Viertes Kapitel

Früher, als im Peel Centre Polizeischüler ausgebildet wurden, waren im Becke House die Schlafsäle untergebracht gewesen. Thorne hätte schwören können, dass er, wenn er um eine Ecke bog oder die Tür zu einem Büro aufstieß, gelegentlich noch den Schweiß und das Heimweh riechen konnte …

Kein Wunder also, dass alle im Team 3 ganz aus dem Häuschen waren, als es vor etwa einem Monat hieß, es solle renoviert und zusätzlicher Büroraum geschaffen werden. Was in Wirklichkeit auf nicht mehr hinauslief als auf eine Erhöhung des Budgets für Schreibutensilien, eine Reparatur der Kaffeemaschine und ein weiteres stickiges Bürokabuff, das sich sofort Brigstocke unter den Nagel gerissen hatte. Jetzt lagen drei Büros an dem engen Gang, der zur Einsatzzentrale führte. Brigstocke saß im neuen, während Thorne sich seines mit Yvonne Kitson teilte. Holland und Stone mussten sich mit dem kleinsten der drei begnügen und sich einigen, wer den Papierkorb benutzte und wer den Stuhl mit dem Kissen bekam.

Thorne hasste das Becke House. Es deprimierte ihn regelrecht, raubte ihm jede Energie, bis ihm zu wenig blieb, um es so zu hassen, wie es das verdiente. Er hatte mal jemanden über das Sick-Building-Syndrom witzeln gehört. Was ihn betraf, machte dieses Gebäude die Leute darin nicht krank, es brachte sie um.

Er hatte den Vormittag mit Aktenstudium verbracht. Hatte an seinem revolvergrauen Schreibtisch gesessen, hatte geschwitzt wie ein Schwein und jedes Fitzelchen gelesen, das es über diesen Fall gab. Er hatte den Autopsiebericht gelesen, den forensischen Bericht, seinen eigenen Bericht über den Besuch im Derby-Gefängnis. Er hatte sich Hollands Bericht über die Durchsuchung von Remfrys Haus zu Gemüte geführt, die Befragung der Verwandten von Remfrys Vergewaltigungsopfern sowie die Aussagen einiger Häftlinge, mit denen sich dieser in drei verschiedenen Gefängnissen die Zelle geteilt hatte.

Bereits ein dicker Packen und nur eine Spur. Ein ehemaliger Zellengenosse Remfrys hatte einen Häftling namens Gribbin erwähnt, von dem Remfry erzählt habe, er wäre mit ihm aneinander geraten, als sie beide in Untersuchungshaft in Brixton einsaßen. Gribbin war vier Monate vor Remfry entlassen worden, und er war seinen Bewährungsauflagen nicht nachgekommen. Es war bereits ein Haftbefehl ergangen …

Nachdem Thorne seine Lektüre beendet hatte, verbrachte er einige Zeit damit, sich mit einem leeren Hefter frische Luft zuzufächeln. Er betrachtete die mysteriösen Brandflecken auf den Styroporfliesen an der Decke. Dann las er noch einmal alles von vorne durch.

Als Yvonne Kitson hereinkam, sah er auf, legte seine Unterlagen auf den Schreibtisch und blickte zum offenen Fenster.

»Ich hab mir schon überlegt, ob ich nicht springen soll«, sagte er. »Selbstmord hat was. Und auf dem Weg nach unten bekäme ich wenigstens eine kühlende Brise ab. Was meinen Sie?«

Sie lachte. »Wir sind hier nur im zweiten Stock.« Thorne zuckte mit den Schultern. »Wo steckt der Ventilator?«

»Hat sich Brigstocke geschnappt.«

»Typisch …« Sie nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz und griff in eine große Handtasche. Thorne grinste, als sie die vertraute Tupperwarebox herausholte.

»Mittwoch, also ein Thunfischsandwich«, sagte er.

