13.
Erst eine Woche nach unserem Ausflug an die Küste ergab sich die Gelegenheit, erneut nach Aberthin zu fahren. Im Laufe der Woche nach unserer Rückkehr ereigneten sich mehrere Selbstmorde, die für öffentlichen Aufruhr sorgten, und die Pressestelle wurde außerdem von verschiedenen Vermisstenmeldungen auf Trab gehalten. Der Rest meiner knappen Zeit wurde von der Hochzeitsplanung aufgefressen.
Am Dienstagabend kam meine Mutter für eine halbe Stunde »vorbeigeschneit«, um mir das dunkeltürkisfarbene Kleid mit Samtstola und die dazu passenden Schuhe zu zeigen, die sie sich bei John Lewis gekauft hatte. Sie hatte sich tatsächlich für einen filigranen Kopfschmuck statt für einen Hut entschieden und demonstrierte mir, wie absolut perfekt das Gebilde aus Federn und silbrigen Perlen ihr Outfit komplettierte. Sie hatte recht. Mit ihrer immer noch schlanken Figur und dem fast faltenlosen Gesicht sah sie in der Tat sehr elegant aus.
Ich selbst hatte mir immer noch kein Brautkleid gekauft. Inzwischen war es fast März, daher ließ ich mich am Mittwochabend von Becky zu zwei weiteren Brautmodengeschäften schleifen, bevor ich die Bremse einlegte und trotzig verkündete, dass es mir reichte. Ich würde einfach ein Kleid in einer normalen Boutique kaufen. Aber Becky fand für sich selbst ein schönes Cocktailkleid aus dunkelblauer Seide und einen eleganten Cardigan.
»Dunkelblau ist nicht zu düster für eine Hochzeit, oder?«, fragte sie besorgt. »Aber eigentlich ist es ja auch eher ein dunkles Mittelblau, findest du nicht? Mir gefällt das Kleid total, aber wenn du es nicht magst und es nicht zur Farbpalette passt, nehme ich ein anderes.«
Ich versicherte ihr, dass ich ganz sicher keine Farbpalette festlegen würde und dass sie anziehen konnte, was sie wollte, solange sie nur kam und sich amüsierte.
Sie freute sich sichtlich über ihr neues Kleid. »Aber du musst auch bald etwas finden, Jen«, ermahnte sie mich besorgt. »Der große Tag rückt immer näher.«
Sie hatte natürlich recht, aber im Moment hatte ich drängendere Sorgen.
Am Donnerstag hatte Dan Frühschicht und kam bereits um fünf Uhr nachmittags nach Hause, weshalb der Abend für einen Ausflug nach Aberthin nicht infrage kam. Dann kam das Wochenende, und Dan hatte frei.
Am Montag stand mir zu meiner großen Erleichterung endlich der Abend zur alleinigen Verfügung. Um acht entließ ich Dan mit einer Lunchdose voll Hühnchencurry und Reis in die Nachtschicht. Mir hatte der Gedanke noch nie behagt, dass er ohne eine ordentliche warme Mahlzeit eine zwölfstündige Nachtschicht durchstehen sollte. Eine Stunde später war ich auf dem Weg zum Wohnwagenpark in Aberthin.
Wie schon beim letzten Mal parkte ich mein Auto auf Höhe des Viehgitters am Straßenrand, damit es von der Einfahrt aus nicht zu sehen war. Die beim letzten Besuch gesammelten Informationen hatte ich verifiziert, indem ich erneut auf Bodies Rechner eine schnelle Datenbanksuche unter dem Namen Paul Mathry durchgeführt hatte, für den es leider keine Einträge gab. In ganz Südwales waren nur zwei Mathrys polizeiauffällig geworden: Einer war zweiundzwanzig und saß im Gefängnis, und der andere war siebenundvierzig und wohnte in Newport.
Zu Hause gab ich Paul Mathry bei Facebook ein und fand tatsächlich ein Profil unter diesem Namen, bei dem als Wohnort Südwales angegeben war. Statt eines Porträtfotos enthielt das Profil jedoch nur eine Agenturaufnahme von einem Surfer, der eine spektakuläre Welle abritt. Bis auf gelegentliche Updates über gute Surfspots und in den letzten Jahren unternommene Reisen gab das Profil wenig her, allerdings wurde ein für August geplanter Urlaub erwähnt. Die wenigen »Freunde« des Users trugen typische Surfer-Spitznamen wie Board-Boy und Wave-Rider. Keiner von ihnen schien regelmäßig auf Facebook aktiv zu sein.
