Nicht, dass er früher nicht genervt hätte …« Thorne glaubte, den Verkehrslärm am anderen Ende der Leitung hören zu können. Wahrscheinlich war Eve unterwegs. Besser, er fragte sie nicht danach. »Also im Ernst, es tut mir Leid, dass ich einfach so verschwunden bin. Habt ihr alles aufgegessen?«

»Mach dir keine Sorgen, das wird schon noch gegessen …«

»Tut mir Leid …«

»Lass nur, so oder so wären Berge davon übrig geblieben. Ich habe Unmengen gekocht, und Denise mampft das schon weg. Also lass dir deshalb keine grauen Haare wachsen.«

Thorne begann, sein Hemd aufzuknöpfen. »Sag ihr und Ben einen schönen Gruß von mir und vielen Dank für die nette Einlage …«

»War doch gut, oder? Ich denke, ich hab’s zu früh beendet. Noch eine Minute, und es wär vielleicht ein Glas geflogen …«

»Das nächste Mal.«

Sie gähnte laut. »Oh, entschuldige …«

»Ich lass dich jetzt schlafen«, sagte er. Und stellte sich vor, wie sie in einem Taxi saß, das gerade vor ihrer Wohnung hielt.

»Schlaf gut, Tom.«

Thorne legte sich aufs Bett. »Hör mal, erinnerst du dich an die Skala von eins bis zehn? Kann ich auf die Acht vorrücken …?«

Acht Stunden später läutete Thornes Handy erneut. Das dringliche Piepsen riss ihn aus den Tiefen seines Schlafs. Aus einem Traum, in dem er einen Mann vor dem Verbluten zu retten versuchte. Jedes Mal, wenn er den Finger über ein Loch legte, tauchte ein neues auf – als bemühe sich Chaplin, ein Leck zu dichten. Gerade als er sämtliche Wunden abgedeckt zu haben schien, begann das Blut aus einer Unzahl von Löchern in seinem Körper zu spritzen …

»Besser, Sie kommen zurück, Sir«, sagte Holland.

»Was gibt’s …«

»Der Mörder hat wieder einen Kranz bestellt.«