Sie zog den Deckel herunter und nahm ein Sandwich heraus. »Ein Thunfischsalatsandwich, um genau zu sein, Sie Klugschwätzer. Mein Alter hatte heute Morgen einen kleinen Anfall und steckte ein Blatt Salat rein Thorne lehnte sich zurück und fuhr sich mit dem Plastiklineal über den Arm. »Wie machen Sie das eigentlich, Yvonne?«

Sie blickte mit vollem Mund auf. »Was?«

Das Lineal noch immer in der Hand, breitete Thorne die Arme aus und fuchtelte herum. »Das hier. Das alles. Dazu drei kleine Kinder …«

»Der Detective Inspector hat auch Kinder …«

»Ja, und er ist fertig wie wir alle hier. Sie scheinen das mühelos hinzukriegen. Karriere, Kinder, Haus, Hund und Ihre vermaledeite Lunchbox.« Er streckte ihr das Lineal entgegen, als handle es sich dabei um ein Mikrofon. »Erzählen Sie uns, Detective Inspector Kitson, wie schaffen Sie das? Was ist Ihr Geheimnis?«

Sie räusperte sich und stieg auf sein Spiel ein. Nun, sie waren eben beide um jeden Lacher froh. »Ein natürliches Talent dafür, ein Weichei von einem Mann und ein gnadenloses Organisationstalent. Und: Ich nehm die Arbeit nie mit nach Hause.«

Thorne zwinkerte.

»Das wär’s, noch Fragen?«

Thorne schüttelte den Kopf und legte das Lineal auf den Schreibtisch.

»Gut, ich hol mir einen Tee. Möchten Sie auch einen?«

Sie liefen gemeinsam an den anderen Büros vorbei den Gang hinunter zur Einsatzzentrale.

»Also mal im Ernst«, sagte Thorne, »Sie überraschen mich manchmal.« Er meinte es so. Niemand im Team kannte Yvonne Kitson besonders lange, aber bis auf die eine oder andere Bemerkung von älteren und weniger effizienten männlichen Kollegen fiel niemals ein schlechtes Wort über sie. Mit ihren dreiunddreißig Jahren wäre sie sicher fuchsteufelswild gewesen, wenn sie geahnt hätte, dass nicht wenige, darunter auch Thorne, sie auf angenehme Weise mütterlich fanden. Das hatte mehr mit ihrer Persönlichkeit und ihrem Stil zu tun als mit ihrem Aussehen, das durchaus attraktiv war. Sie zog sich nie auffallend an, ihr aschblondes Haar war stets vernünftig geschnitten. Kanten oder Ecken gab es bei ihr nicht, sie erledigte ihre Arbeit und schien mit dem Kopf stets bei der Sache zu sein. Thorne hatte keine Schwierigkeiten nachzuvollziehen, warum Kitson bereits für Höheres vorgemerkt war.

Am Getränkeautomaten beugte Kitson sich vor, um nach Thornes Becher zu greifen. Sie reichte ihm den Tee. »Das mit ›die Arbeit mit nach Hause nehmen« hab ich so gemeint.« Sie fütterte den Automaten mit weiteren Münzen. »Selbst wenn ich wollte, ich könnte es nicht. Hab gar nicht den Platz dafür.«

Jedes Fenster in der Einsatzzentrale stand offen. Von den Schreibtischen und aus den Aktenschränken wurden Blätter davongeweht. Thorne schlürfte seinen Tee, lauschte dem Papiergeraschel, dem Gemurre seiner Kollegen, die sich danach bückten, und dachte darüber nach, wie sehr er sich von dieser Frau unterschied. Er nahm die Arbeit überallhin mit, auch nach Hause, obwohl es dort niemanden gab, dem er sie hätte mitbringen können. Er und seine Frau Jan hatten sich vor fünf Jahren scheiden lassen, nachdem ihre Beziehung zu einem Kunstdozenten über den üblichen Lehrplan hinausgegangen war. Seither hatte Thorne ein oder zwei »Abenteuer« gehabt, doch keines davon war wirklich bedeutend gewesen.

Kitson stellte den glühend heißen Plastikbecher in einen leeren und blies über die heiße Brühe. »Apropos, was ist mit dem Remfry-Fall?«, fragte sie. »Geht’s nur mir so oder stecken wir da in der Scheiße?«

Thorne sah Russell Brigstocke auf der anderen Seite auftauchen. Er winkte ihnen zu, wandte sich um und lief zu seinem Büro. Thorne folgte ihm und beantwortete, ohne sich umzudrehen, Kitsons Frage.

