Elftes Kapitel
Von der U-Bahn-Station waren es keine zehn Minuten zu Fuß, doch Thorne schwitzte bereits heftig, als er Becke House erreichte. Vor dem Haupteingang hing eine in Zigarettenrauch gehüllte Gestalt herum. Zu Thornes Überraschung entpuppte sich diese, als sie sich umdrehte, als Yvonne Kitson.
»Guten Morgen, Yvonne.«
Sie nickte und wich seinem Blick aus, wobei sie rot anlief wie eine Viertklässlerin, die hinter dem Fahrradschuppen beim Rauchen erwischt worden war. »Morgen …«
Thorne deutete auf die Zigarette, die beinahe bis zum Filter abgebrannt war. »Wusste gar nicht, dass Sie …«
»Jetzt wissen Sie’s.« Sie gab sich Mühe, ein freundliches Gesicht aufzusetzen, und nahm noch einen Zug. »Doch nicht ganz so vollkommen, fürchte ich …«
»Gott sei Dank«, sagte Thorne.
Kitsons Lächeln wurde einen Ton wärmer. »Oh, tut mir Leid. Habe ich Sie etwa eingeschüchtert?«
»Mich nicht. Aber ich fürchte, ein paar der jüngeren Kollegen waren schon etwas verschreckt.« Kitson lachte, und Thorne sah, dass sie noch immer ihre Tasche über der Schulter trug. »Waren Sie noch gar nicht drinnen?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf und blies Rauch aus dem Mundwinkel. »Mein Gott, Sie müssen unglaublich ausgepowert sein!« Kitson zog die Augenbrauen hoch und warf ihm einen Blick zu, als wisse er nicht mal die Hälfte.
Sie standen eine Weile rum, sahen in verschiedene Richtungen, ohne etwas zu sagen. Thorne hielt es für besser aufzubrechen, bevor sie gezwungen waren, über das Wetter zu reden. Er berührte die Glastür …
»Wir sehen uns oben …«, sagte er.
»Oh, Scheiße.« Als sei es ihr soeben erst eingefallen. »Tut mir Leid, das mit Ihrem Einbruch …«
Thorne nickte, zuckte mit den Schultern und trat durch die Tür. Er trottete nach oben und staunte über die unfassbare Geschwindigkeit und Effizienz der polizeilichen Buschtrommeln.
Ein Schreibtischbeamter in Kentish Town, der einen Detective Constable in Islington kennt, der jemanden in Colindale anruft …
Dazu eine Prise stille Post, und fertig war die multikulturelle Gerüchteküche, dieses Gemisch aus Klatsch und Quatsch, das jedes der bislang zur Verbrechensbekämpfung eingesetzten Systeme um ein Vielfaches übertraf …
Thorne brauchte beinahe fünf Minuten für das Spießrutenlaufen von einer Seite der Einsatzzentrale zur anderen. Von allen Seiten hagelte es witzige Bemerkungen. Zur Belohnung gab es eine Tasse Kaffee von dem neu überholten Kaffeeautomaten in der Ecke.
»Tut mir Leid, Chef … »
»Sie sehen etwas mitgenommen aus, Sir. Mussten Sie auf dem Sofa schlafen?«
»Noch nie ein Seminar zur Verbrechensvorbeugung mitgemacht, Tom?«
»Alles Gute …« Das kam von Holland.
Thorne hatte es nicht an die große Glocke hängen wollen und es deshalb gestern Abend im Pub bewusst mit keinem Wort erwähnt. Anscheinend hatte er es Holland aber erzählt. »Danke.«
»Nicht gerade eine nette Überraschung, wenn man heimkommt. Ich mein damit den Einbruch, nicht …«
»Absolut.«
»Es hieß, die hätten Ihnen auch das Auto geklaut …«
»Seh ich da ein Grinsen, Holland?«
»Nein, Sir …«
Letzte Nacht. Thorne zerrte die Matratze durch die Haustür, als ihm einfiel, dass er den Mondeo nirgends gesehen hatte, als er heimkam. Auch die Autoschlüssel hatten nicht auf dem Tisch gelegen, wenn er sich recht erinnerte. Zu dem Zeitpunkt war er gerade mit etwas anderem beschäftigt gewesen …
Er ließ die Matratze liegen und trat auf die Straße hinaus. Vielleicht hatte er den Wagen woanders geparkt.