Immerhin untermauerte das existierende Profil meine Vermutung, dass »Justin« tatsächlich Paul Mathry war. Auch die Geschichte über das schwangere und im Stich gelassene Mädchen, die mir Gwen erzählt hatte, verriet mir, dass ich auf der richtigen Spur war. Die beiden Alten hatten gesagt, dass Paul den Wohnwagen noch nutzte oder dass sie zumindest hin und wieder darin Licht brennen sahen.
Aber mir fehlte noch die endgültige Bestätigung, dass Paul »Justin« war, damit ich ein Häkchen hinter seine Identität machen und von ihr ausgehend weiter nach Informationen graben konnte. Nicht nur die Hochzeit rückte immer näher, sondern auch die angekündigte »Oster-Abschlagszahlung«, und wenn diese geleistet war, würde Justin mit Sicherheit auf neue Ideen kommen. Es war also Eile geboten.
An diesem Abend war eindeutig niemand im Wohnwagen. Ich beobachtete ihn nun schon seit einer Stunde und hatte keine Anzeichen für Bewegung entdeckt, kein Licht, das angeknipst wurde, kein blaues Flackern vom Fernseher. Alles war stockdunkel. Ich war froh, dass auf das leichte Schneegestöber der vorletzten Woche sieben Tage trockenes, kaltes Wetter gefolgt waren. Schnee macht die Nächte heller, verändert Licht und Schatten, schluckt verdächtige Geräusche, konserviert Fußabdrücke, und ich wollte aus naheliegenden Gründen so wenige Spuren wie möglich hinterlassen.
Im Wohnwagenpark herrschte nahezu vollkommene Stille. In einem Wagen am hinteren Ende war gedämpftes Licht zu sehen, aber die einzige andere Beleuchtung stammte von den schmuddeligen, in weiten Abständen am Fußweg aufgestellten Laternen und einer trüben Lampe, die vor dem Bürohäuschen brannte.
Ich zog mir die Baseballkappe tief ins Gesicht und schlich leise zum Schuppen der Mathrys, wo ich durch einen Spalt in den Holzplanken spähte. Der Schuppen war mit einem neu aussehenden Schloss ausgestattet, das offenbar regelmäßig benutzt wurde. Aber es stand kein Campingbus darin. Aufmerksam auf Geräusche lauschend schlich ich außen um den Wohnwagen herum und lugte durch das mit Raureif bedeckte Fenster in der Tür. Der dahinter hängende, nicht ganz zugezogene Vorhang gewährte mir Einblick ins Innere. Während ich angestrengt hineinspähte, sah ich mich immer wieder nach plötzlich auftauchenden Personen um, zum Beispiel nach anderen Wohnwagenbesitzern, die ihren Hund spazieren führten.
Wie ich schon bei meinem letzten Besuch festgestellt hatte, handelte es sich beim Wohnwagen der Mathrys um einen mittelgroßen Wagen, der eher einer Hütte glich und nicht dazu gedacht war, herumgezogen zu werden. Ich probierte auf gut Glück die Klinke, aber die Tür war natürlich verriegelt. Auch die Fenster waren alle dicht verschlossen.
Aber der Wohnwagen ähnelte Wendys altem »Schuppen auf Rädern«, und genau darauf hatte ich gezählt.
Ich war nämlich vorbereitet und fest entschlossen, mir Zugang zu verschaffen.
Als ich mir diesen Plan ausgedacht hatte, hatte ich mir eingeredet, dass es streng genommen kein Einbruch war, sondern eine notwendige Maßnahme zur Informationsbeschaffung. Ich würde schließlich nichts stehlen, sondern nur Beweise dafür suchen, dass Paul und Justin wirklich ein und dieselbe Person waren. Und falls dem so war, interessierte mich natürlich, ob Justin hier irgendetwas Kompromittierendes versteckte.
Als am anderen Ende der Wiese lautes Lachen erklang, verließ mich fast der Mut. Offenbar handelte es sich um eine ausgelassene Gruppe Jugendlicher, denn ich hörte eine junge männliche Stimme rufen: »Verpiss dich, du Wichser!« Daraufhin folgten noch mehr Gelächter und das Geräusch einer zu Bruch gehenden Flasche.