»Nein, es geht nicht nur Ihnen so …«

 

Wenn Russell Brigstocke richtig mies drauf war, hatte er ein Gesicht auf, bei dem die Milch sauer wurde. Versuchte er, ein ernstes Gesicht aufzusetzen, war da sofort diese melodramatische Note, der leicht geneigte Kopf, der gespitzte Mund, bei dem Thorne unwillkürlich grinsen musste.

»Also, was haben wir bis jetzt, Tom?«

Thorne strengte sich vergebens an, sein Grinsen zu unterdrücken. Er fand sich damit ab. Womöglich war es ohnehin besser, einen positiveren Ton anzuschlagen als vorhin bei Yvonne Kitson. »Wir haben kein Loch in die Welt gerissen, aber es läuft so, Sir.« Wenn Brigstocke dieses Gesicht aufsetzte, war es immer Sir. »Die meisten männlichen Verwandten haben wir inzwischen ausfindig gemacht. Keine heiße Spur, aber vielleicht haben wir Glück. Die meisten von Remfrys ehemaligen Zellengenossen wurden einvernommen, und diese Gribbin-Sache scheint viel versprechend …«

Brigstocke nickte. »Seh ich auch so. Wenn mir jemand die halbe Nase abbeißt, wär ich mit Sicherheit stinksauer.«

»Remfry sagte, er sei es gewesen. Wie auch immer, wir können Gribbin nicht finden …«

»Was gibt’s sonst noch?«

Thorne hob die Hände. »Das ist alles. Abgesehen von den Datenbanken, die wir noch durchforsten müssen. Sobald sich Commander Jeffries zurückmeldet, fangen wir mit dem Inmate Information System an.«

»Er sitzt bereits dran«, sagte Brigstocke. »Erwarten Sie mal nicht zu viel … »

Stephen Jeffries war ein hochrangiger Polizeibeamter, der eigentlich im Gefängnisbereich eingesetzt war. Als offizieller Polizeiberater war er im Prison Service Headquarters stationiert, in einem pompösen Gebäude in der Nähe von Millbank, von wo aus er direkt in die Büros des M16 am gegenüberliegenden Flussufer sehen konnte.

Jeffries hatte sich ohne großes Aufhebens umgesehen, ob das Inmate Information System zu knacken war. Falls der Mörder seine Informationen daraus bezogen hatte, wären eine Unmenge Menschen daran interessiert, wie er das zuwege gebracht hatte.

»Commander Jeffries hat eine vorläufige Beurteilung vorgelegt, nach der dieser Ermittlungsansatz nur als eingeschränkt Erfolg versprechend einzuschätzen sei.«

»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, sagte Thorne. »Ich habe mein Gequirlte-Scheiße-für-Anfänger-Wörterbuch nicht dabei …«

»Seien Sie kein Arsch, Tom, okay? Das würde mir helfen.«

Thorne zuckte mit den Schultern. Klang ganz so, als käme Jeffries aus derselben Schule, die Typen wie Chief Superintendent Trevor Jesmond ausspuckte. »Ich höre.«

Brigstocke blickte auf das Blatt auf seinem Schreibtisch und ratterte los. »Personen mit Computerzugang zum System finden sich sowohl im Hauptquartier selbst sowie in den zwölf nationalweit verteilten Regionalbüros – London, Yorkshire, den Midlands und so weiter …«

Thorne stöhnte. »Das bedeutet, Hunderte von Leuten kommen in Frage …«

»Tausende. Die alle zu überprüfen wäre ungemein personalintensiv – Personal, das ich nicht habe.«

»Richtig. Also selbst wenn dieser Ansatz sich als Erfolg versprechend erweisen sollte, würde der Erfolg auf sich warten lassen«, sagte Thorne. Er griff nach seinem leeren Teebecher, drehte sich auf seinem Stuhl und zielte auf den Abfalleimer in der Ecke.

»Nein«, sagte Brigstocke.