Hatte er nicht. Arschlöcher …
»Heben wir später im Oak einen auf Ihren Geburtstag?«, fragte Holland.
Thorne stand inzwischen am Kaffeeautomaten. Er wandte sich um und sagte leise, während er in seiner Tasche nach Münzen kramte: »Aber bitte ohne großes Tamtam, ja?«
»Wie Sie meinen …«
»Nicht so wie gestern. Nur Sie und Phil vielleicht.«
»Gut …«
»Ich könnte noch Russell fragen, ob er Lust hat …«
»Wir könnten ja auch an einem anderen Tag gehen, wenn Sie nicht so gut drauf sind.«
Thorne steckte seine Münzen in den Automaten. »Jetzt hören Sie mal, nachdem ich mich mit den Auswirkungen unseres zweiten Leichenfundes herumgeschlagen und wer weiß wie viele Stunden am Telefon verbracht haben werde, um bei der Hausratsversicherung und der Autoversicherung sowie bei Stellen anzurufen, die verantwortlich für die Beseitigung verschissener Matratzen sein könnten, werde ich vermutlich ein Bierchen vertragen können …«
Nachdem Holland weg war, stand Thorne Kaffee schlürfend vor der großen, abwischbaren weißen Tafel, die beinahe eine ganze Wand einnahm. Krumme, mit einem schwarzen Filzstift gezogene Linien markierten die Spalten und Reihen. Pfeile verwiesen auf Adressen und Telefonnummern. Die Aktionen des Tages, die jedem Teammitglied vom Büroleiter zugewiesenen Aufgaben. Die Namen der nur am Rand in den Fall verwickelten Personen. Die Namen der zentralen Personen: REMFRY, GRIBBIN, DODD …
Und in einer Spalte stand nur: JANE FOLEY??
Und jetzt wurde ein weiterer Name unter Dougie Remfrys Namen geschrieben, wobei noch jede Menge Platz frei blieb.
Thorne hörte ein Schniefen, wandte sich um und entdeckte Sam Karim hinter sich.
»Was macht der Kopf?«
»Was?«, fragte Thorne.
»Nach gestern Abend fühle ich mich wie aufgewärmte Scheiße …«
»Mir geht’s prima«, erwiderte Thorne.
Samir Karim war ein großer, geselliger Inder mit dichtem, silbergrauem Haar und einem breiten Londoner Akzent. Er pflanzte die Hälfte seines beträchtlichen Hinterteils auf die Schreibtischkante. »Auf diese Bänder ist auch geschissen …«
»Welche Bänder?«
»Die Videoaufnahmen aus dem Greenwood.«
Thorne zuckte mit den Schultern. Das überraschte ihn nicht.
»Ein paar kommen in Frage«, sagte Karim. »Man sieht sie aber nur von hinten. Die Kameras decken nur die Bar, die Rezeption und die Aufzüge ab. Man kann reinmarschieren und einfach die Treppe hochlaufen, ohne dass einen ein Schwein sieht. Man braucht nur zu wissen, wo die Kameras stecken …«
»Und er wusste, wo sie stecken«, sagte Thorne.
Ein, zwei Minuten starrten sie gemeinsam auf das Brett. »Das ist der Unterschied zwischen unserem Team und den anderen«, sagte Karim.
»Was?«
»Sie haben ein Opfer, wir haben eine Liste …«
In Fernsehserien und Filmen gibt es diesen Moment, diese ganz bestimmte Einstellung, dieses Klischee, die den Augenblick kennzeichnen, in dem der Groschen fällt. Im echten Leben wäre das der rettende Geistesblitz, wo man den Autoschlüssel hingelegt hat oder wie dieser Ohrwurm heißt, der einen so nervt. Für den Fernsehpolizisten handelt es sich dabei gewöhnlich um eine etwas sinisterere Erkenntnis. Der Augenblick, der in einem bestimmten Fall zum Durchbruch verhilft. Wenn dem Helden diese tiefe, brillante Erkenntnis dämmert, fährt die Kamera auf sein Gesicht zu, manchmal schnell, manchmal quälend langsam. Wie auch immer, sie rückt dem Helden nahe und bleibt da, zeigt, wie Erleuchtung in den Augen aufblitzt …
Thorne war kein Schauspieler. Da war kein entschlossenes Nicken, kein abgründiger Blick. Er stand, die Tasse Kaffee in der Hand, da, und die Kinnlade klappte ihm nach unten, als wäre er nicht ganz dicht.
