Sechstes Kapitel
Ab Kentish Town fuhr Thorne querfeldein, nahm jede Abkürzung durch Seitenstraßen, die er kannte, bis er Highbury Corner erreichte. Ab da fuhr er über die Balls Pond Road nach Hackney.
Ein rascher Blick auf seinen Stadtplan. Die Floristin wohnte irgendwo hinter der Mare Street, einen Steinwurf entfernt von London Fields. Diese Parklandschaft stach heraus aus einer der deprimierendsten Londoner Gegenden. Früher das Terrain der Schafherden und Straßenräuber. Heute das der jungen Senkrechtstarter, die Videos machten oder in der Werbung arbeiteten, die auf Bänken herumsaßen und ihren Latte Macchiato schlürften. Oder ihre Whippets ausführten, bemüht, möglichst hip zu wirken.
Thorne fuhr durch Straßen, in denen es von Samstagmorgeneinkäufern nur so wimmelte, von Leuten, die sich lauthals begrüßten, von Marktschreiern, die ihre Waren anpriesen. Und alle paar hundert Meter erkannte Thorne an einem Gesichtsausdruck oder einem Handgriff in eine Tasche, dass hier noch ein ganz anderes Geschäft abgewickelt wurde.
Hier und in einem Dutzend anderer Bezirke war die Straßenkriminalität außer Kontrolle. Das Klauen von Handys war praktisch zu einer Art sozialer Interaktion geworden, und wer mit einem Walkman durch die Gegend lief, gab sich als Tourist zu erkennen, der unfähig war, die Straßenkarte zu lesen.
Heute traten die Straßenräuber als Gangs auf.
Daher konzentrierten sich die da oben in ihrer unendlichen Weisheit und ihrem Verlangen nach guter Presse auf Gegenden wie Hackney, überlegten, wie sie an die Jugend rankämen. Thorne hatte einen Bericht über einen solchen Pilotversuch gelesen, bei dem ein paar ernsthafte junge Polizisten ihre blaue Uniform gegen Kapuzenpullover eingetauscht und sich an die Kids im Kommunikationszentrum rangemacht hatten. Einer hatte ein dreizehnjähriges Bandenmitglied gefragt, ob es sich vorstellen könne, wie sich Ärger mit der Polizei vermeiden ließe.
Der Kleine hatte ohne jede Spur von Ironie geantwortet: »Einfach ’ne Sturmmütze aufsetzen.«
Es war ein kleines Geschäft, eingezwängt zwischen einer Taxizentrale und einem Schlüsseldienst. Die Ladenfront war auf angenehme Weise altmodisch, die Schaufensterauslage minimalistisch. Der Name in schnörkeligem Efeudesign auf einen einfachen beigen Hintergrund gemalt.
BLOOMS.
Das Ladeninnere wurde durch Kerzen erhellt. Leise klassische Musik war zu hören. Im Laden befand sich keine einzige Blume, die Thorne beim Namen hätte nennen können …
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Ein Mann um die dreißig stand, ein Taschenbuch in der Hand, hinter einer kleinen Holztheke.
Thorne näherte sich ihm lächelnd. »Kauft denn niemand mehr Narzissen? Rosen? Chrysanthemen …?«
Durch eine Tür hinten im Laden trat eine Frau mit einer Unmenge Blumen. Sie schien Mitte dreißig zu sein. Sie hatte kaum angefangen zu reden, als Thorne die Stimme erkannte – fröhlich, selbstsicher, amüsiert. Offensichtlich hatte Eve Bloom ihn ebenfalls erkannt.
»Diesen exotischen Kram können wir jederzeit besorgen, wenn Sie das möchten, Mr. Thorne, aber das wird sehr, sehr teuer …«
Er lachte und musterte sie kurz. Obwohl sie nicht aufhörte, an den Stängeln der Blumen herumzufuhrwerken, die sie trug, wusste er, dass sie ihn ebenfalls musterte.
Sie war nicht groß, etwa einen Meter sechzig, hatte blonde Haare, die sie mit einem hölzernen Clip zusammenhielt. Sie trug eine braune Schürze über Jeans und Pulli. Ihr Gesicht war von Sommersprossen übersät, und als sie lächelte, wurde eine Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen sichtbar.