Der Papierbecher verfehlte den Eimer um fast einen Meter. Thorne drehte sich zurück. »Könnte sich jemand in das System einhacken?«

»Tausende von Verdächtigen reichen Ihnen wohl nicht, jetzt steht Ihnen der Sinn nach Millionen …«

»Mir steht nicht der Sinn danach. Aber wenn das System nicht sicher ist …«

»Wenn dieses System nicht sicher ist, müssen eine Menge Leute mit einem Arschtritt rechnen. Das IIS enthält die Informationen über den Aufenthaltsort jedes einzelnen Häftlings in diesem Land einschließlich der Terroristen. Da drin findet sich alles Mögliche. Sollte sich herausstellen, dass jemand da einbrechen konnte, aus welchem Grund auch immer … Herr im Himmel, dann wird Douglas Remfry noch Gegenstand einer Parlamentsdebatte.«

»Aber sie gehen der Sache nach?«, fragte Thorne.

»Soweit ich informiert bin …«

»Die merken das doch, oder? Wenn sich jemand reinhackt? Da geht doch ein Alarm los, sobald jemand in das System einbricht?«

»Fragen Sie mich nicht«, erwiderte Brigstocke. »Ich bring es kaum fertig, eine Scheiß-E-Mail zu verschicken …«

Noch vor nicht allzu langer Zeit hätten selbst E-Mails Thorne überfordert. Aber er hatte sich einen Ruck gegeben und kam allmählich mit der neuen Technik zurecht. Er hatte sich sogar einen Computer für zu Hause gekauft. Den er allerdings noch nicht allzu oft benutzt hatte.

»Das eine ist also zu personalintensiv, das andere politisch problematisch. Hat Commander Jeffries eine Vorstellung, was möglich wäre?«

Brigstocke nahm die Brille ab, wischte mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gestell und setzte sie wieder auf. »Nein, aber ich. Meiner Meinung nach muss es eine andere Möglichkeit geben, wie sich der Mörder die Informationen über Remfry beschaffte.«

»Fahren Sie fort …«

»Was wäre, wenn er über die Familie des Opfers rankam? Sieht den Namen der Mutter im Telefonbuch nach, ruft an und gibt sich als alter Freund aus, der gern mal auf einen Besuch vorbeikäme …« Thorne nickte. Das wäre möglich. »Sobald er weiß, wo Remfry steckt und wann er rauskommt, fängt er an, die Briefe zu schreiben …«

»Er holt alles aus Remfrys Mutter raus?«

»Remfrys Mutter … oder aus einem Gefängnisangestellten. Ich denke einfach, wir müssen auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen …«

»Was ist das Motiv, Russell?« Noch immer die große Frage. »Warum wurde Remfry umgebracht?«

Brigstocke blies die Backen auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Wenn ich das wüsste. Wir sollten allerdings noch mal mit Mrs. Remfry sprechen …«

Thorne konnte es nicht greifen, dennoch war da etwas in dem, was Brigstocke gesagt hatte. Etwas hatte Thornes Herz eine Sekunde lang höher schlagen lassen. Aber wie ein Gesicht, das in einem Traum aufscheint, wie das Bild eines bekannten Gegenstands, den man aus einem ungewohnten Winkel sieht, war es verschwunden, bevor er es hatte erkennen können.

Er versuchte noch immer, sich darüber klar zu werden, als er das Wort ergriff. »Ich verfolge noch eine andere Spur. Hat mit den Fotos zu tun …«

Brigstocke beugte sich vor, zog eine Augenbraue hoch.

»Ich erzähle es Ihnen, wenn es zu etwas führt«, sagte Thorne und setzte mit einem Blick auf seine Uhr hinzu: »Scheiße, ich muss weg, bin schon spät dran …«

Als er aufstand, begann das Telefon nebenan in seinem Büro zu läuten.

 

Hollands Handy läutete, als er gerade auf dem Weg in den Pub war, auf sein mittägliches Bier, was langsam zur Gewohnheit wurde. Andy Stone sah ihn von der Seite an, mit diesem Blick, den er bereits von seinen Kumpels kannte. Er traf ihn, wenn sein Handy klingelte und sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sahen, sobald angezeigt wurde, dass der Anruf von zu Hause kam.

»Scheiße«, sagte Holland.