Eine Liste …
Die Gewissheit traf ihn wie ein Kricketball. Er spürte, wie ihm aus jeder einzelnen Pore seines Körpers der Schweiß ausbrach. Es kitzelte, erst heiß, dann kalt.
»Alles in Ordnung, Tom?«, erkundigte sich Karim.
Kamera fährt nahe ran und hält die Einstellung …
Thorne spürte nicht, wie ihm der heiße Kaffee übers Handgelenk spritzte, als er durch das Zimmer, den Gang hinauf und in Brigstockes Büro marschierte.
Brigstocke blickte auf, sah den Ausdruck auf Thornes Gesicht und legte den Kugelschreiber weg.
»Was …?«
»Ich weiß, wie er sie findet«, sagte Thorne. »Wie er herausfindet, wo die Vergewaltiger sitzen …«
»Wie denn?«
»Das könnte alles sehr einfach sein. Unser Mann könnte im Gefängnisbereich arbeiten oder in den Pubs um Pentonville und Scrubs rumhängen in der Hoffnung, an Gefängniswärter ranzukommen. Aber das glaub ich nicht. Letztlich ist es nicht so schwer herauszufinden, wo man die Vergewaltiger eingesperrt hat. Da sind die Familien, die Gerichtsurteile … er könnte einfach in den Zeitungsarchiven herumstöbern, wenn er wollte …«
»Tom …«
Thorne trat rasch an den Schreibtisch, stellte seine Tasse darauf ab und begann, in dem kleinen Büro auf und ab zu laufen. »Es geht darum, was danach passiert. Um die Entlassungsdaten und die Adressen. Ich hatte gedacht, es könne irgendwie über die Familien laufen. Aber bei Welch gab es keine feste Heimatadresse. Seine Familie wollte nichts von ihm wissen und war bereits vor Jahren weggezogen.« Es sah hinüber zu Brigstocke, als läge es auf der Hand. Brigstocke nickte abwartend. »Entlassungsdetails können sich ändern, stimmt’s? Häftlinge kommen in andere Gefängnisse, Entlassungsdaten ändern sich, es können Tage hinzukommen. Der Mörder muss an die aktuellen Informationen herankommen …«
»Soll ich Sie etwa anflehen?«, fragte Brigstocke. »Oder rücken Sie heute noch damit heraus? Wie findet er sie?«
Thorne gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Genauso wie wir.«
Brigstocke zwinkerte zweimal hinter seiner Brille. Sehr langsam. Die Verwirrung auf seinem Gesicht machte etwas anderem Platz, das Bedauern hätte sein können. Oder dessen Vorstufe. »Aus dem Sex Offenders Register.«
Thorne nickte und griff nach seinem Kaffee. »Gott, wir gehören an die Wand gestellt, so lang, wie wir dafür gebraucht haben …«
Brigstocke atmete tief durch und lief dann langsam hinter seinem Schreibtisch auf und ab. Versuchte, diese entscheidende, aber erschreckende Information zu verdauen. Versuchte, irgendwie damit umzugehen. »Ich brauch es nicht selbst auszusprechen, oder?«, sagte er schließlich.
»Was?«
»Dass nichts davon rausgeht …«
Thorne sah auf, an Brigstocke vorbei. Eine Wolke zog vor die Sonne, aber in dem winzigen Büro war es noch immer brütend heiß. Er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief. »Nein, das ist nicht nötig.«
»Nicht nur, weil es … ein neuralgischer Punkt ist. Was es sehr wohl ist.«
Thorne war klar, dass Brigstocke Recht hatte. Die Registrierung der Sexualstraftäter war seit Jahren eine, wie die Boulevardpresse es auszudrücken pflegte, »politisch heikle Angelegenheit« gewesen. Das hier war ein gefundenes Fressen, um die Debatte über das »an den Pranger stellen« wieder neu anzufachen. Als er wieder zu Brigstocke sah, grinste der Detective Inspector.