Thorne war sofort hin und weg.
Der Typ hinter der Theke hatte sich einen Notizblock geholt. »Soll ich eine Bestellung aufnehmen, Eve? Die Rosen und den Rest?«
Sie stellte das Blumenarrangement ab, zog sich die Schürze über den Kopf und lächelte. »Nein, ich glaube, das ist nicht nötig, Keith.« Sie wandte sich Thorne zu. »Ich dachte, wir könnten in dieses wunderbare kleine Café um die Ecke gehen. Die haben Gebäck – zum Reinlegen! Was meinen Sie? Wir könnten so tun, als wären wir in Devon oder so …«
Während sie zu dem Café bummelten, hörte sie praktisch nicht auf zu reden. »Keith hilft mir am Samstagvormittag aus. Er hat einen grünen Daumen, und die Kunden mögen ihn. Die übrige Woche schmeiß ich den Laden allein, aber am Samstag fällt auch noch der Großteil der Hochzeitsarrangements an, der Papierkram muss erledigt werden, die Buchhaltung und der ganze Krempel. Na ja, wie auch immer. Heute soll Keith mal eine Stunde lang ein Auge drauf haben, während wir uns den Bauch voll schlagen. Er ist kein Genie, das nicht, aber er schuftet wie verrückt für … so gut wie nichts, wenn ich ehrlich bin.«
»Was macht Keith den Rest der Zeit?«, fragte Thorne. »Wenn Sie ihn nicht ausbeuten.«
Eve schmunzelte und zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, um ehrlich zu sein. Ich glaube, er kümmert sich viel um seine Mutter. Vielleicht hat sie ja Geld. Zumindest scheint er nie knapp bei Kasse zu sein. Wegen der paar Piepen, die ich ihm zahlen kann, arbeitet er auf jeden Fall nicht bei mir. Mein Gott, ich bin ganz versessen auf eine Tasse Tee …«
Das Café war unfassbar kitschig, karierte Tischdecken, Art-déco-Geschirr, und wo man hinblickte, auf Regalen und Fensterbrettern, Bakelit-Radios. Der Sahnetee für zwei wurde sofort serviert. Eve wählte Earl Grey für sich und handgerollten Monkey Tea für Thorne. Sie strich sich Marmelade und Clotted Cream auf ihren Scone und grinste über den Tisch.
»Hören Sie, wenn ich esse, haben Sie eine reelle Chance, auch ein Wort anzubringen. Die sollten Sie nutzen. Ich weiß, dass ich viel zu viel quatsche …«
»Der Mann, der diese Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter hinterließ, hat der noch einmal Kontakt zu Ihnen aufgenommen?« Sie sah ihn verwirrt an. »Reine Sicherheitsfrage, um die Spesenrechnung zu rechtfertigen. War schließlich Ihre Idee«, erklärte Thorne. »Etwas weit hergeholt, aber man weiß ja nie.«
Sie räusperte sich. »Nein, Detective Inspector, ich habe von dem Mann nichts mehr gehört.«
»Danke. Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns, ja? Und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass es uns lieber wäre, wenn Sie nicht außer Landes reisten …«
Sie lachte und schob sich das letzte Stück Scone in den Mund. Als sie es verspeist hatte, sah sie ihn direkt an. Weil die Sonne, die durch das Panoramafenster fiel, sie blendete, hielt sie sich die Hand schützend über die Augen. »Daraus schließe ich, Sie haben den Kerl noch nicht gefasst?« Thorne, der noch aß, erwiderte den Blick. »Hat er jemanden umgebracht?«
Thorne schluckte. »Es tut mir Leid, aber ich darf eigentlich nicht …«
»Ich zähle nur eins und eins zusammen.« Sie lehnte sich zurück. »Ich weiß, dass es ein Mann sein muss, weil ich seine Stimme gehört habe. Und Sie erzählten mir, Sie seien bei der Serious Crime Group, woraus ich schließe, dass Sie nicht hinter dem Kerl her sind, weil er versäumt hat, seine Bücher in die Bücherei zurückzubringen.«
Thorne schenkte sich noch eine Tasse Tee ein. »Ja, er hat jemanden umgebracht. Nein, wir haben ihn noch nicht gefasst.«
Thorne schenkte ihr eine Tasse ein …
»Warum ich?«, fragte sie. »Warum hat er den Kranz ausgerechnet bei mir bestellt?«