Stone ging ein Stück weiter und blieb im Eingang zum Pub stehen. »Soll ich dir schon mal eins mitbringen, Dave?«

Holland drückte einen Knopf auf dem Handy und hielt es ans Ohr. Nach ein paar Sekunden begegnete er Stones Blick und schüttelte den Kopf.

Sophie heulte noch immer, als er zwanzig Minuten später durch die Tür trat.

»Was ist denn los?« Er zog sie in seine Arme und kannte ihre Antwort bereits.

»Nichts«, sagte sie. »Es tut mir so Leid … Ich weiß ja, dass ich nicht anrufen soll.«

»Ist ja gut. Schau, ich hab nur eine Viertelstunde Zeit, aber wir können schnell was zusammen essen. Ich geh erst, wenn du dich beruhigt hast.«

Das Baby sollte in drei Monaten kommen. Es lag nahe, diese wöchentlichen Zusammenbrüche auf die Hormone zu schieben, aber ihm war klar, dass da mehr dahinter steckte. Er wusste, welch schreckliche Angst sie hatte. Angst, er könne sich zwischen ihr und dem Job entscheiden. Er könne meinen, sie zwinge ihn zu dieser Entscheidung. Das Baby sei nicht Grund genug, sich für sie zu entscheiden.

Er verstand sie, weil er noch mehr Angst hatte als sie.

Sie saßen auf dem Sofa und kuschelten sich aneinander, bis sie sich beruhigte. Er flüsterte ihr ins Ohr und drückte sie an sich, spürte die Wölbung an seinem Bein – das Baby in ihrem Bauch. Starrte auf die gegenüberliegende Wohnzimmerwand und verfolgte auf dem Display des Videorekorders, wie die Minuten verstrichen.

 

»Thorne.«

»Hier ist Eve Bloom …«

Er brauchte eine Sekunde, bis er etwas mit dem Namen anfangen konnte, mit der Stimme. Bis er sie einander zuordnete. »Oh … hallo. Tut mir Leid, ich war gerade ganz woanders. War in Gedanken schon beim Mittagessen.«

»Ist es gerade unpassend? Weil …«

»Nein, ist schon in Ordnung. Was kann ich für Sie tun?«

»Mich treibt die reine Neugierde, wenn ich ehrlich bin. Wollte nur wissen, wie es läuft. Eigentlich dumm, schließlich habe ich ja keinen Schimmer, was überhaupt läuft. Mich interessiert einfach, ob Ihnen die Kassette, die Sie holen ließen, bei der Lösung hilft. Worum immer es dabei geht.«

Er erinnerte sich, den amüsierten Ton in ihrer Stimme bereits gehört zu haben. Das Telefon in dem Hotelzimmer, das er dicht an sein Ohr drückte. Er freute sich, ihn jetzt zu hören.

»Verstehe, aber ich hätte vor zehn Minuten bereits woanders sein müssen, also …«

»Das ist okay. Ich wollte ohnehin nicht auf der Stelle  …«

»Wie bitte?«

»Wie wär’s mit Lunch am Samstag? Sie können mir ein paar nebensächliche Fragen zu meinem Anrufbeantworter stellen, so tun, als würde ich Ihnen bei Ihren Ermittlungen helfen, und alles über Spesen laufen lassen. Ginge halb eins …?«

Er legte ein paar Minuten später auf, gerade als Yvonne Kitson zurück ins Büro kam.

»Warum zum Geier grinsen Sie so?«, fragte sie ihn.

 

»Vergessen Sie’s, Mr. Thorne, nie und nimmer esse ich Entenfüße.«

Die Tatsache, dass Dennis Bethell wie ein Schrank gebaut war und eine Stimme hatte wie eine Chorsängerin auf Helium, ließ fast alles, was er sagte, ein wenig lächerlich klingen, aber dieser Spruch war vom Feinsten …

Es war Thornes Idee gewesen. Das letzte Mal hatten sie sich in einem Pub verabredet, und seine Stimme hatte, wie so oft, zu einigem Aufsehen geführt. Ein ruhiger Lunch schien die elegantere Lösung, und Thorne mochte das Lokal. Im New Moon im Herzen von Chinatown gab es das beste Dim Sum der Stadt. Thorne hätte nicht sagen können, was ihm lieber war, das Essen oder das Ritual. Nur zu gern sah er den mürrisch dreinblickenden alten Frauen dabei zu, wie sie ihre Wägelchen durch das Restaurant schoben. Er mochte es, sie aufzuhalten und zu bitten, die Deckel zu heben, und seine Wahl zu treffen.