»So könnten wir ihn kriegen, Tom.«
Darauf setzte Thorne …
Brigstocke lief um seinen Schreibtisch. »Gut, fangen wir mit den Institutionen an, die die Informationen über die Sexualstraftäter automatisch zugestellt bekommen.« Er begann, sie an den Fingern abzuzählen. »Das Sozialamt, die Bewährungshelfer …«
»Und natürlich wir«, warf Thorne ein. »Wir sollten den interessantesten Kandidaten nicht vergessen, Russell.«
Das Macpherson House befand sich in einer Seitenstraße des Camden Parkway. Im Laufe der letzten hundert Jahre war das Gebäude ein Theater, ein Kino und ein Bingosalon gewesen. Jetzt war mehr oder weniger nur noch die Hülle übrig, die ein Männerwohnheim beherbergte.
»Leck mich«, sagte Stone. Er verrenkte sich den Hals und sah hinauf zu der schmuddligen, bröckeligen Decke über ihm.
Holland folgte seinem Blick. An dem Stuck waren noch Reste von der Vergoldung zu sehen. Dekorative Gipsranken zogen sich über die Decke und endeten in den Ecken in vier Ornamentsäulen. »Muss mal super gewesen sein …«
Auf dem Boden lag eine Ausgabe des Daily Star von letzter Woche. Stone schob sie mit dem Fuß zur Seite. Er schnupperte die abgestandene Luft und schnitt eine Grimasse. »Eine Schande …«
Holland gab Stone eine kurze Einführung in die aufschlussreiche Geschichte des Hauses. Das Theater war in ein Kino umgewandelt worden. In den Siebzigerjahren hatte man aus dem Kino einen Bingosalon gemacht, eine damals sehr populäre Unterhaltungsform. Dreißig Jahre später war Bingo ein Opfer der allenthalben erhältlichen Rubbelkarten und des Lottos geworden.
»Vom Varieté zur Idiotensteuer«, bemerkte Holland.
Stone stichelte: »Daraus schließe ich, dass deine Zahlen nicht kamen.«
»Ich bin noch da, oder?«
Ihre Schritte hallten auf den abgenutzten Fliesen wider und wurden dann von fadenscheinigen Teppichen gedämpft. »Die Lotterie wird wohl bleiben, was soll die schon verdrängen?«
Holland schüttelte den Kopf. »Solange eine Nachfrage besteht.«
Sie liefen etwa drei Meter hinter Brian, dem Herbergsleiter, einem riesigen Kerl um die fünfzig mit langen grauen Haaren, einer großen Kreole im Ohr und einer bunten ärmellosen Jacke. Ohne sich umzuwenden, breitete er beide Arme aus, umfasste das Gebäude.
»Dafür wird es immer eine Nachfrage geben …«
Hier und jetzt, vierzig Meter unter dem Rokoko-Bombast, reihten sich zersprungene Waschbecken und Metallbetten aneinander. Dazu eine Küche und eine Durchreiche. Ein paar kleine Fernsehgeräte, die allesamt mit einem Schloss an die Heizkörper gekettet waren. Hinter den Betten standen entlang der Mauer Reihen von verkratzten und verbeulten Spinden – einige ohne Schloss, viele ohne Türen. Alle verrostet und mit Graffiti übersät.
»Bekamen wir für einen Pappenstiel«, sagte Brian. »Als das Schwimmbad unten an der Straße abgerissen wurde Holland hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Unter vielen Betten standen Schuhe, in der Regel Turnschuhe. Gelegentlich ein schäbiger Koffer. Dutzendweise Plastiktüten.
Stone zog die Jacke aus. »Größtenteils Penner, oder?«
Brian warf einen Blick über die Schulter. Holland fand, er sah aus, als ob er durchaus in der Lage wäre, sich durchzusetzen. Was sicher manchmal gelegen kam. »Die ganze Bandbreite. Langzeitobdachlose, Ausreißer, Junkies. Ab und zu ein entlassener Knasti wie Welch …«
»Was machen die tagsüber?«, wollte Holland wissen.
