19.

Dan hatte wieder einmal Nachtschicht. Als ich nach Hause kam, war er bereits zur Arbeit aufgebrochen. Am Kühlschrank hing ein Zettel von ihm: »Ich hoffe, dein Tag war nicht allzu stressig. Ruf mich an, wenn du die Zeit findest. x.«

Ich hatte an diesem Abend Bereitschaft und musste daher mein Handy anlassen. Trinken durfte ich auch nichts, obwohl ich mich von ganzem Herzen nach einem großen Glas Wein sehnte. Aber es konnte ja sein, dass ich zu einem Notfall gerufen wurde und noch fahren musste. Um kurz nach acht – ich kochte mir gerade Lachs mit Brokkoli und Kartoffeln – erhielt ich mehrere Anrufe von Sergeants, die meinen Rat brauchten. In Butetown hatte es einen Unfall mit Todesfolge gegeben, und es war ein Jugendlicher verhaftet worden, der ein Golfcart gestohlen hatte und damit in einem betrunkenen Akt der Rebellion die M4 entlanggefahren war. Dieser Fall würde am Morgen bestimmt für einigen Presserummel sorgen.

Nach dem Essen holte ich das Hochzeits-Notizbuch hervor und sah mir an, was vor dem rasant näher rückenden großen Tag im Juni noch alles erledigt werden musste. Die Liste war lang, und die wichtigsten Punkte bestanden darin, ein Brautkleid zu kaufen und Anzahlungen an eine ganze Anzahl von Dienstleistern zu überweisen, aber ich legte das Notizbuch nach ein paar Minuten wieder weg.

Der Juwelier hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, um uns mitzuteilen, dass die maßgefertigten Hochzeitsringe fertig seien und wir sie jederzeit abholen könnten.

Ich versuchte fernzusehen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Meine Gedanken schossen umher wie der Ball in einem Flipperautomaten. Auch Lesen stellte sich als unmöglich heraus. Tagsüber war ich rund um die Uhr beschäftigt gewesen und hatte auf Autopilot geschaltet, um halbwegs professionell mit der Brandstiftung umgehen zu können und dabei kompetent und selbstbewusst zu wirken. Das war mir auch gelungen, bis ich die Taschenlampe auf Bodies Schreibtisch entdeckt hatte. Und nun saß ich allein zu Hause und kam nicht zur Ruhe. Die Nacht hatte unser Haus und die Straße verschluckt, und die Welt lag stumm und dunkel da, ein Meer aus Komplikationen.

Die ganze Zeit befürchtete ich, dass das Telefon klingelte und ich die Nachricht erhielt, dass sich jemand auf unseren Zeugenaufruf gemeldet hatte. War ich unvorsichtig gewesen? Hatte jemand mein Auto an der Landstraße in Aberthin parken sehen und sich das Nummernschild aufgeschrieben? Während ich den kalten Brokkoli auf meinem Teller herumschob, fragte ich mich, ob vielleicht in diesem Moment schon der Anruf eines Detective Constable vom nächsten Satelliten abprallte und auf dem Weg zu meinem Telefon war.

Würde bald eine weitere SMS von Justin eintreffen, in der er mir die Modalitäten für die nächste Zahlung nannte?

Immer wieder erschienen die »Surfschlampen« vor meinem inneren Auge. Zwei Kondome. Zwei Kondome im Ferienhaus am nächsten Morgen. Würde Justin mich kontaktieren?

Oder würde einer meiner uniformierten Kollegen anrufen und sagen: »Ich hätte da mal ein paar Fragen an dich?« Hatte ich das Richtige getan, indem ich die Taschenlampe manipuliert hatte? Fingerabdrücke konnte ich dabei nicht hinterlassen haben, schließlich hatte ich Handschuhe getragen. Aber was, wenn ich an jenem Abend im Wohnwagen Spuren hinterlassen hatte? Was, wenn jemandem auffiel, dass die Asservatentüte nicht mehr so aussah wie vorher? Was, wenn jemand die Dienstnummer auf der Taschenlampe bereits gesehen und notiert hatte, und sich jetzt verwirrt fragte, wie sie verschwunden sein konnte? Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht – o Gott!

Aber die Tüte hatte auf einem Stapel mit Beweismitteln gelegen, die noch archiviert werden mussten. Es sah aus, als seien sie einfach in aller Eile vom Tatort mitgenommen und auf dem Schreibtisch abgelegt worden. Natürlich hätten sie nicht einfach so in einem unverschlossenen Büro herumliegen dürfen, aber solche Dinge passierten nun mal, wenn Polizisten nach Zwölfstundenschichten Hunger hatten und erschöpft waren, wenn sie dringend auf die Toilette mussten oder sich ein Sandwich holten. Für mich konnte das nur von Vorteil sein, denn derjenige, dem diese Nachlässigkeit unterlaufen war – vermutlich war es Bodie gewesen –, wollte bestimmt keine unnötige Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass er die Beweisstücke unbeaufsichtigt hatte herumliegen lassen.

Während ich über die vielen Unbekannten in der Gleichung nachgrübelte, schlichen die Stunden so langsam dahin, dass ich mich an längst vergessene Winterwochenenden während meiner Kindheit erinnert fühlte, kalte graue Tage, die mir endlos vorgekommen waren.

Der graue Winterhimmel hatte düster über unserem kleinen Reihenhaus gehangen, und die Zeit hatte sich schleichend auf das Ende eines öden, leeren Tages zubewegt, das mir als Acht- oder Neunjähriger unendlich weit weg erschienen war.

Mein Dad saß an solchen Tagen immer in seiner alten Strickjacke mit einem Becher Tee in der Hand, Hausschuhen an den Füßen und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen auf dem braunbeigen Sessel. Meine Mutter hingegen stand mit einem Küchentuch über der Schulter in der Küche und bewegte sich innerhalb eines engen Radius um die Küchenspüle herum, wo ständig etwas zu tun zu sein schien. Prinzessin Jennifer war unterdessen in dem winzigen Burgverlies ihres weit entfernten Zimmers gefangen, wo sie, umgeben von Büchern, auf dem sonnengelben Teppich auf dem Boden lag.

Während solcher Nachmittage verging die Zeit immer langsamer und langsamer, bis sie schließlich ganz zum Stillstand kam. Es war so ruhig im Haus, dass man die Heizungsrohre ticken hörte. Die Langeweile schärfte meine Sinne bis ins Unerträgliche und ließ mich auf einem Meer aus Nichtstun und Leere dahintreiben.