Ich kauerte mit krampfhaft zu Fäusten geballten Händen im Schatten des Wohnwagens und überlegte, ob ich zurück zu meinem Auto rennen sollte. Aber nachdem ich ein paar Minuten angespannt gelauscht hatte, kehrte wieder Stille ein. Ich holte tief Luft, zählte rückwärts von zehn bis eins, atmete aus und stand wieder auf.
Was ich vorhatte, war meine einzige Chance. Wenn ich jetzt nach Hause fuhr und aufgab, würde ich vielleicht noch viele Jahre weiterzahlen und beten müssen, dass Justin sein Filmchen nicht trotzdem durch einen einzigen kaltschnäuzigen Mausklick im Internet zur Uraufführung brachte und mein Leben jäh zerstörte. Der Gedanke daran erfüllte mich mit eiskalter Entschlossenheit. Das unverhoffte Wochenende im Aeron Inn hatte mir etwas Wichtiges klargemacht: Es war mein Leben. Ich mochte Zweifel daran haben, ob ich wirklich für immer mit Dan zusammen sein wollte, aber das war ganz allein meine Entscheidung. Justin konnte nicht einfach so auftauchen und beschließen, mir dieses Leben wegzunehmen.
Meine neu erwachte Wut trieb mich an, zumal ich wusste, dass es eine unauffällige und schnelle Möglichkeit gab, in den Wohnwagen zu kommen – falls mein Plan aufging. Als ich vor Jahren mit Wendy und Shirley hier gewesen war, hatte nämlich eine von uns den Schlüssel im Wohnwagen vergessen – wir gaben uns natürlich gegenseitig die Schuld –, woraufhin Wendy nur mit den Schultern gezuckt und uns den Trick gezeigt hatte, auf den ihre Eltern zurückgriffen, wenn sie sich wieder einmal ausgeschlossen hatten oder von weit her angereist waren, um bei ihrer Ankunft festzustellen, dass sie den Wohnwagenschlüssel zu Hause auf dem Küchentisch vergessen hatten. Wenn man wusste, wie es ging, war es ganz einfach.
Es war eine glückliche Fügung, dass der Wohnwagen der Mathrys ganz am hinteren Ende des Geländes stand und seitlich und hinten von einer dichten Hecke umgeben war. Ich stellte mich vor das rechteckige Seitenfenster und zog Dans Schweizer Taschenmesser hervor. Die großen Frontfenster dieser alten Wohnwagen sind aus echtem, fest eingefügtem Glas, aber die Seitenfenster und die kleinen Schlafzimmerfenster sind aus Plexiglas und haben Scharniere mit Sperrvorrichtungen, damit man sie nach außen klappen kann.
Wendy hatte uns erklärt, dass diese Klappfenster meist nur mit einer dünnen Raste in der Mitte der Scheibe befestigt sind. Wenn man eine Messerklinge zwischen Scheibe und Rahmen schob und sie dann nach oben drückte, konnte man die Raste leicht lösen. Dann musste man nur noch die Hand hineinstecken, die Gleitscharniere aushebeln und die Fensterscheibe anheben, um hineinzusteigen. Die Schlafzimmerfenster waren zu klein dafür, aber durch das Seitenfenster passte problemlos eine erwachsene Person.
Zwölf Jahre später war dieses Manöver noch genauso kinderleicht wie damals. Nachdem ich ein paar Sekunden forschend mit der Klinge herumgestochert hatte, spürte ich den Rand der Metallraste, die sich erst ein wenig widersetzte, nach einer ruckartigen Bewegung mit dem Messer aber doch aufging. Bei alldem trug ich Handschuhe, denn es schadete schließlich nicht, wenn ich Fingerabdrücke vermied. Nachdem ich die Fensterscheibe angehoben hatte, stemmte ich mich nach oben, schob ein Bein durch die Fensteröffnung und ließ mich auf die gepolsterte Bank gleiten, die sich darunter befand.
Vorsichtig zog ich das Fenster wieder zu. Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich so einfach gewesen war.