Der Hüne verlangsamte seine Schritte, bis Stone und Holland ihn eingeholt hatten. »Laufen draußen herum. Betteln. Versuchen, eine Unterkunft zu finden.« Er lächelte, als Holland ihn verwirrt ansah. »Hier ist es warm, und sie bekommen etwas zu essen, aber mit Schlafen läuft hier wenig. Die meisten haben Angst, dass ihnen was geklaut wird. Selbst wenn sie schlafen wollen, ist es nicht einfach. Hundert Typen, die ständig husten und sich auf knarrenden Matratzenfedern herumwälzen, machen mehr Lärm als ein Nachbar mit einem Schlagzeug …«
»Meine Exfreundin ließ mich die halbe Nacht nicht schlafen«, sagte Stone. »Redete im Schlaf, knirschte mit den Zähnen
Brian lächelte. »Jetzt ist es ruhig hier, aber wenn Essen ausgeteilt wird, verstehen Sie Ihr eigenes Wort nicht. Sie trudeln ein, sobald es dunkel wird. Um neun Uhr ist es hier gerammelt voll.«
Hollands Blick schweifte über die Betten, drei, vier Reihen hintereinander. Er konnte es sich lebhaft vorstellen.
Hier war sich jeder selbst der Nächste.
Der Heimleiter blieb stehen. Er klopfte gegen eine offene Spindtür und machte kehrt. »Der hier gehörte Mr. Welch. Ich bin vorne im Büro, wenn Sie etwas brauchen …«
Beide streiften sich Handschuhe über. Während Stone den Spind durchsuchte, kniete sich Holland auf den Boden und wühlte zum zweiten Mal in knapp zwei Wochen unter dem Bett eines soeben ermordeten Vergewaltigers herum.
Es dauerte keine zwei Minuten, um Welchs Habseligkeiten zusammenzusuchen: eine alte Reisetasche voller Klamotten, die nach Kleidersammlung rochen; eine Plastiktüte mit schmutziger Unterwäsche und Socken; ein mit weißen Farbspritzern übersätes Radio; ein Elektrorasierer; ein paar verknitterte Taschenbücher …
Hinten im Spind, in einem der Bücher, die Fotos von Jane Foley.
»Da ist sie«, sagte Stone und nahm ein Foto in die Hand. »Hübscher denn je.«
Holland stand auf und trat zu ihm, um einen Blick auf das Foto zu werfen. »Wie viele?«
»Eine halbes Dutzend. Briefe kann ich nirgends entdecken. Muss sie weggeworfen haben …«
Stone tütete die Fotos ein und steckte sie in seine Jackentasche. Den Rest packte Holland in einen schwarzen Müllsack. Als er fertig war, hob er den Sack auf. Er war nicht schwer.
»Nicht viel, hm?«, sagte er.
Stone warf die Spindtür zu und zuckte mit den Schultern. »Mehr wird’s nicht.«
Es war fast Mittag und bereits ziemlich heiß. Holland wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Er überlegte, was wohl Stone durch den Kopf ging. »Ist dir das scheißegal, weil Welch im Gefängnis saß?«, fragte er. »Oder weil er wegen Vergewaltigung im Gefängnis saß? Ehrlich, das interessiert mich …«
Stone dachte darüber nach. »Wahrscheinlich wäre es mir nicht ganz so scheißegal, wenn er ein Fälscher gewesen wäre«, sagte er schließlich. »Und noch ein Stück mehr scheißegal, wenn er ein Dutzend Schulmädchen abgemurkst hätte …«
Holland sah den Ausdruck auf Stones Gesicht und prustete los, als sie zum Eingang kamen. »Ich fass es nicht. Du hast tatsächlich eine Skala …«
Sie liefen die Parkway hinauf zu der Parkbucht, in der Stone den Cougar abgestellt hatte. In regelmäßigen Abständen säumten Müllsäcke, wie Holland einen trug, den Bürgersteig. Der Camden’s Sunday Market war nach Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett die zweitgrößte Touristenattraktion der Stadt geworden, und die Aufräumaktion am Tag danach wurde allmählich eine ähnlich unlösbare Aufgabe wie die Malerarbeiten an der Forth Bridge.