Jede Kirschblüte oder tauglänzende Flügelspitze auf meiner mit Blumen und Elfen bedruckten Steppdecke trat in aller Schärfe und Klarheit zutage. Die von meinen Zehen ausgebeulten Stellen an meinen weißen Turnschuhen beschwerten sich lautstark über die Martyrien, die sie auf dem Spielplatz ertragen mussten, und die ledergebundene Bibel meiner Großmutter beklagte schrill die Unverfrorenheit, dass ich sie als Türstopper benutzte, und erzählte von gespensterhaft kalten Kirchen, wo jeder Schritt auf dem Steinboden widerhallte. Durch diesen ganzen Lärm drang der knusprig-goldene Duft von Ofenpasteten und blubberndem Bratensaft aus der Küche in meine Nase.

Das Warten fühlte sich an, als wäre es eine weitere Person in meinem Zimmer. Warten, immer nur warten – erst auf das Mittagessen, dann auf das Abendessen und schließlich auf mein abendliches Schaumbad und die Nachtruhe. Aber ich wartete auch auf etwas Neues, darauf, älter zu werden und endlich jemand anders sein zu können.

An diesem Abend, an dem ich als erwachsener Mensch allein in meinem Haus saß, war es genauso. Ich wartete auf eine Nachricht von Justin, auf Anrufe von der Polizei, darauf, dass die Nacht irgendwann in einen neuen Tag überging. Ich wartete auf ein neues, gefürchtetes Dasein als Star einer Porno-Website und Gegenstand einer polizeilichen Untersuchung. Mit unerträglicher Klarheit spürte ich wieder Justins Körper auf meiner Haut, den Geruch nach Staub und Kerzenwachs im Ferienhaus, die schimmelige Feuchtigkeit des Wohnwagens, die Anwesenheit des schnurlosen cremefarbenen Telefons, das das Gerät ersetzt hatte, das ich am Tag des Telefonats mit Sophie zertrümmert hatte. Ihren Anruf hatte eine Pressereferentin und Verlobte entgegengenommen, die es nicht mehr zu geben schien.

Die Warterei meiner Kindheit hatte sich manchmal dadurch erträglicher machen lassen, dass ich mich versteckte. Ich war unter mein wackeliges Hochbett gekrochen, hatte mich an ausrangierten Plüschtieren und Tüten voller Brettspiele vorbeigekämpft, die mir keinen Spaß mehr machten, hatte mich ganz nach hinten verkrochen. Manchmal suchte ich mir zum Verstecken aber auch die Rumpelkammer aus und kauerte unter den Mänteln, die innen an der Tür hingen. Dort roch es nach Regen und nassem Stoff, und hin und wieder krabbelte eine Spinne vorbei. Je enger und dunkler mein Rückzugsort war, desto leichter ließ sich das Gefühl des Wartens durch ein Gefühl des bewussten Versteckens verdrängen. Dass ich selbst die aktive Entscheidung dazu traf, tröstete mich genauso wie die räumliche Begrenzung und die Finsternis und die Tatsache, dass die sonntäglichen Geräusche mich nur noch gedämpft erreichten.

Vielleicht würde mich dieses Heilmittel auch jetzt vor dem Gefühl bewahren, keine Luft mehr zu kriegen. Ich konnte hinter das Sofa kriechen oder in einen der größeren Schränke im Schlafzimmer oder in die Rumpelkammer unter der Treppe, hinter deren Tür Dans Jacken und Mäntel hingen.

Aber so etwas tat man nun einmal nicht als erwachsener Mensch. Statt mich also an einem dunklen Ort zu verkriechen, bügelte ich Blusen, schrubbte die Küchenspüle, feilte meine Fingernägel, trug eine Gesichtsmaske mit Fruchtsäure für einen jugendlichen Teint auf und sah mir die Nachrichten im Fernsehen an. Ich tat, was jeder andere Erwachsene in jedem anderen Haus in jeder anderen Stadt tun würde.

Als Dan Stunden später nach Hause kam, lag ich immer noch wach im Bett. Ich vernahm die vertrauten Geräusche im Hausflur, hörte, wie er seine Stiefel auszog, in die Küche ging und die Kühlschranktür öffnete. Ich tat so, als würde ich schlafen, aber ich ließ es zu, dass er die Arme um mich schlang, nachdem er neben mir ins Bett geschlüpft war.

»Ich hab dich vermisst«, murmelte er. »Du riechst nach Orange.«

Als ich am nächsten Morgen im Büro meine Jacke auszog und meinen Computer hochfuhr, kam der Chief in die Pressestelle gestürmt, dessen rosiges, robustes Gesicht noch röter war als sonst. Er warf seinen Hut auf den Schreibtisch, ließ sich mit einem wuchtigen Rums in Serians Drehstuhl fallen und wedelte mit einer Zeitung vor meinem Gesicht herum. Er hatte Detective Inspector Harden im Schlepptau, der ziemlich abgehärmt aussah. Hinter ihm stand Doyle, der sich diskret in der Nähe der Tür hielt, um sich stillschweigend verdrücken zu können.

O Gott, was ist denn nun schon wieder los?, dachte ich und wartete schweigend ab, bis mir jemand erklärte, was Sache war. Am liebsten wäre ich in den Materialschrank gekrochen und hätte die Tür hinter mir zugezogen.

»Dieser verdammte Jack Schießmichtot«, stieß Cavendish wutschnaubend hervor, und sein hochroter Kopf über dem engen weißen Kragen schien kurz vorm Platzen zu sein. Japsend zupfte der Chief an seiner Krawatte. »Er hat mich abgepasst, als ich gestern Abend die Wache verlassen habe. In Aberthin gehen offenbar neue Gerüchte um, weil die Jungs von der Spurensicherung vor Ort waren. Ich habe ihm explizit gesagt, dass die Sache streng vertraulich ist.«

»Streng vertraulich gibt es nicht«, murmelte ich tonlos, wie immer, wenn ich diese unzutreffende Floskel hörte.

»Ich habe ihm versichert, dass wir es ihn wissen lassen, wenn sich die Gerüchte bestätigen.«

Aber er will nun mal der Erste sein, der die Neuigkeit veröffentlicht, dachte ich. Und dann: Moment mal! Wenn sich welche Gerüchte bestätigen?

»Und trotzdem zieht er los und zitiert mich als ›inoffizielle Quelle‹, dieser kleine Scheißkerl!« Er tippte mit der Hand ungeduldig auf die Zeitung, die er mir vorgelegt hatte, und wartete darauf, dass ich sie las.