Bethell hatte vollkommen verwirrt in einer Ecke gesessen, als Thorne kam. Er hatte ihm erst das System des Lokals erklären müssen. Thorne war zwanzig Minuten zu spät gekommen, aber es war nicht schwierig gewesen, Bethell zu finden. Er war einen Meter neunzig groß, gebaut wie ein WWF-Wrestler, seine wasserstoffblonden Haare standen stachelartig von seinem Kopf ab, und er trug jede Menge Goldschmuck. Ihn in einem Restaurant zu entdecken, dessen Gäste hauptsächlich Chinesen waren, war keine besondere Herausforderung.

Heute trug Bethell eine Hose im Camouflagelook und dazu ein knallblaues T-Shirt mit dem Schriftzug BITCH über seinem gewaltigen Brustkorb.

»Haifischflossensuppe und so Zeug geht in Ordnung. Aber Entenfüße7. Das ist widerlich …«

»Entspann dich, Kodak.« Er lächelte der alten Frau zu, als sie den nächsten Bambusdeckel lüftete. »Ich bestell für dich …«

Sie unterhielten sich eine Weile. Einerseits wollte Thorne seinem Mann die Befangenheit nehmen, andererseits genoss er das Geplänkel. Er fühlte sich wohl in solchen Lokalen und mit Typen wie Dennis Bethell.

Thorne schob sich eine panierte Garnele in den Mund und das Foto von Jane Foley über den Tisch. Bethell wischte sich mit der Serviette die Sojasoße von den Fingern, bevor er danach griff.

»Hübsch«, sagte. »Sehr hübsch … »

Thorne wusste, dass Bethell das Foto meinte. Den Aufbau, das Licht. Als abgebrühten Fotografen ließen ihn die Fotomodelle längst kalt.

»Dachte mir gleich, dass es dir gefällt.«

»Es gefällt mir wirklich. Wer hat es gemacht?«

»Weißt du was, Kodak? Ich hab mir gesagt, wenn es irgendjemand rausfinden kann, dann am ehesten du Sie redeten noch eine Zeit lang weiter. Das Geschäft, sagte Bethell, boome. Obwohl die Schmuddeldotcoms im Internet ihm und seinesgleichen die Hölle heiß gemacht hätten, berichtete Bethell strahlend, sei die Nachfrage nach seiner Arbeit so groß wie noch nie. Kontaktbogen von seiner legendären 1983er »Scheunen«-Serie würden heruntergeladen wie verrückt, hätten unter den Pornosurfern einen beinahe legendären Ruf …

Mit Hilfe von Dennis Bethells hochklassigen Wichsvorlagen hatten sich die Männer schon ihr Mütchen gekühlt, als Thorne anfing, sich seine Brötchen bei der Polizei zu verdienen. Ob zweideutige Fotos oder eindeutige Doppelseiten, Bethell hatte ein Händchen für alles, wozu man eine Linse und Brustwarzen brauchte. Dabei konnte er keiner Fliege was zuleide tun und war seit Jahren ein verlässlicher Schnüffler. In Thornes Augen war er einer der großen Exzentriker der Stadt. Ein aufgeplustertes, exaltiertes Riesenbaby, leicht reizbar und mit einem ausgesprochenen Talent, Mädchen dazu zu bringen, ihre Kleider auszuziehen, und ständig mit der Redewendung auf den Lippen: »Nichts mit Kindern!«

»Also«, sagte Thorne. »Ist es eine Profiarbeit oder nicht?«

Bethell sah sich das Foto an, hielt es ins Licht, kaute an der Unterlippe. »Ja, vielleicht …«

»Das reicht nicht, Kodak.« Thorne hob einen Finger, um die Frau hinter der kleinen Bar auf sich aufmerksam zu machen. Dann hob er seine leere Flasche Tsing Tao, um ein weiteres Bier zu bestellen.

