Siebzehntes Kapitel
Eine der grausamsten Geschichten über geschundene Körper und gezeichnetes Leben, die Tom Thorne je gehört hatte …
Eine Woche war vergangen, seit Carol Chamberlain in Thornes Büro gesessen und sämtliche Wege freigemacht hatte. Holland saß am Steuer eines Laguna aus dem Car-Pool, als sie nach Essex fuhren, genauer gesagt nach Braintree. Die zwei Männer fühlten sich so wohl in der Gegenwart des anderen, dass sie es auch ertrugen, wenn nichts gesagt wurde. Doch das Schweigen heute war ausgesprochen schwer erträglich. Thorne konnte nur hoffen, dass das, was in Hollands Kopf vorging, nicht ganz so düster war wie seine eigenen Gedanken.
Eine der grausamsten Geschichten …
Jane Foley war von Alan Franklin vergewaltigt worden. Davon war Thorne überzeugt. Da es jedoch damals nicht hatte bewiesen werden können, bestand wenig Hoffnung, dass die Wahrheit mehr als fünfundzwanzig Jahre später ans Licht käme. Was jedoch damals wie heute niemand bezweifelte, war, wie bizarr und brutal ihr Mann, Dennis, darauf reagierte. Was er Jane und dann sich selbst angetan hatte an jenem 10. August 1976.
Wahrscheinlich würde Thorne sich niemals sicher sein können, was in jenem Haus zwischen diesen zwei Menschen vorgefallen war und zu diesen letzten intimen Augenblicken des Grauens geführt hatte. Thorne wusste jedoch, dass er viel Zeit damit verbringen würde, sich diese Augenblicke vorzustellen: den Schrecken Jane Foleys, als ihr Mann ausholte; die Schuld und den Schmerz und die Angst des Mannes, der soeben einen Mord begangen hatte; an dessen Händen das Blut noch nicht trocken war, das Abschleppseil glitschig, als er eine behelfsmäßige Schlinge knotete.
Am schlimmsten freilich die Verständnislosigkeit der beiden Kinder, die die Leichen ihrer Eltern fanden …
Thorne zuckte leicht zusammen, als Holland mit den Handflächen gegen das Lenkrad schlug. Er öffnete die Augen und sah, dass sie in zäh fließenden Verkehr geraten waren. Seit sie die M11 verlassen hatten, war alles zu. Samstagvormittag und kein Grund für einen Stau, aber da war er.
»Scheiße«, fluchte Holland. Es war das erste Wort, das seit fast einer Stunde gesprochen wurde.
Wenn Thorne seine Zeit damit verbrachte, darüber nachzugrübeln, was sich zwischen Jane und Dennis Foley abgespielt hatte, dann bereitete ihm noch etwas anderes mindestens ebenso großes Unbehagen. Etwas, das, Gott steh ihm bei, womöglich ebenfalls Entsetzliches ausgelöst hatte.
Thorne hatte Mist gebaut. Er hatte einen derartigen Mist wie selten gebaut, und das hieß einiges …
Carol Chamberlain war davon ausgegangen, dass die Beamten, die 1996 in dem Franklin-Mord ermittelt hatten, ebenfalls Mist gebaut hatten. Offensichtlich hatten sie Franklins Namen nicht im General Registry in Victoria überprüft, wo sie auf seine Rolle bei der Vergewaltigung Jane Foleys zwanzig Jahre früher gestoßen wären.
Nach Überprüfung der Akten stellte sich jedoch heraus, dass diese Beamten sehr wohl beim General Registry angerufen hatten. Was nicht aktenkundig war, sondern eine Vermutung blieb, war, dass der hirntote Sesselfurzer am anderen Ende der Leitung – ein seit langem sich im Ruhestand und, wie Thorne hoffte, unter der Erde befindender Beamter – Franklins Name übersehen hatte. Ein Auge auf dem Kreuzworträtsel, und das war’s. Ein teurer Fehler.
Aber Thornes Fehler war noch teurer.
Im Gegensatz zu den Beamten 1996 hatte Thorne den Namen nicht überprüft. Jane Foleys Name war nie im General Registry angefragt worden, nie durch das System geschickt worden. Streng genommen hatte er das nicht tun müssen, aber das war egal. Was Thorne anging, traf ihn die Schuld. Er hatte sich nicht vergewissert, und selbst wenn er daran gedacht hätte, wäre es ihm nie als wichtig erschienen.