»Ich habe die heutige Zeitung schon gelesen, Chief«, antwortete ich. »Was ist das Problem? Da steht doch nur, was Inspector Davies gestern in den Interviews gesagt hat. Dass sie den Rest ein wenig ausschmücken würden, war ja klar.«

Der Artikel, den ich gelesen hatte, war zwar reißerisch aufgemacht gewesen, wie es Jacks Art war, hatte aber keine Überraschungen enthalten, sondern nur neben dem Phantombild von mir mit meiner Baseballkappe die grundlegenden Fakten sowie Gwens unzutreffende Aussagen aufgezählt, die natürlich als Tatsachen präsentiert wurden.

»Sie haben die City-Ausgabe also noch gar nicht gesehen?«, schnaubte der Chief ungläubig.

»Nein, ich habe darauf gewartet, dass die Poststelle sie mir hochbringt.«

»Dann werfen Sie mal einen Blick darauf!«

»IST DER BRANDSTIFTER AUCH EIN MÖRDER?«, fragte die Überschrift sensationsheischend. »Menschliche Überreste in Wohnwagentrümmern gefunden«, lautete der Untertitel.

Ich las die ersten beiden Absätze des Artikels zweimal, bevor ich endlich die Sprache wiederfand. »Was? Was soll das heißen? Stimmt das? Haben wir menschliche Überreste gefunden? Ich hatte letzte Nacht Bereitschaft. Warum hat mich niemand angerufen? Mich hat definitiv keiner angerufen.«

»Wir waren uns nicht sicher, was wir da genau gefunden haben, und wollten die Sache daher erst mal unter Verschluss halten, bis wir der Presse heute Konkreteres vorlegen können«, erklärte der Detective Inspector über die Schulter seines Vorgesetzten hinweg und verdrehte die Augen, um mir zu verstehen zu geben, dass er den Chief für einen Schwachkopf hielt.

Auf seinem Posten an der Tür zuckte Jimmy mit den Schultern und wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Frag nicht«, hieß diese Geste. Dann schlüpfte er aus der Tür.

»Haben wir jetzt Überreste gefunden oder nicht?«, wollte ich wissen. »Warum hat mich niemand angerufen?«

»Na ja, wir sind uns, wie gesagt, noch nicht ganz sicher, was es ist«, polterte der Chief. Wie viele hochrangige männliche Beamte wurde er lauter, wenn ihm aufging, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Wie ich schon zu diesem Jack gesagt habe, handelt es sich um verbrannte Kleidungsstücke sowie ein paar Knochen und Haare. Genaueres wird noch untersucht. Ich habe dem Arschloch ausdrücklich gesagt, dass diese Informationen streng vertraulich sind.«

»Warum haben Sie mich nicht vorher angerufen und die Sache mit mir abgesprochen?«, wiederholte ich hartnäckig meine Frage. »Man kann Journalisten nicht bitten, derart brisante Informationen für sich zu behalten. Sie haben ihm die Gerüchte bestätigt und ihm damit sozusagen grünes Licht gegeben. Er fühlt sich mit Sicherheit im Recht, weil er nicht Ihren Namen genannt und Sie auch nicht wörtlich zitiert hat. So funktioniert das bei denen. Wenn Sie mich vorher angerufen hätten, hätte ich Ihnen geraten, ihn mit ›Kein Kommentar‹ abzuspeisen. Damit hätten Sie seine Spekulationen erst einmal auf Eis gelegt.«

Er schmollte, wich aber immer noch nicht von seiner Position ab. »Wie ich bereits sagte: Ich dachte, es sei klar, dass es sich nicht um einen offiziellen, zitierbaren Kommentar handelt.«

Der Detective Inspector rollte erneut mit den Augen.

»Also, was hat es mit diesen Knochenfunden auf sich?«, fragte ich und wandte mich demonstrativ an den Detective Inspector. Meine Geduld überraschte mich, genau wie die Tatsache, dass ich so ruhig klang, obwohl eine Stimme in meinem Kopf brüllte: Wer ist gestorben? Wer, um alles in der Welt, ist bei dem Brand gestorben?! »Und ich meine die interne Version, die nicht für die Presse bestimmt ist«, fügte ich hinzu.

»Wir sind uns nicht sicher, Jen«, antwortete der Detective. »Die Spurensicherung ist vor Ort und kümmert sich um die Bergung. Dort herrscht immer noch das reinste Chaos, aber was wir gefunden haben, sieht aus wie ein Stück Decke und einige kleinere Knochen, die Teil eines Brustkorbs oder Finger sein könnten. Der Wohnwagen selbst ist nicht mehr als solcher zu erkennen. Der Rahmen ist komplett in sich zusammengestürzt, und überall kleben geschmolzene Reste der Inneneinrichtung. Das Ding muss gebrannt haben wie Zunder. Wenn du mich fragst, war der ganze Park eine tödliche Falle. Keiner der Hydranten war an eine Wasserleitung angeschlossen. Wir sind uns nicht sicher, ob sie manipuliert waren oder einfach nur vernachlässigt. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir die Lage richtig einschätzen können.«

Kann es sich bei dem Verstorbenen um Justin handeln?, verschaffte sich eine leise, hoffnungsvolle Stimme in meiner linken Gehirnhälfte Gehör. Das hätte mir das Leben unendlich erleichtert, wäre ein regelrechtes Gottesgeschenk gewesen, ein echtes, unwiderlegbares Wunder. Ich hörte keine Stimme in meinem Kopf, die mich bremste und sagte: »Das ist nicht richtig, Jen, man darf niemandem den Tod wünschen.« Nicht einmal die vertraute mahnende Stimme meiner Mutter vernahm ich: »Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu.« Mein Gewissen schwieg hartnäckig. Stattdessen dachte ich in aller Klarheit und Seelenruhe: »Bitte, lieber Gott, mach, dass er tot ist. Er hat es verdient.« Ein rabenschwarzes Gebet, aber dennoch ein Gebet.

Meine Tagträume wurden von der Stimme des Chiefs unterbrochen, der strikt darauf bestand, eine Beschwerde bei Jacks Herausgeber einzureichen, die eine Entschuldigung verlangte, ein schriftliches Schuldeingeständnis. Ich wusste, dass dadurch alles nur noch schlimmer geworden wäre und er erneut unterstrichen hätte, was für ein Trottel er war.

