Dreiundzwanzigstes Kapitel
Thorne wirkte nicht überzeugt. »Ich habe noch nie eine Aussage am selben Ort aufgenommen, an dem ich meine Hosen kaufe.«
»Es gibt immer ein erstes Mal«, erwiderte Holland.
Sie trugen ihre Kaffeetassen zu dem Platz, an dem Irene Noble auf sie wartete, flankiert von großen Marks-&-Spencer-Einkaufstüten – obwohl das Geschäft erst seit etwa einer halben Stunde geöffnet hatte. Eingezwängt in eine Ecke der Damenbekleidungsabteilung und bereits halb voll mit Kunden, die offensichtlich ebenso früh an den Start gegangen waren wie Irene Noble, war das Café eine relativ neue Errungenschaft in dem großen Laden an der Oxford Street.
Als Thorne sich neben Holland hinter den Tisch zwängte, ließ er den Blick über das Dutzend Frauen schweifen, die gerade eine kleine Pause machten, bevor sie erneut loslegen würden. Dazwischen ein, zwei gelangweilt wirkende Männer, die dankbar waren für die Gelegenheit, sich hinsetzen zu dürfen und ein paar Minuten lang nicht um ihre Meinung gebeten zu werden.
Irene Noble zog eine kleine Plastikbox mit Süßstoff aus ihrer Handtasche. Sie drückte auf den Deckel und ließ eine winzige Tablette in ihren Latte Macchiato fallen, während sie mit hochgezogenen Augenbrauen zu Holland sah. »Wahrscheinlich halten sie mich für Ihre Mutter«, sagte sie.
Sie hatte sich gut gehalten für eine Frau, die um die sechzig sein musste, obwohl sie es in Thornes Augen ein bisschen übertrieb. Das Haar war eine Spur zu blond, der feuerwehrrote Lippenstift etwas zu dick aufgetragen. Thorne kam es vor, als sei dieses Stadium das letzte, bevor man aufgab. Bevor man sein Alter gegenüber Fremden erwähnte und stets einen Mantel trug …
»Erzählen Sie uns mehr über Mark und Sarah, Mrs. Noble.«
Sie überlegte einen Augenblick und lächelte flüchtig, bevor sie an ihrem Kaffee nippte. »Roger scherzte immer, die beiden seien uns beim Umzug abhanden gekommen. Wie eine Teebüchse, die man nicht mehr findet.« Sie sah die Reaktion auf Thornes Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das war nicht böse gemeint, es war liebevoll. So war er nun mal. Er versuchte, mich zum Lachen zu bringen, wenn ich weinte, verstehen Sie? Ich weinte viel, als es passierte …«
»Das war, kurz nachdem Sie die Kinder adoptierten?«, fragte Holland.
»Anfang 1984. Da hatten wir sie schon vier Jahre. Es gab ein paar Probleme, natürlich, aber dann renkte sich alles ein.«
Thorne registrierte den gekünstelten Tonfall. Eine »Telefonstimme«. Seine Mutter hatte auch so geredet. Das affektierte Getue für Ärzte, Lehrer und Polizisten …
»Es gab vorher Probleme, nicht wahr?«, sagte Holland. »Bei den vorherigen Pflegeeltern.«
»Richtig. Und sie warfen sofort die Flinte ins Korn. Nur Roger und ich hielten durch. Uns war klar, da musste man einfach durch. Sie waren beide sehr verstört, und dazu hatten sie weiß Gott jedes Recht.«
»Was für Probleme waren das?«
Sie zögerte ein paar Sekunden, bevor sie antwortete. »Verhaltensauffälligkeiten. Probleme, sich anzupassen, verstehen Sie? Roger und ich dachten, wir hätten es unter Kontrolle gebracht. Offensichtlich hatten wir uns getäuscht.« Sie nahm den Teelöffel und schaute in ihre Kaffeetasse, während sie umrührte. »Verhaltensauffällig.« Sie wiederholte das Wort, als handle es sich um einen medizinischen Fachausdruck. Thorne warf Holland einen Seitenblick zu, auf den dieser mit einem Achselzucken reagierte.
»Sie beschlossen also, die beiden zu adoptieren?«, fragte Holland. Mrs. Noble nickte. »Wie haben die Kinder darauf reagiert?«
Sie sah Holland an, als habe dieser soeben eine sehr dumme Frage gestellt. »Sie hatten ihre leiblichen Eltern verloren und waren von sämtlichen Pflegeeltern, die sie seither gehabt hatten, im Stich gelassen worden. Die beiden waren begeistert, dass wir eine richtige Familie sein würden. Und das waren wir auch. Roger und ich, wir hatten uns immer Kinder gewünscht. Bei diesen beiden entging uns vielleicht die Windelphase, aber schlaflose Nächte hatten wir genug, das kann ich Ihnen sagen …«
»Ich kann es mir vorstellen«, erwiderte Thorne.