Warum den Namen einer Frau überprüfen, die nicht wirklich existierte? Jane Foley war der erfundene Name einer erfundenen Person, richtig? Jane Foley war ein Phantom …
Thorne war sich vollkommen im Klaren darüber, dass, wenn sie … er … irgendwer das überprüft hätte, einen simplen Anruf getätigt hätte, nachdem sie auf Remfrys Briefe gestoßen waren, Ian Welch vielleicht noch leben würde. Und Howard Anthony Southern …
Der Stau begann sich aufzulösen, und Holland legte den zweiten Gang ein. »Gut, vielleicht kommen wir heute ja doch noch an …«
Die Leiche des dritten Opfers war in einem Hotel in Roehampton gefunden worden, etwa um dieselbe Zeit, als die Frau von den Grauen Zellen in Thornes Büro marschiert war und ihre Bombe hatte platzen lassen. Sie war noch immer da gewesen, als der Anruf kam, und Thorne hatte sie eingeladen, ihn zum Tatort zu begleiten. Das schien das Mindeste zu sein, was er tun konnte.
In dem Hotelzimmer, zwischen all den Leuten von der Spurensicherung und den Pathologen und der waschechten Leiche, hatte Thorne gefunden, dass Carol Chamberlain so glücklich wirkte wie ein Kind in der Bonbonfabrik …
In den Tagen darauf lief die Ermittlung in zwei unterschiedliche Richtungen. Während die Mordumstände des letzten Opfers auf die gleiche Weise erfasst wurden wie bei den vorherigen, um Veränderungen im Muster abzugleichen, hatten Thorne und seine engsten Mitarbeiter eine neue Front eröffnet. Sie wollten die neue, entscheidende Spur verfolgen, die Carol Chamberlain ihnen gewiesen hatte.
Holland lenkte das Auto in eine unscheinbare, von tristen Sechzigerjahre-Häusern und mickrigen Bäumen gesäumte Straße. Es war ihnen gelungen, sich einen der wenigen Dienstwagen mit Klimaanlage unter den Nagel zu reißen. Als sie nun ausstiegen, hatten sie das Gefühl, eine Sauna zu betreten. Sie verzogen das Gesicht und schlüpften in ihre Jacken.
Auf dem Weg zu Peter Foleys Haus dachte Thorne über Spuren nach. Warum nur sprachen sie davon, diese zu »verfolgen«? Tja, vielleicht lag es daran, dass sie die unangenehme Angewohnheit hatten, einem ständig zu entgleiten.
Dennis Foleys jüngerer Bruder, der einzige überlebende Verwandte von Dennis oder Jane, den sie hatten aufspüren können, war als Gastgeber nicht gerade herzlich.
Thorne und Holland thronten auf fleckenübersäten Veloursesseln und schwitzten in ihren Jacken. Sie waren nicht aufgefordert worden, sie abzulegen. Ihnen gegenüber auf der zur Sitzgruppe passenden Couch lümmelte Peter Foley in weiten Shorts und einem knalligen, bis zum Nabel offenen Hawaiihemd. Er hielt sich an einer Dose Bier fest, die er, wenn er nicht daraus trank, an seiner knochigen Brust hin und her rollte.
»Sie waren elf Jahre jünger als Dennis, ist das richtig?«, fragte Holland.
Foley nahm einen Schluck Bier. »Richtig, ich war das Versehen.«
»Als es passierte, waren sie also noch Student?«
Er schüttelte den Kopf. »Nee. Wenigstens ihre Fakten hätten sie auf die Reihe kriegen können. ’76 war ich zweiundzwanzig. Ich hab das College ein Jahr zuvor verlassen …« Seine hohe, etwas pfeifende Stimme hatte einen eindeutigen Essex-Akzent.
»Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Thorne.
»Ich hab nichts gemacht. Hing rum, war ein Punk. Hab mal kurz als Roady für The Clash gearbeitet …«
Thorne war auch Punk gewesen, obwohl er sechs Jahre jünger als Foley war, der auf die fünfzig zuging. Der Mann ihm gegenüber sah bestimmt nicht so aus, als ob er sich noch häufig »White Riot« anhörte. Er war dürr, trotz der muskulösen Arme. Wahrscheinlich machte er Bodybuilding, damit die Gothic Tattoos besser aussahen. Das graue Haar trug er zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er hatte einen dünnen spitzen Bart. Nach den Kerrang!-Ausgaben unter dem Couchtisch zu urteilen war Peter Foley wohl so was wie ein alternder Heavy-Metal-Fan.
»Was, denken Sie, ist mit Jane geschehen?«, fragte Thorne.