»Es ist kompliziert«, sagte Bethell. »Inzwischen gibt es einen riesigen Markt für professionell gemachten Kram, der aussehen soll, als handle es sich um den Schnappschuss eines Amateurs. Um ein Foto seiner Freundin. Verstehen Sie? Wie bei diesen Hausfrauenreportagen. Vor allem bei solchen Sachen.«

»Bei welchen Sachen?«

»Diesen S&M-Sachen. Handschellen, Peitschen und Ketten. Fetischismus.« Bethell hob das Foto hoch, das Thorne sich hundertmal und öfter angesehen hatte. Er sah es sich noch mal an. Dieses Foto war von oben aufgenommen worden, die Frau lag auf ihrem Gesicht, hatte die Hände auf den Rücken gebunden. Die Kapuze war diesmal nach hinten gebunden wie eine Schlinge.

»Machst du so Zeug?«, fragte Thorne.

Bethell hatte den Mund voll mit einem Krabben-Dim-Sum. Anscheinend befürchtete er eine Fangfrage, denn er antwortete vorsichtig. »Ja, kommt vor. Es gibt eine Unmenge von diesen perversen Magazinen. Allerdings sind meine Sachen besser …«

»Klar doch. Hör mal, falls das eine Profiaufnahme ist, könntest du herausfinden, wer sie gemacht hat?«

»Könnte mich mal umhören, aber ob das …«

»Zum Beispiel, wo der Film entwickelt wurde?«

»Reine Zeitverschwendung. Wenn der Typ nicht ganz blöd ist, hat er’s selber gemacht. Digitalkamera und ab in den PC. Ein Kinderspiel …«

»Versuch so viel herauszufinden, wie du kannst. Ich will wissen, wer das Model ist und wer für die Aufnahme gezahlt hat.«

Bethell verzog das Gesicht. »Das ist nicht fair, Mr. Thorne. Eine kleine Info, das geht in Ordnung. Aber das, da komm ich mir vor, als würde ich Ihren Job erledigen. Als war ich ein Detective.«

Die Bedienung, die Thornes Bier brachte, kicherte, als sie Bethells verzweifeltes Quieken hörte, und verschwand wieder. Gott sei Dank hatte Bethell nichts davon mitbekommen.

»Du musst das anders sehen, Kodak. Das ist nur ein weiterer Pfeil in deinem Köcher. Vielleicht fasst du mal einen Karrierewechsel ins Auge. Die Polizei ist ständig auf der Suche nach cleveren jungen Kerlen wie dir …«

»Sie sind manchmal richtig ätzend, Mr. Thorne …«

Thorne beugte sich über den Tisch und hielt ihm ein Essstäbchen dicht vors Gesicht. »Oh ja, das bin ich. Und nur um es dir zu beweisen, wenn du dich da nicht richtig reinhängst, werde ich in deinen Geschäftsräumen vorbeikommen, mir dein bestes Zoomobjektiv schnappen und es dir so weit in den Hintern rammen, dass du damit Aufnahmen von deinem Dünndarm machen kannst. Gib mir doch mal das Krabbenbrot rüber, ja …?«

Bethell war ein paar Minuten lang eingeschnappt. Dann nahm er das Foto und steckte es in die Hosentasche.

»Du solltest wirklich die Entenfüße kosten, Kodak«, sagte Thorne. »Hast du gewusst, dass man danach tatsächlich schneller schwimmen kann?«

Bethell riss die Augen auf. »Wollen Sie mich verarschen, Mr. Thorne?«

 

Welch stand in der Tür, als Caldicott am anderen Ende des Ganges mit dem Postwägelchen auftauchte. Als er – unerträglich langsam – näher kam, an fast jeder Tür stehen blieb, wurde offenbar, dass sein Gesicht noch immer nicht richtig verheilt war.