»Aber Sie haben es wirklich zu ihm gesagt, oder? Ob nun streng vertraulich oder nicht?«

»Hmpf«, machte er unverbindlich, was so viel wie Ja hieß.

»Dann versichere ich Ihnen, dass wir nicht viel tun können. Lassen Sie es darauf beruhen, es ist nicht mehr rückgängig zu machen.« Wenn man 60.000 Pfund im Jahr verdient, heißt das eben noch lange nicht, dass man über gesunden Menschenverstand oder die Fähigkeit verfügt, den Mund zu halten, wenn es darauf ankommt. »Jetzt können wir nur noch die Fehler ausbügeln und eine neue Pressemitteilung veröffentlichen, in der wir darlegen, wie der derzeitige Stand ist und dass es sich keineswegs um eine Mordermittlung handelt.«

Hoffen wir, dass es auch nicht zu einer solchen kommt, dachte ich insgeheim. Wie ich vor ein paar Tagen zu Dan gesagt hatte, starben ständig irgendwo Menschen, wurden Leichen gefunden, begannen Ermittlungen. Meistens handelte es sich um Zufälle, zur falschen Zeit am falschen Ort. Wie bei der alten Dame, die Dan und seine Männer zu spät gefunden hatten und die von Wildtieren angefressen worden war. Wenn sie solches Pech gehabt hatte, dann verdiente Justin es erst recht, zumal wenn man bedachte, was er mir und vermutlich auch anderen angetan hatte, vor allem Suzy Milland. Die Zeit würde zeigen, ob es seine Leiche war, die man im Wohnwagen gefunden hatte.

Die nächsten acht Stunden vergingen wie im Flug, denn sobald die südwalisischen Medien Wind von Jacks Schlagzeile bekommen hatten, klingelten unablässig die Telefone, und in der Pressestelle brach fieberhafte Geschäftigkeit aus. Nur mit Mühe gelang es uns, das Chaos unter Kontrolle zu halten. Nigel sah aus, als stünde er kurz vor einem Nervenzusammenbruch, und der Chief war überall im Weg, rutschte unruhig auf einem Stuhl herum oder ging nervös auf und ab, während wir die Presseanfragen entgegennahmen. Die dicke Paula drückte sich mehrmals vor unserer Bürotür herum, vermutlich weil ihr noch etwas eingefallen war, was sie mir unter die Nase reiben konnte, aber da der Chief in der Pressestelle sein Lager aufgeschlagen hatte, traute sie sich nicht herein.

Um elf Uhr vormittags sprang ich ins Auto und verbrachte den Rest des Tages in Swansea, wo wir noch einmal den Interviewmarathon vom Vortag wiederholten.

Die einzig gute Nachricht war, dass sich trotz der flächendeckenden Berichterstattung keine neuen Zeugen gemeldet hatten, die etwas über die geheimnisvolle Frau mit der Baseballkappe wussten.

Am schlimmsten war das Warten, bis die Spurensicherung mit ihren Pinzetten, ihrem weißen Pulver und ihren Bürsten endlich ihre langsame, penible Arbeit verrichtet hatte. Es würde mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bis sie den gesamten Tatort durchkämmt hatte und die Forensiker erste Erkenntnisse über die Knochenfunde liefern konnten. So quälend die Warterei auch war, ihr Ende war wenigstens absehbar. Ich kam mir vor wie eine zum Tode Verurteilte, die auf ihre Begnadigung durch den Gouverneur wartete, während die Gefängnismitarbeiter nebenan schon den elektrischen Stuhl vorbereiteten.

Es war acht Uhr abends, als ich endlich nach Hause aufbrechen konnte. Der Schneeregen war in dicke Flocken übergegangen und der Himmel von dichten Wolken verhangen. Ein trügerischer orangener Glanz über den Dächern verriet, dass ein Sturm im Anmarsch war und der Schneefall vermutlich noch stärker werden würde. Prompt kam der Verkehr auf den meisten Straßen von Südwales zum Erliegen, und ich kroch die M4 entlang und brauchte über eine Stunde für eine Strecke, die normalerweise zwanzig Minuten gedauert hätte.

Als ich mich endlich mit hängenden Schultern und bleiernen Beinen den dunklen Gartenweg entlang zu unserem Haus schleppte, sehnte ich mich nur noch danach, die Tür hinter mir zu schließen und die feindselige Welt draußen zu lassen.

Offenbar achtete ich dabei nicht auf meine Umgebung, denn ich sah niemanden näher kommen und hörte auch nichts. Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür aufstoßen wollte, spürte ich plötzlich eine Hand auf meinem Arm und eine zweite an meiner Schulter. Unsanft wurde ich herumgerissen und dann mit dem Rücken heftig gegen die Tür geschleudert. Die Luft, die aus mir entwich, stieg als weiße Wolke in die Nachtluft auf.

»Pssst, schön leise sein. Ich weiß, dass du gerne ein großes Trara veranstaltest, aber jetzt würde ich dir raten, den Mund zu halten«, warnte Justin und bedachte mich mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Er war eindeutig keine Leiche, sondern stand putzmunter und unversehrt vor mir. »Die kleine Jen spielt neuerdings gerne Detektivin, nicht wahr? Ich hätte wissen müssen, dass du Ärger machst, aber ich konnte dir einfach nicht widerstehen. Du sahst so verdammt süß aus an diesem Abend im Hotel, so makellos. Ich wusste, dass du ganz wild auf einen kleinen Fick warst, ich musste nur die richtigen Knöpfe drehen. Aber welchen Teil von ›Ich bin nicht mehr an dir interessiert‹ verstehst du nicht? Erst folgst du mir nach Porthcawl und machst mir eine, ehrlich gesagt, ziemlich peinliche Szene, und dann schleichst du auch noch um den Wohnwagen herum und zapfst Gwen an, diese alte Hexe. Ich habe ja schon davon gehört, dass ihr Mädels ziemlich anhänglich werden könnt, aber das ist wirklich schon Stalking, was du da betreibst. Wenn das so weitergeht, muss ich eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken. Es war zwar nur ein Wohnwagen, aber ich glaube, es ist trotzdem illegal, in einen einzubrechen. Oder ihn niederzubrennen.«

Ich versuchte etwas zu sagen, versuchte, ihn abzuschütteln, aber sein Griff auf meinem Unterarm war so eisern wie eine Handschelle, und mit der anderen Hand presste er mich an den Türrahmen. Die breite viktorianische Veranda schirmte uns von der Straße und den umstehenden Häusern ab, und es waren nirgendwo ein Motor oder Schritte zu hören. Alle hatten sich hinter ihren Vorhängen verschanzt.