»Er hat sich wohl irgendeinen Namen rausgesucht«, sagte Thorne. Sie hatten ein verknittertes Telefonbuch in dem Schrank neben dem Nachtkästchen gefunden. Es war über und über mit Fingerabdrücken bedeckt. Thorne hegte seine Zweifel, ob darunter auch die des Mörders waren. »Das hat er wahrscheinlich mit dem Zeigefinger entschieden.«
Sie zog eine Schnute. »Ich habe mir gleich gedacht, dass das mit dieser Anzeige ein Fehler ist …«
Obwohl sie doppelt so viel und zehnmal so schnell redete wie er, sprach Thorne in der folgenden Stunde so viel und so unangestrengt wie schon lange mit niemandem mehr. Schon gar nicht mit einer Frau …
»Wann ist die Hochzeit?«, fragte Eve, als ihre Teller weggeräumt wurden.
Thorne war verblüfft darüber, was sie in der kurzen Zeit alles abgedeckt hatten. »Heute in einer Woche. Gott, lieber würde ich mir Nadeln in die Augen stechen …«
»Können Sie Ihren Cousin nicht leiden?«
Thorne lächelte die Bedienung an, als sie ihnen die Rechnung auf den Tisch legte. »Ich kenn ihn kaum. Wahrscheinlich würde ich ihn nicht erkennen, wenn er hier reinkäme. Nur eine Familienfeier, verstehen Sie …«
»So ist es. Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Verwandten nicht.«
»Sind die Ihren so schlimm wie meine?«
Sie wischte ein paar Krümel vom Tisch in ihre Hand und ließ sie zu Boden fallen. »Ist er so alt wie Sie? Ihr Cousin?«
»Nein, Eileen ist ein gutes Stück jünger als mein Dad, und Trevor bekam sie ziemlich spät. Er ist erst Anfang dreißig, glaub ich …«
»Wie alt sind Sie?«
Thorne klappte seine Brieftasche auf und legte fünfzehn Pfund auf die Rechnung. »Zweiundvierzig. Dreiundvierzig in … Scheiße, zehn Tagen.«
Sie steckte sich eine Haarsträhne hoch, die sich gelöst hatte. »Ich werde jetzt nicht sagen, dass man Ihnen das nicht ansieht. Das klingt immer so verlogen. Aber wenn ich Sie so betrachte, finde ich, dass das dreiundvierzig ziemlich interessante Jahre gewesen sein müssen.«
Thorne nickte. »Ich möchte ja nicht meckern, aber … das mit dem verlogen klingen find ich nicht so schlimm.«
Sie lächelte und setzte eine Sonnenbrille mit kleinen Gläsern auf. »Also dann vierzig. Vielleicht noch Ende dreißig.«
Thorne stand auf und zog seine Lederjacke von der Stuhllehne. »Damit bin ich einverstanden …«
Später, im Laden, tauschten sie ihre Visitenkarten aus, schüttelten sich die Hand und blieben leicht verlegen in der Tür stehen. Thorne sah sich um. »Vielleicht sollte ich noch einen Blumentopf oder so was kaufen …«
Eve bückte sich und hob eine Art Miniaturmetalleimer auf. Eine kaktusähnliche Pflanze wuchs durch eine Schicht runder, weißer Kieselsteine. Sie drückte sie ihm in die Hand. »Gefällt sie Ihnen?«
Thorne war sich keineswegs sicher. »Was bin ich Ihnen schuldig?«
»Nichts. Es ist ein vorzeitiges Geburtstagsgeschenk.«
Er studierte es aus jedem Blickwinkel. »Gut. Danke …«
»Es ist eine Aloe-vera-Pflanze.«
Thorne nickte. Über ihre Schulter hinweg konnte er Keith hinter der Theke sehen, der sie nicht aus den Augen ließ. »Damit wären die Shampooprobleme gelöst …«
»Die Blätter enthalten ein Gel, das bei Schnittwunden und Kratzern ausgezeichnet hilft.«
Mit einem Blick auf die Blätter, die ziemlich fies aussahen, meinte Thorne: »Werde ich brauchen können.«
Sie traten hinaus vor den Laden, und die leichte Verlegenheit war wieder da. Thorne bemerkte neben dem Laden einen silbernen Roller – eine der neuesten Vespas im Retrolook. Er nickte in die Richtung. »Ihre?«
Sie schüttelte den Kopf. »Um Gottes willen, nein. Die gehört Keith.« Sie deutete auf die andere Straßenseite. »Das da drüben ist meiner …«
Thorne sah hinüber zu dem schmuddeligen weißen Kombi, hinter dem er seinen Mondeo abgestellt hatte. Darauf der Ladenname im gleichen schnörkeligen Efeudesign wie über der Ladentür. »Der Name passt ja«, sagte er.