Schwer atmend stand ich von der Bank auf und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wobei ich weiterhin auf jedes Geräusch von außen lauschte. Sofort stieg mir der aus meiner Jugend vertraute Wohnwagengeruch in die Nase. Feuchtigkeit, Schimmel, alte Sitzpolster, ein schwacher Hauch von Bratfett, mit dem jemand auf dem kleinen Herd Spiegeleier oder Speck gebraten hatte. Durch diese Duftnoten, die ich von früher kannte, schlängelte sich noch etwas anderes, ein wohlriechendes, pflanzliches Aroma. So roch es in der Asservatenkammer der Kripo, wenn dort wieder einmal die beschlagnahmten Pflanzen einer illegalen Cannabisfarm herumstanden und einen undurchdringlichen Dschungel bildeten.
Langsam tauchten Umrisse aus der Finsternis auf. Das Interieur aus Kunststoff und Polyester war wie in Wendys Wohnwagen in Braun- und Orangetönen gehalten und recht abgenutzt, aber sauber und ordentlich. Es gab Anzeichen dafür, dass der Wohnwagen in unregelmäßigen Abständen benutzt wurde und dass noch vor Kurzem jemand hier gewesen war. Vor mir auf einem Sitz lagen mehrere zwei bis drei Monate alte Ausgaben des Mirror, und neben der Spüle fand ich eine Schachtel Tetley-Teebeutel und eine offene Packung Pop-Tarts. Ein relativ neuer tragbarer Fernseher stand auf einer seitlichen Ablage.
Sorgsam darauf bedacht, nichts zu berühren, tappte ich im Dunkeln zum Schlafzimmer und zu einem weiteren kleinen Zimmer mit Schlafkoje, um mich zu vergewissern, dass sich dort niemand versteckt hatte. Aber die Luft war rein.
Ich knipste Dans alte LED-Taschenlampe an (zum Glück hatte er in unserer Rumpelkammer unter der Treppe jede Menge nützliches Männerspielzeug herumliegen) und achtete darauf, den Lichtstrahl mit der Hand abzuschirmen, damit ihn niemand, der draußen vorbeiging, hinter den zugezogenen Vorhängen leuchten sah. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich eigentlich suchte. Ich wollte irgendeinen Beweis für Justins Identität auftreiben, irgendetwas, das ihn belastete. Vielleicht sogar einen Laptop oder gebrannte CDs mit dem abscheulichen Video, die ich stehlen und zerstören konnte, um meine Freiheit zurückzugewinnen. Aber das war wohl ein bisschen zu viel verlangt.
Ich begann meine Suche in den Küchenschränken, die nur die erwartete Ansammlung nicht zueinander passender Teller, Schüsseln und Tassen sowie mehrere Packungen Heftpflaster und eine Verbandsrolle enthielten. In der Küchenschublade fand ich genau das Durcheinander an Gegenständen vor, das die meisten Leute in solchen Schubladen aufbewahren: Gummibänder, einen Flaschenöffner, Sammelmarken aus dem Supermarkt, Speisekarten von Lieferdiensten, Schrauben und Nägel in einer alten Tabakdose ohne Deckel.
Unter all den Sachen entdeckte ich auch ein paar mit Buntstiften gemalte, farbenfrohe Kinderbilder: blaue Wellen, die das Meer darstellen sollten, und Segelboote mit dreieckigen Segeln. Auch ein paar kleine, rechteckige Fotos, wie man sie in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren in Papierumschlägen vom Fotogeschäft zurückbekam, lagen in der Schublade.
Auf mehreren dieser Fotos war ein streng aussehender Mann in akkurat gebügelten Shorts und kurzärmeligem Hemd zu sehen, vermutlich Michael Mathry, und eine Frau, die offenbar gerne Blümchenkleider trug – Mrs Mathry? Ein Foto zeigte sogar eine deutlich jüngere Version von Gwen und Len mit ihrem Cockerspaniel (wohl eher nicht Ernie, sondern einer seiner Vorgänger). Sie saßen auf ihren Liegestühlen, hatten zwei kleine Mädchen mit Topffrisuren und sonnengeröteten Wangen auf dem Schoß und grinsten in die Kamera.
Und es gab mehrere Fotos von dünnen, etwa acht- oder neunjährigen Jungen mit wuscheligen Haaren und Hawaii-Shorts, die Fischernetze, Plastik-Tennisschläger oder Schnorchel unter dem Arm trugen oder triumphierend Krabben oder Seesterne in die Kamera hielten.
Justin?, überlegte ich, aber zwischen den Kindern auf dem Foto und dem Mann von heute lagen zu viele Jahre. Die jungenhaften Körper waren noch dünn und schlaksig und die Gesichter rosig und mädchenhaft rund.