»Du würdest sicher gerne wissen, was ich mit dir anstelle, wenn du mein Nein nicht akzeptierst, Süße.« Er genoss seinen Auftritt viel zu sehr, um eine Entgegnung von mir abzuwarten. »Hör endlich auf herumzuzappeln. Es sei denn, du willst, dass ich dir wieder an die Wäsche gehe. In dem Fall mach ruhig weiter, ich finde die Reibung sehr erregend.«

»Was willst du von mir, du kranker Bastard?«

»Moment mal, du bist doch diejenige, die mir nachrennt! Hübsches Phantombild übrigens. Nicht unähnlich, aber in Fleisch und Blut bist du natürlich viel attraktiver. Und dein Fleisch durfte ich wirklich zur Genüge betrachten, nicht wahr?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Ach nein? Ich gebe zu, dass ich dich unterschätzt habe. Du hast mir wirklich einen gehörigen Schrecken eingejagt, als du wie aus dem Nichts bei Santos aufgetaucht bist. Wie hast du mich eigentlich gefunden? Ist auch egal. Jedenfalls hätte ich nicht gedacht, dass du mich aufspüren würdest. Sicherheitshalber habe ich trotzdem dafür gesorgt, dass nichts im Wohnwagen herumliegt, was mich, äh … belasten könnte. Allerdings hätte ich vielleicht nicht diesen Idioten damit beauftragen sollen, aber ich hatte anderswo zu tun. Wenn man will, dass etwas gründlich erledigt wird, muss man es selbst übernehmen, aber ich wollte lieber nicht noch länger warten. Du musst meinen Kompagnon knapp verpasst haben an dem Abend, als du die Einbrecherin gespielt hast. Er hat mir erzählt, dass wir Besuch hatten, und mir war sofort klar, dass du das warst, vor allem, nachdem die alte Gwen mir ein paar Tage vorher einen Zettel hingelegt hatte, auf dem stand, dass sich eine junge Frau nach Paul erkundigt hat.«

»Warum hast du deinen Wohnwagen abgefackelt?«, fragte ich. Mir brannte noch vieles andere mehr auf der Zunge, aber bei dieser Frage erschien es mir am wahrscheinlichsten, dass ich eine Antwort und damit Zeit zum Nachdenken erhielt.

»Na ja, geplant war das nicht, das gebe ich zu«, sagte Justin amüsiert. »Als dieser Vollidiot von Pootle angerufen hat, um mir das mit deinem Besuch mitzuteilen, bin ich am nächsten Morgen sofort vorbeigefahren, um mich zu vergewissern, dass er wirklich aufgeräumt hat. Aber er lag schnarchend auf der Bank und hat nach Pot gestunken. Pootle hatte noch nie besonders viel Stil, und der Hellste war er auch nicht. Die Feinarbeit und das Geschäftliche musste immer ich übernehmen. Regel Nummer eins ist natürlich: Konsumiere nie die Drogen, die du verkaufst. Außerdem hat dieser Blödmann den Wohnwagen für seine kleinen Internetauftritte genutzt. Regel Nummer zwei: Man scheißt nicht, wo man isst, nicht wahr? Sein Sperma war bestimmt im ganzen Wagen verteilt, und wer weiß was noch alles für Körperflüssigkeiten. Dass er ab und zu im Wohnwagen übernachtete, wusste ich, aber nicht, dass er dort Geschäfte macht. Aber mir hätte klar sein müssen, dass er sich nicht an die Regeln hält.«

»Geschäfte? Was für Geschäfte?«, fragte ich, auch wenn ich längst wusste, was er meinte.

»Jetzt stell dich nicht dumm, Jen. Du hast doch selbst mitgewirkt. Außerdem hast du ja anscheinend die gebrannten CDs mit seinen Videos im Wohnwagen gefunden.«

Ich hatte überhaupt keine CDs gefunden, aber es war vielleicht von Vorteil, wenn Justin glaubte, dass ich Beweise gegen ihn in der Hand hatte.

»Ja, ganz nette Filmchen«, antwortete ich. »›Surfschlampen‹, nicht wahr? Das hat natürlich wahnsinnig viel Stil, Justin. Ich hätte wirklich mehr von dir erwartet.«

»Und dein Verlobter von dir sicher auch, oder?«, sinnierte er mit einem halben Lächeln. »›Surfschlampen‹ war Pootles Spielwiese. Ich habe meine eigenen Lieblingsseiten.« Er seufzte, und es klang beinahe reuevoll. »Es war ein Fehler, mich mit dir einzulassen. Eigentlich war das Watch-House viel zu nah an zu Hause. Aber mit der Zeit wird man unvorsichtig. Und träge. Einer von Pootles Versagerfreunden hat mir den Schlüssel für das Ferienhaus besorgt. Mir fehlte noch ein letzter Tausender, und ich dachte, es wäre leicht verdientes Geld. Ein letztes Aufbäumen, bevor ich dieses Land verlasse, um endlich ein bisschen Spaß zu haben. Und jetzt hast du mir meinen schönen sauberen Abgang versaut. Ich musste die Beweise für Pootles Heldentaten loswerden, man weiß schließlich nie. Du hättest ja auch mit der Polizei zurückkommen können.«

»Aber warum musste Gwens Wohnwagen ebenfalls dran glauben?« Ich kannte die Antwort bereits.

»Na ja, wenn ich nur den Wohnwagen von meinem Alten abgefackelt hätte, wäre das zu auffällig gewesen. Jeder weiß, dass Gwen und Len den Verkauf des Geländes aufhalten, also erschien es mir mehr als wahrscheinlich, dass die beiden irgendwo Feinde haben. Sah einfach besser aus, alle drei Wohnwagen abzubrennen. Unverdächtiger.«

»Und was ist mit den Knochen? Den menschlichen Überresten?«

»Pootle war nur noch ein Klotz am Bein«, sagte er mit Nachdruck.

Mir schnürte sich die Kehle zusammen. »Du meinst doch nicht etwa … Du kannst doch nicht …« Mein Entsetzen war mir offenbar deutlich anzusehen, denn er lachte auf.