»Und auch, als sie verschwunden waren. Viele …«
»Wie verschwanden sie denn?«
Sie schob ihre Tasse zur Seite, legte die leberfleckenübersäten Hände übereinander. »Wir zogen am Samstagmorgen um, und es war das übliche Chaos, verstehen Sie? Überall Schachteln und Möbelträger, die ständig auszurutschen drohten, weil es frisch geschneit hatte. Wir sagten den Kindern, sie könnten ihre eigenen Sachen einräumen, also machten sie sich daran. Verschwanden nach oben …«
»Und stritten wohl, wer das größte Zimmer bekommt?«
Sie warf Thorne einen Blick zu. »Nein. Die Schlafzimmer hatten wir bereits zu Anfang verteilt, vor dem Umzug …«
»Was geschah dann?«, fragte Thorne.
»Sie brauchten ihre eigenen Zimmer, verstehen Sie?«
»Was geschah dann, Mrs. Noble?«
»Niemand hörte, als sie gingen, niemand sah etwas. Sie lösten sich in Luft auf wie Geister …«
»Wann haben Sie bemerkt, dass die beiden weg waren?«
»Wir hatten alle Hände voll zu tun, das können Sie sich sicher vorstellen. Wir versuchten, den Laden zum Laufen zu bringen. Die Teebeutel und der Wasserkessel waren unauffindbar.« Sie begann, an ihren Fingernägeln zu knibbeln. »Es war beim Abendessen, denke ich. Ich weiß es nicht mehr genau, es war bereits dunkel …«
»Was haben Sie gedacht?«
»Anfangs dachten wir uns eigentlich nicht viel. Die beiden waren immer viel unterwegs. Sie waren sehr unabhängig und ständig gemeinsam auf Achse. Allerdings hatte Mark stets ein Auge auf seine Schwester. Er kümmerte sich immer um Sarah.«
Thorne warf Holland einen Blick zu. »Wann wurde die Polizei gerufen?«, fragte Holland.
»Am nächsten Morgen. Als sie morgens immer noch nicht da waren, war uns klar, dass etwas nicht stimmte. Als ihre Betten unbenutzt waren …«
Thorne beugte sich vor. Er nahm einen der italienischen Kekse, die zu dem Kaffee gereicht wurden, und brach ihn auseinander, wobei er beiläufig fragte: »Wer rief die Polizei?«
Die Antwort kam ohne Zögern. »Roger. Nun, er rief nicht an, sondern lief selbst zur Wache. Er dachte, wenn er dort persönlich vorstellig wurde, würde der Fall schneller behandelt. Und er hatte Recht. Zwei von ihnen kamen zum Haus, während ich im Park und in den umliegenden Straßen nach den beiden suchte.«
»Roger sagte Ihnen, sie wären vorbeigekommen?«
Sie nickte. »Sie warfen einen Blick in die Kinderzimmer, verstehen Sie? Stellten die üblichen Fragen. Nahmen ein paar Fotos mit …«
Thorne sah zu Holland. Erinnerte ihn, Fotos von Mark und Sarah für Brigstockes digitales Alterungsprojekt zu besorgen. Holland verstand, nickte und machte sich eine Notiz. Thorne steckte sich den Rest des Kekses in den Mund, kaute ein paar Sekunden darauf herum, bevor er wieder das Wort ergriff.
»Ging die Polizei von Anfang an davon aus, die Kinder seien ausgerissen?«
»Nun, das war ja das Problem. Alles war noch in Schachteln verpackt, überall und nirgends. Es war schwierig, sofort festzustellen, ob sie etwas mitgenommen hatten …«
»Aber nach einiger Zeit kamen sie zu dem Schluss«, sagte Thorne.