Die eine Seite glänzte vom Mund bis zur Stirn, als triefe sie vor Schweiß. Dabei leuchtete sie fleischfarben, als wäre die Haut abgezogen worden. Vor dem nässenden Rot hoben sich deutlich winzige, weiße Ringe ab, die an der Stelle, wo einmal die Lippen gewesen waren, wie eine Reihe Herpesbläschen aussahen …

Das Postwägelchen kam erneut ein Stück näher. Caldicott grinste, so weit ihm das möglich war. Postaustragen war ein netter, ruhiger Job. Eine kleine Aufmerksamkeit der fürsorglichen Gefängniswärter im Gefährdetentrakt, nachdem er Wochen im Krankenhaus verbracht hatte.

Ein paar Dumpfbacken aus dem B-Trakt hatten ihn in der Wäscherei gestellt. Von Rechts wegen hatten sie dort nichts zu suchen, hätten schön weggesperrt sein müssen. Aber irgendwer hatte irgendwo ein Auge zugedrückt. Eine Tür offen gelassen.

Eine von Caldicotts Frauen war in Wirklichkeit ein Mädchen gewesen. Eine Vierzehnjährige. Caldicott hatte Welch geschworen, dass er sie für älter gehalten hatte, dass das Frischfleisch für seinen Geschmack so frisch nun auch wieder nicht sein musste. Das müsse er doch verstehen, hatte Caldicott ihn angefleht. Es sei ihm doch sicher schon mal genauso ergangen. Mein Gott, die Mädels heutzutage! Welch hatte eingeräumt, ja, er verstehe schon, was Caldicott meine, und es sei ihm tatsächlich schon genauso ergangen, mehrmals, und er danke dem Schicksal, dass das Mädchen, wegen dem er in den Knast gewandert war, bereits über sechzehn war, wenn auch nur knapp. Den Typen dort in der Wäscherei, diesen Tieren, hatte Caldicott wahrscheinlich das Gleiche erzählt. Hatte gebettelt und ihnen vermutlich erklärt, dass er das Mädchen für älter gehalten habe, aber der Quatsch hatte sie wohl nicht die Bohne interessiert. Diese Männer waren nur an Fakten interessiert.

Während einer in aller Ruhe Caldicott am Schwanz und den Eiern festhielt, räumte der andere den Trockner aus, legte die Wäsche ordentlich in den roten Plastikkorb. Dann hatten sie Caldicott, ohne sein Schreien zu beachten, nach vorne gebeugt und mit dem Kopf und den Schultern in die massive Stahltrommel geschoben, sein Gesicht auf das glühend heiße Metall gedrückt …

Caldicott streckte ihm breit grinsend einen Brief entgegen, zog dabei die versengte Haut über seine gelblichen Schneidezähne. Der macht ja dem Phantom der Oper Konkurrenz, dachte Welch und schnappte sich den Umschlag, bevor er sich schnell hinter seine Tür verzog …

Natürlich ist der Umschlag geöffnet worden, aber derlei Eingriffe in seine Privatsphäre stören ihn schon lange nicht mehr. Er hat ein paar wertvolle Minuten allein für sich und Gelegenheit, ihren Brief zu lesen, der letzte, den er in einem winzigen Kabuff lesen muss, in dem es nach der Scheiße seines Zellengenossen stinkt.

Wieder ein Foto. Das ist das Erste, wonach er schaut. Beinahe hätte er laut aufgeschrien, als er es zwischen den Seiten des Briefes fühlt. Er zieht es heraus und drückt es an seine’ Brust, ohne es sich anzusehen. Schließlich hebt er es hoch, sehr, sehr langsam, und stöhnt laut, als er den ersten Blick auf sie erhascht. Die Kapuze ist verschwunden, aber dieses Mal hat sie den Kopf gesenkt und wendet der Kamera den Rücken zu. Nur ihr kurz geschnittenes Haar ist zu sehen, das Gesicht bleibt verborgen. Sie sitzt in der Hocke, ihre Handgelenke sind auf den Rücken gefesselt, der Schatten fällt auf ihre Schulterblätter und ihren wunderschönen runden Hintern …

Die Tür geht auf, und er ist nicht mehr allein. Schnell zieht er die Knie an, um seine Erektion zu verbergen, und drückt das Foto wieder flach gegen die Brust. Als sich sein Zellengenosse ächzend auf das Bett gegenüber fallen lässt, hat Welch bereits die Augen geschlossen und sieht jedes winzige Detail der nackten Jane klar und deutlich vor sich.