Foley beugte sich vor, um eine Packung Marlboro aus seinen Shorts zu ziehen, und sank dann wieder auf die Couch. »Was? Sie meinen, was Den …?«
»Davor. Die Sache mit Franklin.«
»Das Schwein hat sie vergewaltigt, klar.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Wär dafür auch in den Knast gegangen ohne euch Scheißkerle …«
Holland wollte protestieren und öffnete den Mund, doch Thorne ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Was meinen Sie damit, Mr. Foley?« Thorne wusste genau, was Foley damit meinte, und er wusste, dass er damit Recht hatte. Die Polizei war damals nicht gerade berühmt für die Sensibilität, mit der sie Vergewaltigungsopfer behandelte.
»Besorgen Sie sich mal die Prozessmitschriften, Kumpel. Schauen Sie sich an, was die vor Gericht alles über Jane gesagt haben. Stellten sie als richtige Schlampe hin. Vor allem der eine Bulle, wie der über ihre Kleidung herzog …«
»Da wurden viele Fehler gemacht, richtig«, erwiderte Thorne. »Damals kamen eine Menge Vergewaltiger davon, einfach so. Sie haben sicher Recht mit dem, was sie über Jane sagten – was ihr Franklin damals antat.«
Foley zog an seiner Zigarette, trank aus seiner Dose und lehnte sich mit einem Kopfnicken zurück. Er sah hinüber zu Thorne, als wolle er sein Urteil überprüfen.
Thorne blickte zu Holland. Was das Gespräch hier anging, hatten sie keine Strategie vereinbart – wer was fragen sollte, wer die Gesprächsführung übernahm –, das taten sie nie. Holland übernahm das Protokoll, das zumindest stand fest.
»Wussten Sie, dass Alan Franklin tot ist?«, fragte Holland. »Erstarb 1996.«
Jetzt war es an Thorne, sein Urteil zu überprüfen. Er studierte Foleys Gesicht, versuchte, seine Reaktion einzuschätzen. Was er sah oder zu sehen glaubte, war Schock und dann Wohlgefallen.
»Prima«, sagte Foley. »Hoffentlich musste er einiges aushalten.«
»Das musste er. Er wurde umgebracht.«
»Noch besser. An wen darf ich mein Dankschreiben schicken?«
Thorne stand auf und begann, auf und ab zu gehen. Foley wurde etwas zu selbstzufrieden. Nicht, dass Thorne ihn als Verdächtigen betrachtete, zumindest nicht im Augenblick, aber er hatte es lieber, wenn sein Gegenüber bei der Befragung etwas auf der Hut war …
»Warum denken Sie, dass er es getan hat, Peter?«, fragte Thorne. »Warum hat Dennis sie umgebracht?« Foley erwiderte Thornes Blick, trank sein Bier aus und zerdrückte die Dose.
Thorne wiederholte seine Frage. »Warum hat Ihr Bruder seine Frau umgebracht?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Glaubte er, was man vor Gericht über Jane sagte?«
»Ich weiß es nicht …«
»Zumindest muss er darüber nachgedacht haben …«
»Dennis dachte über eine Menge Dinge nach.«
»Dachte er, seine Frau sei eine Schlampe?«
»Natürlich nicht …«
»Vielleicht hatten sie danach Probleme im Bett …«
Foley beugte sich abrupt vor, warf die leere Dose auf den Boden. »Hören Sie, Jane wurde danach seltsam, okay? Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Ging nicht mehr weg, sprach mit niemandem mehr, machte überhaupt nichts mehr. Sie verstand sich gut mit meiner damaligen Freundin, wissen Sie. Wir gingen miteinander weg, doch nach dem Prozess, nein … nach der Vergewaltigung war sie einfach nicht mehr da. Den tat so, als wäre alles in Butter, aber er fraß das nur in sich rein. Als Franklin also erhobenen Hauptes aus dem Gerichtssaal stolzierte, als sei er Nelson Mandela, als sei er das Opfer …«
Thorne sah zu, wie Foley sich zurücklehnte und an einem der vielen silbernen Ringe an seiner linken Hand herumspielte.
»Schauen Sie, Mann, ich weiß nicht, was Den gedacht hat, okay? Er hat ziemlich verrücktes Zeug geredet damals, aber er war auch völlig am Ende. Sie legen es drauf an, einen zu verunsichern, oder? Darum ging es ihnen vor Gericht, die Jury zu verunsichern. Und das gelang ihnen verdammt gut. Ich meine, Polizisten soll man doch eigentlich vertrauen, nicht wahr, ihnen glauben
Foley blickte auf, sah hinüber zu Holland und dann wieder zu Thorne. Zum ersten Mal wirkte er so alt, wie er war. Thorne musterte prüfend die Furchen, die sich durch Peter Foleys Gesicht zogen, sah harte Drogen in seiner Vergangenheit und vielleicht auch in seiner Gegenwart.