»Ja, nach ein, zwei Tagen hatte ich herausgefunden, welche Kleidungsstücke fehlten. Auch etwas Geld fehlte, aber das merkte ich erst später. Ich dachte, ich hätte es in dem ganzen Umzugschaos verlegt. Sobald die Polizei über die Kinder Bescheid wusste, was sie alles durchgemacht hatten, gingen sie davon aus, dass die beiden ausgerissen waren …«
»Was wurde unternommen?«
»Sie waren sehr gründlich. Suchten überall, im ganzen Land. Aufrufe an die Bevölkerung, Suchanzeigen in allen Polizeiwachen, Dinge in der Art. Roger wurde ständig auf dem Laufenden gehalten. Sie nahmen es sehr ernst. Zumindest die ersten zwei Wochen, meinte Roger.«
»Roger meinte …«
»Das ist richtig. Er ging jeden Tag hinunter und machte Druck. Manchmal sogar zweimal am Tag. Fragte sie, was sie in der Sache unternahmen.«
»Sie sagten, die ersten zwei Wochen. Und danach …?«
»Nun, sie erklärten Roger, um genau zu sein, war es ein Chief Inspector, der es ihm erklärte, man sei überzeugt, die Kinder seien in Sicherheit. Sie waren sich sicher, verstehen Sie, dass sie es herausgefunden hätten, falls Mark und Sarah etwas zugestoßen wäre. Ich nehme an, sie meinten damit, sie hätten eine Leiche gefunden …«
Thorne bemerkte, dass die Haut um Irene Nobles Fingernagel, wo sie herumgezupft hatte, eingerissen war und leicht blutete. Er sah zu, wie sie eine Serviette mit der Zunge befeuchtete und damit das Blut wegtupfte. Als sie weitersprach, fiel ihm auf, dass die Telefonstimme verschwunden war und der breite Essex-Akzent durchkam.
»Ich hatte nie eigene«, murmelte sie. »Ich kann nicht sicher sagen, ob ich deshalb weniger spürte, weil Mark und Sarah nicht meine eigenen Kinder waren, nicht mein eigenes Fleisch und Blut. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?« Thorne nickte. »Nachdem die Polizei Roger sagte, die Kinder wären in Sicherheit, war es nicht mehr so schlimm, wissen Sie. Wir hatten nicht mehr so viel Angst um die beiden. Aber wir vermissten sie natürlich sehr. Schließlich gewöhnten wir uns daran, dass wir sie vermissten …«
»Haben Sie je selbst mit einem Polizisten gesprochen?«, fragte Thorne. »In der ganzen Zeit, in der nach Mark und Sarah gesucht wurde, hatten Sie da je mit jemandem von der Polizei Kontakt?«
Thorne hatte ein Zögern erwartet, ein Erbleichen, doch stattdessen zeigte sie ihm ein Lächeln. Nach ein paar Sekunden verblasste es allerdings, und sie wirkte plötzlich traurig. Als sie schließlich anfing zu reden, schwang ein liebevoller Ton in ihrer Stimme mit …
»Roger wollte mich vor all dem abschirmen. Er machte alles, nahm alles in die Hand. Vielleicht war das seine Art, mit der Sache umzugehen, sich so hineinzustürzen und die Verantwortung zu übernehmen, aber mir war klar, er versuchte, mich zu beschützen. Er kümmerte sich um die offizielle Seite des Ganzen. Der Stress und dazu diese Sache an der Schule trieben meinen Mann ins Grab.«
Thorne zwinkerte und atmete zweimal tief durch. Ein Verdacht, ein Gefühl, begann Gestalt anzunehmen. »Was war das für eine Sache an der Schule?«, fragte er.
»Roger arbeitete drüben in St. Joseph’s. Das ist die Schule, in die auch Mark und Sarah gegangen wären.« Sie erwähnte es einfach so, als wäre nichts weiter dazwischengekommen als eine missglückte Aufnahmeprüfung. »Es war nur ein Teilzeitjob, nichts Großes, aber er kümmerte sich um den ganzen Kleinkram, der erledigt werden musste. Eines Tages taucht dieser Kerl auf, der Vater eines Schülers, und hämmert an die Tür. Erklärt, sein Sohn sei da in etwas verwickelt, und erwähnte dabei Rogers Namen. Absoluter Quatsch natürlich, der Kerl war auf irgendwas drauf, aber Roger war ganz aus dem Häuschen. Dieser Irre ließ es nicht dabei bewenden und ging zum Direktor. Die Schule wollte es nicht an die große Glocke hängen, was ja auch richtig war. Lag ja auf der Hand, wie albern das alles war. Doch Roger war es wichtig, das Richtige zu tun. Am Ende kündigte er ohne großes Tamtam, um es für die Kinder einfacher zu machen. Das war typisch für ihn. Das Ganze war ein Skandal, eine Schande, dass überhaupt jemand auch nur auf die Idee kommen konnte … Es waren immer Kinder hier nach der Schule und in den Ferien. Immer Kinder im Haus …«
»Roger mochte Kinder …«
Sie blickte auf, einen sanften Ausdruck in den Augen, dankbar für Thornes Verständnis. »Das ist richtig. Er hätte es nie zugegeben, aber tief drin, denke ich, versuchte er stets, über den Verlust von Mark und Sarah hinwegzukommen. Mit anderen Kindern beisammen zu sein war seine Art, damit umzugehen. Später, nach diesem unerfreulichen Vorfall, wurde ihm alles zu viel. Am Ende schaffte es sein Herz einfach nicht mehr …«
»Wie sind Sie damit umgegangen, Irene?«, fragte Thorne.