In dem kleineren Schlafraum mit Stockbett hingen weitere Fotos an der Wand. Auf den meisten war ein etwa vierzehnjähriges Mädchen zu sehen, das hübsch, mager, blass und dunkelhaarig war. Es sah ein wenig verlegen aus, als wollte es nicht, dass man es fotografierte, und trug auf beinahe allen Fotos ein kleines goldenes Kruzifix um den Hals, das in der Sonne funkelte.
Mager, dunkle Haare … Gwen hatte von einem Mädchen gesprochen, das genau so aussah. Ob das Mädchen auf den Fotos die Pfarrerstochter war?
In einer Kiste unter dem Bett fand ich eine Mappe aus Pappe mit der Aufschrift »Suzy«, in der noch mehr Fotos lagen. Auf ihnen war wieder das Mädchen zu sehen, das jetzt um die siebzehn sein mochte. Es stand plantschend in der Brandung, die dunklen Haare vom Wind halb über den lachenden Mund geweht, die Augen im bleichen Gesicht scheu zur Kamera erhoben. Oder es saß im Schneidersitz am Strand und versuchte genervt, die Person, die die Kamera hielt, zu verscheuchen. Auf einem Foto stand es barfuß im Sand und zog den Saum seines flatternden Sommerkleids nach unten.
Zwischen den Fotos klemmten abgerissene Konzerttickets, Geburtstagskarten, Andenken an eine gemeinsame Jugend. Und dann fand ich, wonach ich gesucht hatte: ein Foto, auf dem Justin lächelnd den Arm um das Mädchen legte. Zu dem Zeitpunkt mochten sie in der Oberstufe gewesen sein oder bereits studiert haben. Justin sah natürlich jünger aus und hatte längere und ein wenig dunklere Haare, aber sein dunkelblauer Blick war genauso stechend wie heute. Im Hintergrund war das Meer zu sehen, hinter einem Strand, auf dem der blau-weiße Campingbus stand.
Ich grinste in die Dunkelheit hinein. »Hallo, Paul Mathry«, flüsterte ich laut, um es mit eigenen Ohren zu hören, um den Klang dieses Namens auf meiner Zunge zu spüren. Aber ich konnte mich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass er Paul hieß. Für mich war er immer noch Justin.
Ich steckte das Foto ein. Das war zwar riskant, aber es sah nicht so aus, als wäre die Kiste in den letzten Jahren unter dem Bett hervorgezogen worden. Ich brauchte einfach einen Beweis dafür, dass Justin wirklich existierte. Bisher war er fast so etwas wie ein Spuk in meinem Kopf gewesen, eine Fantasiegestalt, die kaum jemand außer mir gesehen hatte und niemand kannte, ein undefinierbares, unberührbares Phantom. Aber jetzt hatte ich ein Foto von ihm und kannte seinen Namen. Ich hatte eine Identität, einen Fixpunkt, und das war um Längen mehr, als ich vorher besessen hatte.
Von meinem Fund ermutigt setzte ich meine Suche fort. In einem schmalen Schrank im großen Schlafzimmer hingen zwei Sweatshirts und eine Jeans, und im Fach darüber lagen auf ordentlichen Stapeln ein paar T-Shirts, Socken und Unterhosen und ein sauberes gefaltetes Handtuch. Im Badezimmer machte ich neben der erwarteten Zahnbürste, dem Rasierer, der Seife und einer Flasche Shampoo eine interessante Entdeckung: ein paar ältere Döschen Prozac – eindeutig rezeptpflichtig – und daneben Valium, Temazepam und Ibuprofen, die Grundausstattung eines Medikamentensüchtigen.
Daneben lagen zwölf ungeöffnete abgepackte Kondome. Aber ich hoffte auf einen weit interessanteren Fund. Ich war mir sicher, in der Sitzecke des Wohnwagens Marihuana gerochen zu haben, auch im Badezimmer lag ein Hauch davon in der Luft. Dass Justin illegale Drogen nicht offen im Badezimmerschränkchen aufbewahrte, war klar. Wo war also sein Versteck? Ich konnte schlecht im Dunkeln den ganzen Wohnwagen durchwühlen oder Sitzpolster und Wandverkleidungen herausreißen, wie es die Spurensicherung in Fernsehserien immer tat. Dennoch war ich überzeugt, dass es irgendwo noch etwas zu entdecken gab.