Sie lachte. »Stimmt. Etwa wie ein Leichenbestatter, der De’Ath heißt. Was hätte ich sonst machen sollen? Bei Bloom sind mir nur Blumen eingefallen
Thorne hätte da noch andere Ideen gehabt, aber er schüttelte den Kopf, wollte den netten Nachmittag nicht verderben. »Nein, Sie haben Recht«, sagte er.
Und dachte …
Blutergüsse. Tumore. Blumen des Todes.
Zum vierten Mal in dieser Stunde beantwortete Welch dieselben blöden Fragen.
»Geburtsdatum?«
Als hätten die Polizisten die Liste einfach weitergereicht. Man könnte meinen, wenigstens einer würde mit etwas Interessanterem aufwarten …
»Mädchenname der Mutter?«
Aber nein. Stets dieselben alten Fangfragen, um mögliche Betrüger herauszufischen. An diesem Verfahren hatte sich seit vielen Jahren nichts verändert, doch in letzter Zeit ließen sie gar nichts mehr durchgehen. Zwei Pakis in einem Gefängnis oben im Norden hatten am Entlassungstag die Plätze getauscht, und die Blödmänner hatten den Falschen entlassen. Was einige dieser Aufsichtstypen die Pension kostete und dank der Buschtrommeln bei jedem Knacki im Land für den Brüller sorgte …
»Haben Sie irgendwelche Tattoos?«
»Kann ich das Publikum fragen?«
»Wenn Sie glauben, hier die Klugscheißernummer abziehen zu können, Welch, fangen wir einfach wieder von vorne an …«
Lächelnd beantwortete Welch die Fragen. Er hatte nicht vor, in dieser Spielphase noch einen Fehler zu machen. Jede Tür, durch die er jetzt ging, jeder erfolgreich beantwortete Fragebogen, jedes Häkchen auf einer Liste brachte ihn einen Schritt fort vom Zentrum dieses Ortes. Dieser letzten Tür einen Schritt näher.
Also beantwortete er die sinnlosen Fragen und setzte seine Unterschrift darunter. Wieder und wieder. Quittierte den Erhalt seiner Reiseerlaubnis und seiner Entlassungsbescheinigung. Erhielt seine Sachen zurück. Die abgewetzte Brieftasche, die Armbanduhr, den Ring aus gelbem Metall. Es hieß immer »gelbes Metall«. Nie »Gold«, für den Fall, die Arschgeigen verlieren es …
Dann noch eine Tür und noch ein Aufpasser, und der sagt nur noch »Goodbye«.
Welch geht auf das Tor zu, er geht langsam, genießt jeden Schritt. Es sind nur noch Sekunden bis zu dem Moment, wenn das schwere Tor hinter ihm zufällt, ihm die Hitze draußen entgegenschlägt.
Und er die Sonne leuchten sieht wie gelbes Metall.