»Wie lange dauert es eigentlich noch, bis das Baby kommt? Ein paar Monate?«, fragte Stone.
Holland warf den Müllsack von einer Hand in die andere. »Zehn Wochen.«
»Sophie muss ja schon ziemlich dick sein …«
Holland schmunzelte und sah in das Schaufenster eines japanischen Restaurants. Betrachtete die Teller mit Plastiksushi. Rot, gelb und pink. Er schwor sich, in nächster Zeit mal so etwas zu probieren.
Sie gingen nach links, und Stone sperrte mit einem Knopfdruck das Auto auf. »Und? Aufgeregt?«
»Ja, sie ist sehr aufgeregt.«
Stone öffnete die Autotür und blickte dabei über das Dach zu Holland. »Ich meinte dich …«
»Heb deinen Hintern. Hoch in die Luft, genau. Und jetzt lass deine Finger wandern …«
Charlie Dodd machte sich nützlich. Das Studio war für eine Web-Cam-Session gemietet worden, und er hatte seine Dienste angeboten. Gratis. Munter gab er dem gelangweilt wirkenden Mädchen auf dem Bett Anweisungen, als das Telefon läutete.
Den Hörer in der feuchten Hand, brummte er einen kurzen Gruß und wartete.
»Ich hab Ihre Nachricht erhalten …«
Dodd erkannte die Stimme sofort. Ohne sich umzudrehen, gab er dem Mädchen auf dem Bett mit der Hand ein Zeichen, sie solle fortfahren, bevor er die Zigarette aus dem Mund nahm.
»Ich hab mich schon gefragt, wann ich von Ihnen hören würde.«
»Hatte viel zu tun am Wochenende.«
Dodd griff nach einer Plastiktasse und klopfte die Asche in den kalt gewordenen Teerest. »Was Interessantes?«
Ein paar Sekunden war nichts zu hören als Rauschen. »Sie sprachen von irgendeinem Gefallen, den Sie mir tun wollten.«
»Getan habe, mein Freund«, sagte Dodd. »Ich habe Ihnen bereits einen Gefallen getan. Einen sehr großen Gefallen.«
»Schießen Sie los …«
In Dodds Ohren klang der Mann am anderen Ende der Leitung gelassen. Wahrscheinlich nur gespielt. Versuchte wohl, besonders cool zu tun, weil er sich denken konnte, was ihn erwartete. Weil er wusste, dass ihn die Sache eine Stange Geld kosten würde, und er die Oberhand behalten wollte, falls es zum Feilschen kam. Allerdings wirkte er absolut überzeugend. Als wüsste er genau, worauf Dodd hinauswollte …
»Die Polizei war hier mit ein paar Ihrer Aufnahmen. Ein Foto von einem Mädchen mit einer Kapuze über dem Kopf.« Dodd wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. »Mir wurden viele Fragen gestellt …«
»Und Sie haben gelogen, Mr. Dodd.«
Dodd zog ein letztes Mal an seiner Zigarette. »Ich hab zu ein paar kleinen Notlügen gegriffen, ja. Und eine fette Lüge war auch dabei.« Er warf den Filter in die Plastiktasse und wandte sich zu dem Mädchen auf dem Bett um. »Ich hab gesagt, ich hätte Ihr Gesicht nie gesehen. Sie hätten nie den Motorradhelm abgenommen …«
Das Mädchen wackelte mit dem Hintern. Dodd fand ihr Gestöhne etwas übertrieben – die dumme Kuh klang, als hätte sie eine Lebensmittelvergiftung. An ihren Oberschenkeln waren rote Flecken. Endlich sagte der Mann am anderen Ende der Leitung wieder etwas …
»Los, Mr. Dodd. Spucken Sie’s aus. Nur nicht so schüchtern.«
Dodd fasste in seine Hemdtasche und zog die nächste Zigarette heraus. »Ich bin nicht schüchtern, mein Freund …«
Gut, das ist nämlich auch nicht nötig …«
»Zumindest nicht, was Geld angeht …«
Der Mann lachte. »Womit wir beim Thema wären. Hat keinen Zweck, um den heißen Brei herumzureden. Bei Ihrem Studio gleich um die Ecke befindet sich doch ein Geldautomat …«
Thorne befand sich irgendwo zwischen Brent Cross und Golders Green, als es ihm zunehmend schwer fiel, wach zu bleiben …
Er hatte das Versprechen, das er sich selbst und Holland gegeben hatte, gehalten, hatte das Royal Oak rechtzeitig verlassen, um die letzte U-Bahn Richtung Süden zu schaffen. Er war müde, und es gab noch so viel in der Wohnung in Ordnung zu bringen, dass es ihn keine große Überwindung kostete, vor der Sperrstunde aufzubrechen.