»Nicht doch. Keine Sorge, Jen. Die Sache mit den Knochen ist zwar ein wenig bizarr, aber von Pootle stammen sie nicht, das kann ich dir versichern. Ich muss zugeben, dass ich ziemlich sauer auf ihn war, aber in Brand stecken würde ich ihn deshalb nicht. Ich bin doch kein Monster, Jennifer.«

»Apropos Pootle …« Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich musste Justin dringend etwas fragen, auch wenn ich Angst vor der Antwort hatte. Mit der Frage würde ich ihm meine Schwäche zeigen und ihm noch mehr Macht über mich geben. Aber ich musste es einfach wissen.

»Justin, in dieser Nacht im Ferienhaus … Da lagen zwei Kondome neben dem Bett. War das, weil … War da noch jemand anwesend?«

Er musterte mich, und in seinem Blick lag beinahe so etwas wie Bewunderung. »Das nenne ich eine gute Frage. Du hast einen Blick für Details, Jen, aber vielleicht musst du dich bis zum nächsten kleinen Actionfilmchen gedulden, um herauszufinden, wer die beteiligten Akteure sind?«

»Du meinst also, du und Pootle? Das ist doch nicht … Wie hast du …?«

»Du kannst dich nicht einmal mehr daran erinnern, oder? Die halbe Einheit deines Verlobten hätte dich bespringen können, und du hättest nichts davon mitgekriegt. Ist das nicht ein weiterer guter Grund, sich für die nächste Zahlung bereitzumachen, Nancy Drew? Dieses Mal erhöht sich der Betrag allerdings – wegen der Unannehmlichkeiten.«

»Justin, ich kann nicht. Ich werde dir kein Geld mehr zahlen. So reich bin ich auch wieder nicht, verdammt noch mal! Du hast genug Schaden angerichtet. Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Das hängt entscheidend davon ab, ob du mich davon überzeugen kannst, dass du ab jetzt ein braves kleines Mädchen bist. Dein fescher Polizistenfreund soll doch sicher weiterhin glauben, dass du die Unschuld vom Lande bist, oder? Ich finde meine Preise keineswegs überteuert. Sieh es doch mal so: Wenn du das Geld nicht mir gibst, haust du es nur wieder für Schuhe oder Klamotten raus. Betrachte es einfach als Investition in deine glückliche Zukunft.«

»Warum tust du das alles?« Wieder stieg Panik in mir auf. Ich wollte heulen, schreien und betteln, wollte meinen Kopf nach vorne reißen und ihm sein grinsendes Gesicht zertrümmern, irgendetwas, damit er endlich seine Hände von mir nahm. »Du kennst mich nicht. Ich tue so etwas nicht. Das alles ist ein großer Irrtum. Ich bin keine von diesen Frauen.«

»Natürlich, das sagen sie immer. Das Ganze wäre ja auch witzlos, wenn ich es mit billigen Schlampen machen würde. Sex gibt es da draußen im Überfluss, Darling, ein paar Drinks, und man ist dabei. Es macht doch gerade den Reiz aus, ein schwieriges Ziel zu wählen. Ich habe dieses Spiel längst perfektioniert. Man sucht sich ein hübsches kleines Luxushotel aus und hält dort Ausschau nach Frauen von der ruhigen, gebildeten, vernünftigen Sorte, die denken, sie wären allen anderen überlegen. Denn das sind diejenigen, die am meisten zu verlieren haben. Wenn eine Frau nichts zu verlieren hat, gibt es auch nichts, wofür man sie zur Kasse bitten könnte, nichts, was sie vor Mummy und Daddy und ihrem Schatz geheim halten will, nicht wahr?«

Ich empfand aufrichtigen Abscheu, als mir das Ausmaß seiner Aktivitäten, seiner Geschäfte, wie er es genannt hatte, zum ersten Mal richtig bewusst wurde. Berechnend und ohne jedes Mitgefühl suchte er sich seine Opfer und beging seine Grausamkeiten mit kühler Gleichgültigkeit – aus Spaß, aus Profit, um sich ein wenig Geld für seinen Urlaub zu verdienen. Ich fragte mich, warum er so ehrlich war und mir das alles erzählte. Dann verstand ich, dass er es genoss, seine Taten vor mir auszubreiten, und arrogant genug war zu glauben, dass ich absolut nichts gegen ihn ausrichten konnte. In einem hatte er recht: Ich hatte eine Menge zu verlieren.

»Guck mich nicht so an, Jen«, lachte er. »Ist doch tausendmal besser, als für seinen Unterhalt zu arbeiten und Steuern zu zahlen, findest du nicht? Jeder macht eben das Beste aus seinen Talenten und sucht sich eine Marktlücke. Na, komm schon. Ich habe dich nicht vergewaltigt oder so was. Du wolltest es so. Ich war deine kleine Ferienromanze, dein Ritter ohne Furcht und Tadel. Und ich habe mir Mühe gegeben, dieser Rolle gerecht zu werden und immer genau das Richtige zu sagen, das musst du zugeben.«

»Du hast mich unter Drogen gesetzt. Ich habe das Rohypnol in deinem Wohnwagen gefunden.«

Er lachte leise. »Tja, wirklich ironisch, dass du die Erste bist, die meinem idiotensicheren kleinen Plan auf die Schliche kommt. Und das, obwohl es bei dir am einfachsten war, dich ins Bett zu kriegen. Du musst wirklich nach Aufmerksamkeit ausgehungert gewesen sein. Ich habe nur ein paar Popgruppen und ein bisschen Lyrik erwähnt und ein oder zwei kleine Anekdoten von meinem angeblichen Job als Reisejournalist eingestreut, und schon hast du dich regelrecht in meine Arme geworfen. Das Rohypnol war gar nicht nötig, mein verliebtes Gesäusel und der Merlot haben schon gereicht. Ich gebe zu, dass ich meine magischen Pillen immer dabeihabe, für den Fall, dass ich ein bisschen nachhelfen muss, aber das war dieses Mal nicht vonnöten. Komm mir also nicht mit ›Ich habe es gegen meinen Willen getan‹. Du hast getan, was du tun wolltest.«

Ich spürte die Galle in mir aufsteigen. »Hast du das auch zu Suzy gesagt? Dass sie es selbst so gewollt hat?« Ich hatte natürlich ins Blaue geraten, aber offenbar hatte ich einen wunden Punkt erwischt, denn Justins Gesicht verdüsterte sich für eine Sekunde. Irgendetwas, was lange zurücklag und ihn bis heute zu belasten schien, trat in seinen Blick. Vielleicht war es Schmerz, aber er wurde schnell wieder von Wut überschattet.