»Etwas platzte«, erklärte Foley ruhig.
Ohne einen Grund dafür nennen zu können, trat Thorne zur Couch, um sich nach der Dose zu bücken und diese auf ein verstaubtes Chrom-und-Glas-Regal neben dem Fernsehgerät zu legen. Dann wandte er sich wieder Foley zu.
»Was geschah mit den Kindern?«
»Wie …?«
»Mark und Sarah. Ihr Neffe und Ihre Nichte. Was geschah mit ihnen nach all dem?«
»Direkt danach, meinen Sie? Nachdem sie die beiden gefunden …?«
»Später. Wohin kamen sie?«
»In Pflege. Die Polizei brachte sie weg, das Sozialamt wurde eingeschaltet. War auch was mit Therapie, glaub ich. Mehr für den Jungen, wenn ich mich recht erinnere. Der muss acht oder neun gewesen sein …«
»Er war sieben. Seine Schwester war fünf.«
»Ja, kann gut sein.«
»Also …?«
»Also kamen sie in eine Pflegefamilie.«
»Verstehe.«
»Schauen Sie, es gab nur noch Janes Mum, und die war schon etwas tattrig. Ging nicht anders, wirklich nicht. Ich sagte, ich würde die Kinder nehmen, mit meiner Freundin zusammen. Aber da war niemand wild drauf. Ich war erst zweiundzwanzig …«
»Und außerdem hatte Ihr Bruder gerade ihrer Mutter den Kopf mit einer Nachttischlampe eingeschlagen …«
»Ich sagte, ich würde die beiden nehmen. Ich wollte sie nehmen …«
»Sie blieben also mit den beiden in Kontakt?«
»Klar …«
»Haben Sie sie oft gesehen?«
»Eine Weile schon, aber sie zogen ständig um. War nicht immer einfach.«
»Haben Sie ihre Namen und Adressen?«
»Welche …?«
»Die der Pflegeeltern. Sie sagten, die Kinder zogen ständig um. Gab es viele Pflegeeltern?«
»Ein paar.«
»Sie haben die näheren Details?«
»Nicht mehr. Damals, klar, da schon. Da waren die Weihnachtskarten, Geburtstagskarten …«
»Und dann ist der Kontakt abgerissen?«
»So läuft das nun mal.«
»Sie haben also keine Ahnung, wo sich Sarah und Mark im Augenblick aufhalten?«
Foley blinzelte und lachte trocken. »Was, wollen Sie damit sagen, Ihre Leute wissen das nicht?«
»Wir haben jeden Mark Foley im ganzen Land aufgespürt. Jede Sarah Foley oder Sarah Irgendwas, geborene Foley. Und keiner oder keine von ihnen erinnerte sich daran, ins Treppenhaus spaziert zu sein und den eigenen Vater vom Abschleppseil baumeln gesehen zu haben. Oder daran, nach oben gelaufen zu sein, um Mum mit eingeschlagenem Schädel in einer Blutlache zu finden. Nennen Sie mich altmodisch, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man so was vergisst.«
Foley schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Selbst wenn ich könnte, ginge mir das gegen den Strich …«
Thorne sah zu Holland. Zeit zu gehen. Als sie aufstanden, schwang Foley die Beine aufs Sofa und griff nach der nächsten Dose Lager.
»Bevor das alles passierte, bevor die Scheiße losging, waren Jane und Den normal, wissen Sie. Ein ganz normales Paar mit zwei Kindern, einem Haus und was sonst noch dazugehört. Sie waren ein gutes Team, sie kamen prima zurecht, und ich vermute, sie wären darüber hinweggekommen, was dieses Arschloch Jane antat. Ich meine, die meisten Paare schaffen das. Und Den hätte ihr geholfen, weil er sie liebte. Aber was danach kam, was bei diesem Prozess geschah und hinterher … darüber kommt man nicht hinweg. Nie. Und das ist Ihre Schuld.«
Foley sprach über etwas, das vor langer Zeit geschehen war. Er sprach über Fehler, die man nicht mehr gutmachen konnte. Und einen Polizisten, der seit langem in Rente war.
Aber er deutete auf Thorne.