»Ich betete nur, dass den Kindern nichts zustößt«, sagte sie. »Dass Mark und Sarah, wo immer sie hingingen, nachdem sie uns verließen, kein Leid geschehe … »
Dieser Satz ging Thorne nicht aus dem Kopf, als sie sich durch den dichten Verkehr im West End kämpften, Zentimeter für Zentimeter um Marble Arch krochen.
»Das war sehr praktisch für Roger Noble«, sagte Holland. »Dass die Kinder genau während eines Schulwechsels ausrissen. Sie verschwanden einfach aus sämtlichen Schulunterlagen …«
»Das kam sicher gelegen«, meinte Thorne.
»Sie rissen doch aus? Ich denke nur laut … »
Thorne schüttelte den Kopf. »Es war Nobles Schuld, dass sie ausrissen. Deshalb hat er es nie gemeldet. Aber ich glaube nicht, dass was Schlimmeres dahinter steckt. Wenn er sie umgebracht hätte, nach wem suchen wir dann?«
»Was tun wir jetzt?«, fragte Holland. »Sollen wir es melden? Der Scheißkerl könnte noch jede Menge anderer Kinder missbraucht haben.«
»Zwecklos. Er ist lange tot. Jetzt kann er keinem Kind mehr was zuleide tun.«
»Was ist mit ihr? Glauben Sie, sie wusste Bescheid?«
Thorne dachte darüber nach, was Irene Noble gesagt hatte. Darüber, dass sie darum betete, den Kindern möge kein Leid geschehen. Er schüttelte den Kopf. Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie das nicht sagen müssen, sondern es einfach dabei bewenden lassen können.
Im Grafton Arms, ein paar Meter von seiner Wohnung entfernt, genehmigte sich Thorne ein paar Pints und eine Hand voll Spiele am Pooltisch mit Phil Hendricks. Das Bier schien ein wenig Wirkung zu zeigen, und er verlor fünf von sechs Spielen.
»Macht nicht so viel Spaß wie sonst, dich zu deklassieren«, sagte Hendricks. »Du bist zu sehr mit dem ganzen anderen Scheiß beschäftigt.« Thorne, der an der Bar lehnte, sagte nichts dazu. Er beobachtete, wie Hendricks die letzten gestreiften Kugeln versenkte, bevor er problemlos die schwarze hinterherschickte. »Wie wär’s, wenn wir um Geld spielen? Vielleicht fördert das deine Konzentration …«
»Lassen wir es«, sagte Thorne. »Ich trink das Glas hier aus, und dann geh ich nach Hause …«
Hendricks nahm sein Guinness, das er auf dem Zigarettenautomaten abgestellt hatte, und ging hinüber an den Tresen zu Thorne. »Ich versteh es noch immer nicht«, sagte er. »Wie konnten sie nichts davon wissen? Keinen blassen Schimmer davon haben …?«
Kopfschüttelnd setzte Thorne das Glas an die Lippen. Unter anderem hatten sie über Irene Noble und Sheila Franklin gesprochen. Über zwei Frauen, die mehr oder weniger gleich alt und mit Männern verheiratet gewesen waren, die sie geliebt hatten und an die sie sich nun, da sie Witwen waren, zärtlich und liebevoll erinnerten. Zwei Männer, die in der Erinnerung fortlebten, hoch geschätzt und geliebt …
Der eine ein Vergewaltiger und der andere ein Kinderschänder.