»Fang mir bloß nicht von Suzy an«, blaffte er. »Suzy war eine kleine Schlampe, das wollte ich nur nicht wahrhaben. Hat immer heiliger getan als der Papst und geglaubt, sie wäre etwas Besseres. Aber ihr Heiligenschein hat sie nicht davon abgehalten, mit diesem arroganten Anwaltstyp rumzumachen, oder? Hat ihn wahrscheinlich schon monatelang gebumst und immer noch so getan, als wäre sie die Heilige Jungfrau Maria. Sollte ich sie damit etwa davonkommen lassen? Nachdem ihr Vater meine hübsche Fotostrecke gesehen hat, war ihr Image nicht mehr ganz so rein und unschuldig.«

»Und das Baby?«

»Wieso, es war ja nicht mein Baby. Und ich habe ihr auch nicht gesagt, dass sie sich von einer dreißig Meter hohen Brücke stürzen soll, oder? Wie auch immer, das spielt jetzt keine Rolle. Fakt ist, dass ich mit meiner Geduld am Ende bin. Ich will 500 Pfund von dir und das Versprechen, dass du mir nicht mehr hinterherspionierst, sonst verspreche ich dir, dass es dir noch sehr viel mehr leidtun wird als der armen, armen Suzy.«

»Fick dich!«, zischte ich, ohne nachzudenken. Ich konnte seine Hand keine Sekunde länger auf meinem Körper ertragen und wand mich verzweifelt in alle Richtungen, aber er ließ nicht locker.

»Langsam, Süße, immer mit der Ruhe. Ich hatte bisher eigentlich nicht den Eindruck, dass du auf Gewalt stehst, aber vielleicht habe ich dich schon wieder falsch eingeschätzt. Macht dich das an, wenn man dich so richtig hart rannimmt? Das kann dir dein geliebter Inspector Dan nicht bieten, was? Du bist also eine dieser Frauen, die nur so tun, als würden sie sich wehren. Was sagst du, Jen? Sollen wir diese These mal auf die Probe stellen?«

Er legte seine Hand unsanft auf eine meiner Brüste und küsste mich heftig auf den Mund.

»Na, wirst du schon feucht?«, fragte er höhnisch und zog meinen Hosenbund nach unten. »Nein? Wie enttäuschend.«

In mir erwachte ein wütender Funke, der sich zu einem dunklen, verzehrenden Feuer ausbreitete. Ich vergaß jede Vernunft und jeden Selbsterhaltungstrieb.

»Und was ist, wenn ich zur Polizei gehe?«, drohte ich. »Ich weiß, wer du bist, und ich weiß, was du Suzy angetan hast. Ich habe das Rohypnol aus deinem Wohnwagen und die Filme. Bestimmt melden sich auch noch andere Frauen, die Aufschlussreiches über dich zu berichten haben.«

»Na klar. Und was hast du gegen mich in der Hand? Du solltest doch am besten wissen, wie wichtig handfeste Beweise sind. Du wirst mein Gesicht auf keiner dieser CDs finden. Das von Pootle übrigens auch nicht, dafür habe ich von Anfang an gesorgt. Diese Filme könnten jeden zeigen und überall gedreht worden sein. Und wenn du im Internet suchst, wirst du feststellen, dass auf ›Surfschlampen‹ ein paar Filme weniger zu sehen sind als gestern. Es steht also Aussage gegen Aussage, Schätzchen. Falls du so dumm sein solltest, mich in deine wirren Verdächtigungen zu verwickeln, muss ich deinen reizenden Arbeitskollegen vielleicht mal meine Version der Geschichte erzählen.

O ja, ich sehe sie schon vor mir: Ich bin ein ganz normaler Durchschnittsmann, der schwach geworden ist und einen One-Night-Stand hatte. Und jetzt steigt mir diese Verrückte nach und beobachtet mich, wenn ich surfe, beschädigt meinen VW, belästigt meine Nachbarn, bricht in meinen Wohnwagen ein, woraufhin dieser auf unerklärliche Weise abbrennt. Ich habe wirklich Angst um meine Sicherheit. Apropos: Ich wette, du hast das eine oder andere Gesetz gebrochen, um mich aufzuspüren. Böses Mädchen!

Du solltest eigentlich wissen, wann du verloren hast, aber wenn du trotzdem meinst, zur Polizei gehen zu müssen, denk dran, dass ich dir immer noch mit einem einzigen Mausklick zu deinem großen Auftritt als Pornosternchen verhelfen kann. Deine Journalistenfreunde würden sich doch sicher auch sehr über dein Filmdebüt freuen, meinst du nicht? Jack Thomson von der Nachrichtenagentur NewsBeatWales zum Beispiel. Er wäre bestimmt begeistert. Hat heute so einen schönen, anschaulichen Artikel geschrieben, der Gute. Und vergiss nicht, mein Liebling: Ich weiß, wo du wohnst und wo du arbeitest.«

Nachdem er mich noch eine quälend lange Minute schweigend angestarrt hatte, ließ er mich endlich los. Ich sollte merken, dass er mich nur »freiließ«, weil er es in diesem Moment beschlossen hatte. Er wusste genau, dass ich keine echte Gefahr mehr für ihn war, dass er mich besiegt hatte. »Ich melde mich noch wegen der Einzelheiten für deine nächste Spende«, kündigte er an. Dann gab er mir einen Kuss auf die Stirn, klappte seinen Kragen hoch und verschwand auf die verschneite Straße hinaus.

Ich sah zu, wie er lautlos davonging. Dann schloss ich die Tür auf und schlüpfte hinein. Nachdem ich mich auf die unterste Stufe unserer Treppe hatte sinken lassen, lauschte ich auf mögliche Geräusche von Justin, aber es war nichts zu hören. Zitternd saß ich in der Dunkelheit und versuchte, mir über die Auswirkungen seiner Drohung klar zu werden. Er hatte recht: Alles, was ich getan hatte, ließ sich tatsächlich so interpretieren, wie er es dargelegt hatte. Es gab also ein Sexfilmchen – na und? Viele Paare drehen heutzutage Home Videos. Ich malte mir lieber gar nicht erst die Demütigung aus, die es für mich bedeuten würde, wenn alle mich für die Stalkerin und Lügnerin hielten. Vielleicht würde Justin sogar Anzeige gegen mich erstatten. Die Neuigkeit würde sich im Handumdrehen auf der Wache und im Revier verbreiten, egal, wie »sensibel« man die Sache zu handhaben versuchte. Für mich würde es doppelt so beschämend werden wie für andere Frauen, weil ich immer so hohe Ansprüche an mich gestellt hatte, weil ich stets die seriöse, vernünftige Pressereferentin gewesen war. Ich wusste genau, was die Leute über mich denken würden: Jetzt muss sie endlich von ihrem hohen Ross herunter. Genau das würden Leute wie die dicke Paula denken, und auch alle anderen, die derzeit noch neidisch auf mich waren, weil ich die Verlobte eines Inspectors war, und eines besonders gut aussehenden noch dazu. Sie würden mich als Freiwild betrachten.