Er war gegangen, als Phil Hendricks angefangen hatte, richtig vom Leder zu ziehen. Häufig genug hatte er bereits klargestellt, wie er über den Sexual Offences Act dachte. Sobald im Pub das Gespräch auf die Registrierung der Sexualstraftäter kam, gab es für ihn kein Halten mehr …
»Und vergesst nicht die Schwulen«, hatte Hendricks gesagt. »Diese üblen Kanalratten, die pervers genug sind, den Sex mit ihren siebzehnjährigen Geliebten zu genießen, diesen jungen Kerlen, die freiwillig zu ihnen in die Kiste steigen.« Er spuckte diese Worte förmlich aus, wobei der Manchester-Akzent dem ironischen Ton eine aggressive Note verlieh.
Thorne war klar, dass Hendricks jedes Recht hatte, darüber aufgebracht zu sein. Es war lächerlich, wegen »grober Unzucht« belangte Männer mit Kinderschändern und Vergewaltigern in einen Topf zu werfen. Selbst wenn eines Tages die gesetzlichen Regelungen geändert würden und Homosexuelle mit Sechzehnjährigen Verkehr haben durften, würden die deswegen zuvor Verurteilten dennoch keineswegs aus dem Register gelöscht werden.
Thorne konnte den Worten seines Freundes nur beipflichten. Das Letzte, was er von ihm hörte, als er den Pub verließ, war: »Dieses Gesetz dient lediglich zur Ausgrenzung der Schwulen, reine Schikane …«
Eve hatte angerufen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, als er unterwegs zur U-Bahn-Station in Colindale war. Während sie miteinander sprachen, lief Thorne an einem Kentucky Fried Chicken, einer Imbiss- und mehr als einer Kebabbude vorbei. Sein Magen knurrte, und er wollte sich schon etwas kaufen, änderte jedoch seine Meinung, als er Eve von dem Einbruch erzählte und dem kleinen Geschenk, das man ihm hinterlassen hatte.
»Zumindest ein originelles Geschenk«, hatte Eve gesagt.
Thorne lachte. »Stimmt, und etwas Selbstgemachtes ist ja auch viel netter, oder?«
Thorne ließ sich Zeit. Er war ins Gespräch vertieft, achtete aber dennoch wie immer auf sein Umfeld. Keine Bewegung auf der anderen Straßenseite, an der nächsten Straßenecke oder hinter den geparkten Autos entging ihm. Das hier war zwar nicht Tottenham oder Hackney, aber es war nichtsdestotrotz daneben, sich wie ein Idiot zu verhalten, wenn Leute für ein Handy im Wert von 9 Pfund 99 niedergeschossen wurden …
»Und … wann wirst du dir ein neues Bett kaufen?«, fragte Eve.
»Ach, irgendwann schaff ich das schon …«
»Das hoffe ich aufrichtig.«
Sie alberten herum, aber plötzlich spürte Thorne einen ernsten Unterton. Ein Anzeichen von Ungeduld.
»Wir können uns ja immer noch bei dir treffen, oder?«, sagte er.
Eine kurze Pause entstand. Dann: »Das könnte Probleme geben. Denise ist da manchmal komisch …«
»Wenn du Herrenbesuch hast?«
»Wenn die Herren bleiben … »
Thorne hörte ein Seufzen, als hätte Eve dieses Gespräch schon öfters geführt. Wahrscheinlich mit Denise. »Moment mal, Ben bleibt doch auch?«
»Ich weiß, es ist verrückt. Aber glaub mir, es ist chancenlos …«
Dann war Thorne an der U-Bahn-Station angekommen, und sie beließen es dabei. Während er die Münzen in den Fahrkartenautomaten steckte, verabredeten sie sich noch schnell für nächste Woche. Sie verabschiedete sich von ihm, als er mit der Rolltreppe nach unten fuhr, und bevor er etwas darauf erwidern konnte, war das Signal weg.