Thorne schluckte. »Kann auch das Alter sein. Weißt schon, eine andere Generation.«
»Quatsch«, sagte Hendricks. »Was ist dann mit meiner Mum und meinem Dad?« Thorne hatte die beiden einmal getroffen. Sie hatten ein Gästehaus in Salford. »Mein alter Herr konnte nicht mal furzen, ohne dass meine Mum es mitbekommen hat …«
Thorne nickte. Da war was dran. »War bei meinen genauso …«
»Sie wusste, was er dachte, und erst recht, was er tat.«
Hendricks langte in die Brusttasche seiner Jeansjacke und zog eine Silk Cut aus einem Zehnerpäckchen. Thorne war irritiert, so wie nur ein ehemaliger Raucher irritiert sein konnte. Irritiert über die Tatsache, dass sein Freund eine oder zwei rauchen konnte und dann das Päckchen ein oder zwei Wochen lang wegsteckte, bis er Lust auf die nächste hatte. Rauchen, es genießen und nicht gleich auf die nächste gieren. Ein Päckchen mit zehn, mein Gott …
»Werden sie es erfahren?«, fragte Hendricks. »Diese Frauen? Wird ihnen jemand die schlechten Neuigkeiten über ihre toten Männer auftischen?«
»Im Augenblick stellt sich diese Frage nicht. Wenn wir ein Ergebnis haben, werden sie es früh genug erfahren Hendricks nickte und zündete sich seine Zigarette an. Die blauen Rauchkringel entschwebten an den Pooltisch, wo nun ein Mann und eine Frau spielten. Sie blieben in dem Lichtkegel über dem Tisch hängen.
»Vielleicht glauben wir nur zu wissen, was bei unseren Eltern lief«, sagte Thorne. »Vielleicht wissen wir nicht mehr oder weniger als die beiden.«
»Ich nehm an …«
»Es gibt einen alten Countrysong, der heißt Behind Closed Doors« …«
»Verdammt, geht das schon wieder los …«
»Stimmt doch, oder? Oft ist Familiengeschichte pure Mythologie. Scheiße, die einfach weitergegeben wird und bei der man nie weiß, was wirklich geschah und was nur erfunden ist. Niemand denkt auch nur daran, sich hinzusetzen und es zu erzählen. Die Wahrheit, wie’s wirklich war. Bevor man es merkt, beruht die eigene Geschichte nur auf Hörensagen.« Thorne trank von seinem Bier. Ihm war klar, an irgendeinem Punkt hätte er mit seinem Vater reden sollen. Mehr über seine Eltern und deren Eltern in Erfahrung bringen sollen. Ihm war klar, dass das nun zwecklos war …
»Wahnsinn«, sagte Hendricks. »Das steckt alles in einem Song?«
»Du bist ein solches Arschloch …«
Sie verließen die Bar, um Platz für ein paar junge Kerle zu machen, und tranken ihr Bier neben der Tür.
»Wie hilft dir das alles mit Mark Foley weiter?«, fragte Hendricks.
»Er ist noch immer unser Hauptverdächtiger.«
»Wer immer er auch sein mag …«
»Richtig. Und wo immer er sein mag. Aber er macht mein Leben nicht gerade einfach.«
»Er macht bestimmt einen Fehler. Und dann nageln wir ihn fest …«
»Ich rede nicht davon, ihn dingfest zu machen.« Es fiel Thorne schwer, an seinen Mörder zu denken, ohne ihn sich als fünfzehnjähriges Kind vorzustellen. Er sah einen Jungen, der seine Schwester beschützte, sie von dem Platz wegbrachte, an dem einer – oder vielleicht beide – von ihnen missbraucht wurde. »Ich versuche noch immer herauszufinden, was er ist.« Thorne wandte sich Hendricks zu. »Das Ganze ist total verquer, Phil. Mark Foley oder Noble oder wie immer er sich jetzt nennt ist ein Mörder, und er ist ein Opfer.«
Hendricks zuckte mit den Schultern. »Das heißt?«
»Das heißt, es gibt da einen Teil von ihm, den ein Teil von mir nicht wirklich fassen will …«
Thorne begleitete Hendricks zur U-Bahn. Hendricks fragte Thorne nach Eve, machte sich lustig über ihn, als er von ihrem heißen Date am Samstag hörte, und jammerte über sein eigenes ereignisreiches, aber letztlich ödes Liebesleben.
Thorne schenkte ihm nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Er war müde und stellte sich vor, wie er sanft auf seinen Hügel schwebte, wie der Farn ihm zuwinkte, als er näher kam. Plötzlich war Jane Foley neben ihm, schwebte herunter auf die Erde, und obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte, stellte er sich den Schmerz darin vor, den sie um ihretwillen und um ihrer Kinder willen empfand.
Thorne wusste, dass er und Jane Foley, wenn sie auf dem Boden aufkamen, geradewegs durch den Farn hindurchschweben würden. Er wusste, dass der Hügel unter ihrem Gewicht zusammenbrechen und sie einsinken würden, tief unter die Erde, durch das Wasser und das verrottete Holz alter Särge. Und weiter durch pulvrige Knochen und in die Dunkelheit, wo Stille herrschte und die Erde schwer auf ihnen lastete.