Thorne und Hendricks machten sich öfter mit Bier und einem Takeaway-Curry einen netten Abend vor dem Fernseher. Neun Monate im Jahr gab es Fußballspiele, die man sich ansehen und über die man sich in die Haare kriegen konnte. Die neue Saison begann erst in sieben Wochen, daher würden sie sich heute Abend wohl einen Film ansehen. Oder sich einfach so lange reinziehen, was gerade lief, bis es ihnen nach ein paar Dosen egal war. Vielleicht hörten sie auch einfach nur Musik und quatschten.
Es war beinahe neun Uhr, und es hatte gerade erst angefangen zu dämmern. Sie liefen die Kentish Road hinunter, vom Restaurant nach Hause zu Thorne. Beide trugen Jeans und ein T-Shirt, allerdings waren Thornes Klamotten wesentlich unauffälliger. Hendricks trug eine mit Bierdosen voll gestopfte Plastiktüte, während Thorne für das Curry verantwortlich war. Das Bengal Lancer lieferte zwar, aber es war ein angenehmer Abend für einen kleinen Spaziergang. Außerdem lockte ein kühles Kingfisher, während sie auf ihre Bestellung warteten und sich die appetitanregenden Düfte aus der Küche in die Nase wehen ließen.
»Warum die Vergewaltigung?«, fragte Thorne unvermittelt.
Hendricks nickte. »Prima Zug. Erst mal das Geschäftliche erledigen – den Vergewaltigungs- und den Mordkram –, damit wir uns dann entspannt Casualty ansehen können …«
Thorne ignorierte den sarkastischen Ton. »Alles andere ist so gut geplant, so peinlich genau durchgeführt. Er geht nicht das geringste Risiko ein. Er zieht sogar das Bett ab, nachdem er Remfry auf dem Boden getötet hat. Nimmt alles mit, um sicherzugehen, dass nichts von ihm gefunden wird …«
»Was soll daran seltsam sein, wenn man nicht erwischt werden will?«
»Nein, das nicht. Aber diese ausgesprochene Vorsicht. Hat beinahe was von einem Ritual. Ob es nun vor oder nach dem Mord geschah, für mich passt die Vergewaltigung nicht dazu. Vielleicht packte es ihn plötzlich …«
»Das seh ich nicht so. Der Mörder ist nicht einfach durchgedreht und ohne nachzudenken über ihn hergefallen. Er wusste genau, was er tat. Er trug ein Kondom, also war er auf der Hut, hatte noch immer die Kontrolle …«
Vor dem Grapevine Pub stand eine Menschenmenge. Die Leute verteilten sich über den Bürgersteig, lachten, tranken und genossen das Wetter. Hendricks war gezwungen, hinter Thorne zurückzufallen, als sie auf die Straße traten, um die Menge zu umgehen.
»Du glaubst, die Vergewaltigung war im Plan nicht vorgesehen?« Hendricks lief wieder neben Thorne. »Er kam erst auf die Idee, als er dort war?«
»Nein, ich glaube, er hat alles im Voraus geplant. Die Vergewaltigung kommt mir nur so …«
»Zugegeben, sie ist brutaler als die meisten, aber andererseits ist Vergewaltigung selten einfühlsam, oder?«
Ein älterer Herr, der an einem Zebrastreifen wartete, bekam genug von ihrem Gespräch mit, riss den Kopf herum und ignorierte den Wagen, der angehalten hatte, um ihnen hinterherzusehen, als sie weiterliefen. Vor dem Zebrastreifen drückte ein frustrierter Autofahrer auf die Hupe und durchbohrte ihn mit wütenden Blicken …
»Ich kann nicht sagen, was mich daran stört«, erklärte Thorne. »Wir ermitteln in einer Mordsache, aber für mein Gefühl ist die Vergewaltigung entscheidend …«
»Du glaubst, der Mörder wollte etwas rüberbringen?«
»Du etwa nicht?«
Hendricks zuckte mit den Schultern und nickte. Er hob die schwere Tüte hoch, um sie unten abzustützen.