Was, wenn Justin versuchte, eine einstweilige Verfügung gegen mich zu erwirken? Mein Fall würde die Instanzen durchlaufen, und die Medien würden sich auf mich stürzen, weil ich keine Anonymität genießen würde. Schließlich galt ich nicht als Opfer eines Sexualdeliktes, wenn Justin den Spieß umdrehte und Anzeige gegen mich erstattete. Jack NewsBeatWales würde also meinen vollen Namen nennen dürfen, und ich wusste genau, was er alles über mich schreiben würde. Er würde sich mit dem Stift dafür rächen, dass ich ihn so oft abgewimmelt hatte, ihm Informationen für seine Artikel vorenthalten, mich als moralisch überlegen aufgespielt hatte.

Ich wusste, dass Justin das ohne Weiteres durchgezogen hätte. Er hatte mich bei unserer ersten Begegnung mühelos hinters Licht geführt, hatte eine so subtile und vollendete schauspielerische Leistung abgeliefert, dass ich ohne langes Zögern meinen züchtigen Baumwollslip von Marks and Spencer für ihn ausgezogen hatte. Die Leute würden auf ihn hereinfallen, würden in ihm das sehen, was zu sein er vorgab: ein ehrlicher Kerl, der einen dummen Fehler begangen und eine Frau gegen sich aufgebracht hatte. Dagegen hatte ich nicht die geringste Chance. Allein der Gedanke an das Vieraugengespräch, das der Chief Superintendent mit mir würde führen wollen, war mir unerträglich. Es würde mit den trügerischen Worten beginnen: »Wir glauben das alles natürlich nicht, Jennifer, aber wir müssen leider jeder Anzeige nachgehen …«

Mein professionelles Image war das, was mich ausmachte. Ich war Jen Johnson, die Pressereferentin – effizient, kompetent, maßvoll, damenhaft, beherrscht. Nicht dieses sich windende, stöhnende Etwas in dem Video.

Wie sehr sehnte ich mich in diesem Moment nach Dan, wünschte mich in seine Arme, wo ich sicher war, wo mir niemand etwas tun konnte. Aber er hatte wieder Nachtschicht, und es würde mindestens noch vier Stunden dauern, bis er nach Hause kam. Wenn ich daran zurückdachte, wie sehr ich noch bis vor Kurzem jeder Nachtschicht von Dan entgegengefiebert hatte, wurde mir schwer ums Herz. Andere Frauen und Freundinnen beschwerten sich, wenn ihre Partner nachts arbeiten mussten und abends nicht da waren, und ich freute mich darüber. Denn wenn Dan zu Hause war, herrschten Lärm und Unordnung. Bei ihm lief der Fernseher immer ein bisschen zu laut, und er zappte ununterbrochen durch die Kanäle, zehn Minuten dies, zwei Minuten das und dann dreißig Sekunden etwas anderes.

Wenn er nicht fernsah, lief er mit seinem auf laut gestellten iPod herum und bildete eine kratzige Geräuschkulisse, während ich zu lesen versuchte.

Wenn ich hingegen das Haus für mich hatte, guckte ich mir in Ruhe einen ganzen Fernsehfilm oder eine DVD an oder las – was noch besser war – in völliger Stille ein Buch. Dann machte ich mir ein leichtes, gesundes Abendessen, das ich ohne Eile verspeiste, wobei ich mir ein Geschirrtuch als Lätzchen in mein T-Shirt steckte. Danach spülte ich sofort das Geschirr ab, damit das Haus so sauber wie möglich blieb. Ich genoss es, unbeobachtet zu sein und einfach einmal nichts zu tun. Diese wunderbaren Stunden des Alleinseins hatte ich immer wie einen Schatz gehütet.

Aber heute schien die Leere des Hauses mich mit stummen Vorwürfen zu bombardieren. Jedes Zimmer mit seinen knarrenden Böden machte mir überdeutlich Dans Abwesenheit bewusst. Wir wohnten seit fast drei Jahren hier und hatten das Haus günstig erstanden, weil es einem alten Mann gehört hatte und renovierungsbedürftig war. Aber wir waren nie wirklich dazu gekommen, es zu renovieren.

Wir hatten zwar Wohnzimmermöbel gekauft und die Wände gestrichen und neuen Teppichboden verlegt, aber die Küche war immer noch die alte, und das hintere Zimmer im Erdgeschoss stand voll mit Kisten, in denen sich Bücher, Papiere und Küchenutensilien aus unserer alten Wohnung befanden. Dan war kein besonders guter Heimwerker, aber bei seinen unregelmäßigen Arbeitszeiten kam er ohnehin nur selten dazu, sich größere Renovierungsarbeiten vorzunehmen. Ich selbst hätte zwar Zeit gehabt, hatte aber keine Lust, mich allein um alles zu kümmern.

Jetzt wurde mir klar, dass es noch einen Grund dafür gab, dass ich meine Wochenenden nicht mit dem Auswählen von Wasserhähnen und Kacheln, Küchenablagen und Herdplatten hatte verbringen wollen. Ich hatte mich versteckt – zu Unizeiten in meinem Wohnheim und jetzt hinter meiner Verlobung, die noch keine Ehe war, hinter meiner Arbeit, den Meetings, hinter vernünftigen Ratschlägen und der kompetenten Handhabung aller Aufgaben. Ich hatte mich versteckt, denn wenn ich mich aus meiner Deckung begeben und die Hochzeit und die Inneneinrichtung unseres Hauses mit Begeisterung in Angriff genommen und die vorübergehende Stelle als Pressechefin angenommen hätte, dann hätte das bedeutet, dass dieses Haus nicht nur irgendein Haus, sondern mein Heim war, dass mein Job nicht nur eine Notlösung, sondern meine Berufung war und mein derzeitiges Leben nicht nur eine Momentaufnahme war, sondern ein Dauerzustand. Weil ich nichts anderes hatte. Weil es das war, was mich ausmachte, und sonst nichts. Mehr war ich nicht. Und diesen Umstand hasste ich.

Ich saß im Dunkeln und weinte.