Wenn ich Justin gewesen wäre, wo hätte ich dann meinen Drogenvorrat versteckt? Nicht im Spülkasten oder in der Teedose, das war zu offensichtlich. Andererseits rechnete er vermutlich überhaupt nicht mit einer Polizeidurchsuchung, warum auch? Es ging also eher darum, dass Zeug nicht offen herumliegen zu lassen, damit ein möglicher Einbrecher nicht auf dumme Gedanken kam.
Mir fiel ein, dass ich im Küchenschrank bei den Pflastern und Bandagen eine alte Tamponschachtel gesehen hatte. Warum hätte Justin Tampons vorrätig haben sollen? Und tatsächlich fand ich in der Schachtel eine kleine Plastiktüte mit Gras, eine weitere Tüte mit weißem Pulver, das vermutlich Heroin war, und ein paar mit Frischhaltefolie umwickelte Ecstasypillen. Auch einige weiße und blaue Pillen ohne Markierung befanden sich darunter. Jetzt bereute ich es, dass ich bei den Drogeninformationsveranstaltungen, die wir an Schulen und beim Tag der offenen Tür in der Wache durchführten, nicht besser aufgepasst hatte.
Bei einer kleinen Schachtel mit unmarkierten roten Pillen wusste ich hingegen sofort, um was es sich handelte. Über diese Droge gaben wir seit fünf Jahren jedes Jahr eine Warnung heraus, im Rahmen unserer weihnachtlichen »Kenne deine Grenzen«-Kampagne gegen Alkoholmissbrauch. Die Warnung lautete: »Lassen Sie niemals Ihr Getränk aus den Augen!« In der Schachtel waren nur noch zwei Hefte mit Pillen.
Rohypnol.
Als mir bewusst wurde, was dieser Fund bedeutete, erstarrte ich vor Schreck. Ich zog eins der silbernen Pillenheftchen heraus. Sechs Tabletten fehlten.
Während ich fieberhaft nachdachte, lehnte ich mich an den kleinen Tisch der Sitzecke, der unter meinem Gewicht ins Wackeln geriet. Ein halbes Dutzend Zeitschriften glitt zu Boden, und ich bückte mich schnell, um die Hefte wieder aufzuheben und sie genau so auf dem Tisch zu drapieren wie vorher. Nichts sollte meine Anwesenheit im Wohnwagen verraten.
Beim Aufsammeln fiel mir auf, dass es Reisezeitschriften waren – zwei oder drei Hochglanz-Surfmagazine und ein paar Reiseprospekte über Großbritannien. In der Mitte des Stapels entdeckte ich schließlich die aktuelle und zwei vorherige Ausgaben des Cool Cymru-Hotelführers. Zwischen den Seiten waren ein paar lose Zettel hervorgerutscht, auf denen zumeist harmlose, zusammenhanglose Notizen standen wie »Milch kaufen«. Aber es waren auch verschiedene Termine notiert sowie Albumtitel, Telefonnummern, Hotelnamen und Reiseinformationen wie Gezeitentabellen und Website-Adressen.
Ich blätterte die aktuelle Ausgabe des Cool Cymru-Führers durch. Einige Seiten waren umgeknickt, darunter auch die des Watch-House. Jemand hatte die Hotelbeschreibung mit einem Stift umkreist. Die anderen beiden markierten Hotels befanden sich im nördlichen Wales.
Aus einem Gefühl heraus überflog ich auch den Hotelführer Die 100 schönsten Hotels Großbritanniens. Er war schon ein paar Jahre alt, und es waren sechs Seiten umgeknickt. Auf vier davon wurden Hotels im Süden Englands beschrieben, auf einer ein Hotel in Northumberland und auf einer eine Unterkunft in Norfolk.
Ich ging noch einmal die Notizzettel durch: Hotelnamen, Albumtitel, Frauennamen, Telefonnummern, E-Mail-Adressen.
Während ich über diese Flut von neuen Informationen nachdachte und förmlich spürte, wie die Neuronen in meinem Kopf Verbindungen bildeten, um sie zu einem logischen Muster zu ordnen, hörte ich draußen das leise Holpern eines näher kommenden Fahrzeugs.
Ein paar Sekunden später erhellten Scheinwerfer die Vorhänge vor der Eingangstür. Jemand fuhr genau auf den Wohnwagen zu.