»Genau«, fuhr Thorne fort. »Warum funktioniert dieses simple Racheszenario nicht …?«
Sie liefen an dem Imbissstand und der Bank vorbei. Musik drang aus offenen Fenstern, aus Bars und von Dachterrassen. Rap und Blues und Heavy Metal. Die Atmosphäre auf der Straße war so entspannt wie selten, fand Thorne. Das warme Wetter veränderte die Londoner auf seltsame Weise. In den schweißtreibenden U-Bahnen zur Hauptverkehrszeit schmolz bei steigenden Temperaturen die Geduld rasch dahin. Wenn es später ein paar Grad kälter wurde und die Leute was zu trinken in der Hand hielten, war es eine andere Geschichte …
Thorne lächelte grimmig. Er wusste, das war nur ein schmales Fenster. Später, wenn es dunkel wurde und der Suff sich bemerkbar machte, würde der Samstagabendsoundtrack schnell wieder vertraut klingen.
Sirenen und Gebrüll und das Klirren von zerbrechendem Glas …
Wie auf Kommando fingen zwei Teenager draußen vor dem noch offenen Lebensmittelladen in dem Moment an, einander zu schubsen, als Thorne und Hendricks vorbeikamen. Das konnte ganz harmlos, aber auch der Anfang einer größeren Sache sein.
Thorne blieb stehen und ging zurück.
»Hey …«
Noch immer die Faust an dem blauen Hilfiger-Shirt seines Opponenten, wandte sich der größere der beiden um und musterte Thorne von oben bis unten. Er war nicht älter als fünfzehn. »Haste ein Problem?«
»Ich hab kein Problem«, sagte Thorne.
Der Kleinere machte sich frei und ging auf Thorne los. »In einer Minute hast du eins, wenn du dich nicht gleich verpisst …«
»Seht zu, dass ihr nach Hause kommt«, sagte Thorne. »Eure Mum macht sich wahrscheinlich schon Sorgen.«
Der Größere grinste, doch sein Kumpel fand die Bemerkung weniger witzig. Ein schneller Blick die Straße rauf und runter, dann zischte er: »Soll ich dir ein paar Zähne ausschlagen?«
»Wenn du willst, dass ich dich festnehme«, erwiderte Thorne.
Jetzt lachten alle beide. »Bist du etwa ein Scheißbulle, Mann? Niemals …«
»Okay«, sagte Thorne. »Ich bin kein Bulle. Und ihr seid nur zwei Lausebengel, die nichts ausgefressen haben und sich um ihren eigenen Kram scheren, ja? Es gibt nichts, weswegen ich mir Gedanken machen müsste, falls ich ein Polizist wäre. In euren Taschen, mein ich.« Der Blick entging ihm nicht, den der größere der beiden seinem Freund zuwarf. »Vielleicht sehe ich aber trotzdem besser mal nach, nur um sicherzugehen … »
Lächelnd beugte sich Thorne vor.
Hendricks trat zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr. »Lass es gut sein, Tom …«
Ein Mädchen kam aus dem Laden, zwei, drei Jahre älter. Sie reichte jedem der beiden eine Dose Tennent’s Extra und riss sich selbst eine auf. »Was ist denn hier los?«
Der Junge in dem blauen T-Shirt deutete auf Thorne. »Er sagt, er wär ein Bulle. Will uns festnehmen.«
Das Mädchen trank geräuschvoll einen Schluck Bier. »Nee … der nimmt niemanden fest.« Sie deutete mit der Dose auf die Tüte in Thornes Hand. »Der will doch nicht, dass sein Abendessen kalt wird …«
Die nächste Lachsalve. Hendricks legte Thorne die Hand auf die Schulter.
Thorne stellte bedächtig seine Tüte ab. »Mir ist der Appetit vergangen. Jetzt dreht mal eure Taschen um …«
»Ihnen macht das wohl richtig Spaß?«, sagte das Mädchen. »Ist er Ihnen steif geworden?«
»Dreht eure Taschen um.«
Die Jungen fixierten ihn mit eiskaltem Blick. Das Mädchen trank noch einen Schluck Bier. Thorne trat einen Schritt auf sie zu, und jetzt bewegten sie sich. Der Kleinere machte einen Bogen um seinen Freund und lief los. Nach ein paar Schritten wurde er langsamer, gewann seine Fassung wieder. Das Mädchen entfernte sich langsamer, den größeren der beiden Jungs am Hemdsärmel hinter sich herziehend. Sie ließen Thorne nicht aus den Augen, als sie rückwärts die Straße entlanggingen.