Die U-Bahn war so gut wie leer. Ein Teenagerpärchen saß am anderen Ende des Wagens, das Mädchen hatte den Kopf auf die Schulter ihres Freundes gelegt. Er streichelte ihr über die Haare und murmelte ihr Dinge ins Ohr, die ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberten.
Thorne holte tief Luft. Es kam ihm vor, als sei sein Kopf in Watte gepackt. Er hatte nur zwei Pints getrunken, aber sein Kopf wurde mit jedem Ruckeln und Schwanken des Zuges schwerer. Er musste wach bleiben. So groß die Versuchung war, die Augen zu schließen, den Kopf nach hinten zu legen, er durfte keinesfalls einnicken, um dann an der Endhaltestelle aufzuwachen.
Das Gespräch mit Eve ging ihm nicht aus dem Kopf. Als sie sich verabredeten, warum hatte er da nicht darauf gedrängt, sich früher zu treffen? War das Panik gewesen, was er fühlte, als sie über das Bett redete? Vielleicht hatte er einfach nur zu viel um die Ohren, mit dem Fall und seinem alten Herrn und nun auch noch mit dem Einbruch. Vielleicht setzte er unbewusst Prioritäten. Auf alle Fälle war er zu kaputt, um auch nur einen klaren Gedanken zu verfolgen …
In Hampstead stieg ein Mann ein, der, obwohl genug Plätze frei waren, lieber am Wagenende stehen blieb und sich an der Stange über seinem Kopf festhielt. Thorne betrachtete den Mann. Er war sehr groß und dünn und hatte ein kantiges Gesicht, dazu einen wilden Schopf fast grauer Haare und ein ganzes Arsenal an bizarren Tics, von denen Thorne den Blick nicht losreißen konnte …
Schnell wurde ihm klar, dass der Tic, der Thornes Vermutung nach auf das Tourette-Syndrom zurückzuführen war, aus drei Teilen bestand. Zuerst zog der Mann die Augenbrauen theatralisch in die Höhe und zuckte mit dem Kinn. Eine Sekunde später drehte er den Kopf zur Seite, um zum Schluss die Kiefer aufeinander zu knallen, so dass die Zähne wie Kastagnetten klapperten. Fasziniert und schuldbewusst zugleich beobachtete Thorne, wie sich dieser aus drei Teilen bestehende Ablauf ständig wiederholte. Er fing an, jeder Zuckung einen Titel und einen Soundeffekt zuzuweisen. Die Augenbrauen, die Kopfdrehung, das Kieferklacken. Drei Bewegungen, die in ihrer schnellen Abfolge Überraschung, Interesse und letztlich eine bittere Enttäuschung auszudrücken schienen. Bewegungen, die sich für Thorne anhörten wie: »Ooh! Aber hallo! Ach!«
Nein wirklich! Klingt interessant! Ach, scheiß drauf …
Nach ein, zwei Minuten schien der Mann seinen Anfall unter Kontrolle zu bekommen, und Thorne wandte sich ab. Das junge Pärchen links hinten war ausgestiegen und von einem Pärchen ersetzt worden, das ein gutes Stück älter und weniger körperkontaktversessen war. Die Frau fing Thornes Blick auf und ließ den ihren auf den Boden fallen, als handle es sich dabei um Abfall.
Als Thorne wieder nach rechts sah, starrte der Mann, der sich an der Stange festhielt, direkt in seine Richtung.
Thorne lehnte sich zurück und spürte, wie sein Kopf, der ihm so groß und wacklig wie der eines Babys erschien, gegen das Fenster schlug. Die Scheibe fühlte sich kühl an.
Er schloss die Augen.
Es waren nur noch ein paar Stationen bis Camden, wo er umsteigen musste. Er konnte es sich nur erlauben, ein, zwei Minuten zu dösen, musste wach bleiben und die Haltestellen zählen, während er davonschwebte zu seinem Hügel …
Kaum hatte Thorne diesen Gedanken zu Ende gedacht, schlief er bereits.