Das Mädchen schleuderte die leere Dose weg und beschimpfte Thorne.
»Tunten! Schwuchteln …«
Thorne machte einen Satz nach vorn, um ihnen nachzulaufen, doch Hendricks’ Hand, die die ganze Zeit auf seiner Schulter geblieben war, hielt ihn zurück. »Lass es.«
»Nein.«
»Vergiss es, beruhig dich …«
Er schüttelte Hendricks’ Hand ab. »Diese kleinen Scheißkerle …«
Hendricks trat vor, hob Thornes Tüte auf und hielt sie ihm unter die Nase.
»Worüber regst du dich mehr auf, Tom? Dass sie mich eine Schwuchtel genannt haben? Oder dich?«
Um eine Antwort verlegen, griff Thorne nach der Tüte, und sie liefen weiter. Gleich darauf bogen sie rechts in die Angler’s Lane ab, eine Einbahnstraße, die sie direkt zu Thornes Wohnung bringen würde. Diese schmale Abkürzung zur Prince of Wales Road war einmal ein kleiner Nebenarm des River Fleet gewesen, einer der vergessenen unterirdischen Flüsse Londons. Als Victoria den Thron bestieg, fischten die Jungs aus der Nachbarschaft hier nach Karpfen und Forellen, bevor das Wasser eine solche Kloake wurde, dass kein Fisch es mehr darin aushielt, und unter die Erde verlegt werden musste. Versteckt und eingezwängt in eine dicke Eisenröhre.
Als Thorne jetzt entlang des vergessenen Flusses nach Hause lief, kam es ihm vor, als sei der Geruch nach fast zweihundert Jahren nicht besser geworden.
Kurz nach zehn schlief Hendricks tief und fest auf dem Sofa und machte nicht den Eindruck, als ob sich daran vor dem späten Sonntagvormittag etwas ändern würde. Thorne räumte auf, schaltete den Fernseher aus und ging ins Schlafzimmer.
In der Wohnung hob niemand ab. Ans Handy ging sie sofort.
»Hier ist Thorne. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Mir fiel ein, auf dem Schild an Ihrer Tür gelesen zu haben, dass Sie sonntags nicht offen haben, daher dachte ich …«
»Ist in Ordnung. Kein Problem …«
Thorne warf sich aufs Bett. Er hatte den Eindruck, sie klinge ziemlich erfreut über seinen Anruf.
»Ich wollte nur kurz danke sagen«, erklärte er. »Das war richtig nett heute.«
»Fand ich auch. Wollen wir es wiederholen?«
Während der kurzen Pause, die folgte, sah Thorne hinauf zu seinem billigen Lampenschirm und hörte sie leise lachen. Das Geräusch im Hintergrund konnte er nicht einordnen. »Alle Achtung«, sagte er. »Sie verschwenden keine Zeit …«
»Was soll das? Wir haben uns erst vor ein paar Stunden verabschiedet, und schon rufen Sie an, also sind Sie offensichtlich ziemlich interessiert.«
»Offensichtlich …«
»Also, morgen muss ich mich ausschlafen, und abends hab ich was vor. Wie interessiert, würden Sie sagen, sind Sie nun wirklich? Auf einer Skala von eins bis zehn …«
»Äh … wie wär’s mit sieben?«
»Sieben ist prima. Bei allem, was drunter liegt, wäre ich beleidigt, und alles drüber wäre schon leicht krankhaft. Wie wär’s mit Frühstück am Montag? Ich kenn da ein fantastisches Café …«
»Frühstück?«
»Warum nicht? Wir treffen uns vor der Arbeit.«
»Okay, wahrscheinlich muss ich so um neun ins Büro, also …«
Eve lachte. »Ich dachte, Sie wären interessiert, Thorne! Wir reden von meiner Arbeitszeit! Halb sechs, New-Covent-Garden-Blumenmarkt …«