8.

Ich wartete bis nach dem Mittagessen, weil ich wusste, dass Bodie um diese Zeit bei der nachmittäglichen Einsatzbesprechung war. Am Vormittag hatte ich bereits zweimal versucht, mich unbemerkt in das Großraumbüro der Kriminalpolizei zu schleichen, hatte dort aber beide Male Detective Inspector Dai Hard angetroffen, der eine nicht enden wollende Zeugenaussage in seinen Computer tippte. Also hatte ich nur kurz ins Zimmer gewunken und war dann unauffällig weitergeschlendert. Aber als ich um zwei noch einmal mein Glück versuchte, war das Büro leer.

Ich lauschte einen Moment auf dem leeren Flur, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, aber ich hörte weder sich nähernde Stimmen noch Schritte oder Gelächter.

Ich hatte vierundzwanzig Stunden gebraucht, bis ich endlich den Mut aufgebracht hatte, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Jetzt zählte ich in Gedanken rückwärts von zehn bis eins, eine alte Gewohnheit, wenn ich eine unangenehme Aufgabe zu bewältigen hatte. Bei eins schlüpfte ich ins Büro und setzte mich an Bodies Computer. Und tatsächlich war wie immer die Suchmaske der Polizeidatenbank geöffnet. Bodie hatte sich trotz Dans Ermahnung, meiner Erinnerung und der Warnung unzähliger anderer Kollegen nicht ausgeloggt.

Jeder Polizist hat seine eigenen Zugangsdaten für die Nationale Polizeidatenbank, in der sämtliche Personen gespeichert sind, die bereits strafrechtlich verurteilt worden sind oder in der Vergangenheit mit einer Straftat in Verbindung gestanden haben. Weil Bodie bereits mit seinem Passwort eingeloggt war, konnte ich sofort mit meiner Suchanfrage beginnen. Ich selbst besaß keine Zugangsdaten für die Datenbank. Die zivile Belegschaft hatte nur dann Zugriff, wenn sie ihn für ihre tägliche Arbeit benötigte. Die Recherche unter Bodies Namen bot außerdem den Vorteil, dass ich die Datenbank durchsuchen konnte, ohne meine eigene ID zu involvieren, denn Jennifer Johnson, Dienstnummer 2234, war vorschriftsgemäß auf ihrem eigenen Computer in der Pressestelle eingeloggt, wo sie hingehörte.

Wenn man als ziviler Mitarbeiter ein Passwort für die Datenbank beantragen wollte, brauchte man einen guten Grund dafür, und eine willkürliche Suche nach einem Justin Reynolds erfüllte sicher nicht die Kriterien. Sonst hätte jeder Mitarbeiter aus Neugier seinen Nachbarn in der Datenbank suchen können, nur weil er nachts die Musik voll aufdrehte oder sich lautstark mit seiner Frau stritt.

Die Straftäterdatenbank unterlag natürlich dem Datenschutz, und die Bestimmungen wurden bei uns übertrieben streng eingehalten. Es fanden regelmäßig Stichproben statt, und es waren schon häufiger Mitarbeiter wegen Missbrauchs verwarnt oder sogar entlassen worden. Ich wusste beispielsweise von einem Polizisten, der die Straße, in der er ein Haus kaufen wollte, nach dort residierenden Straftätern abgesucht hatte. Ein anderer hatte den Freund seiner siebzehnjährigen Tochter überprüft, um sicherzugehen, dass sich hinter dem harmlos wirkenden Rettungsassistenten kein Psychopath verbarg, der seiner Tochter an den Kragen wollte. Beiden hatte man nahegelegt, sich eine »neue Wirkungsstätte« zu suchen. Andere Kollegen waren sogar vor Gericht gelandet, und einer hatte eine Haftstrafe auf Bewährung aufgebrummt bekommen.

Aber ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb. Ich musste Justin Reynolds einfach finden. Vielleicht warteten seine Adresse und seine Kontaktdaten in Bodies Computer auf mich, und ich musste nur ein paar Tasten drücken, um sie abzurufen. Eine kurze Suchanfrage unter Bodies ID (Marc Ryan, Dienstnummer 89963) würde genügen, und wenn ich schnell genug war und einen kühlen Kopf bewahrte, würde nie jemand davon erfahren.

Ich tippte den Namen in die Suchmaske. In etwa einer Minute würde ich erfahren, ob Justin Reynolds jemals mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Entschlossen klickte ich auf Suche starten und lauschte dabei auf sich nähernde Schritte auf dem Flur. Das kleine Sanduhr-Symbol begann sich zu drehen, und mein Puls wurde schneller. Ich bemühte mich, langsam zu atmen und die Ruhe zu bewahren.

Aus heutiger Sicht erscheint es mir unglaublich, dass mich dieser kleine Regelverstoß so nervös machte, aber damals war es das Illegalste, was ich je getan hatte. Ich verließ noch nicht einmal ein Restaurant, ohne den Kellner darauf hinzuweisen, dass er die zweite Flasche Wein oder das Dessert auf meiner Rechnung vergessen hatte. Ich war noch nie geblitzt worden und hatte keinen einzigen Punkt im Verkehrssünderregister. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob meine weiße Weste auf prinzipieller Ehrlichkeit beruhte oder mehr mit meiner Angst vor Konflikten und der Peinlichkeit, erwischt zu werden, zu tun hatte. Aber in diesem Fall nahm ich das Risiko auf mich, weil ich keine andere Möglichkeit sah.

Der Computer kam mir heute besonders langsam vor, und je länger die Suche dauerte, desto schreckhafter wurde ich. Ich war davon überzeugt, dass mein klopfendes Herz bis auf den Flur zu hören war und jeden Mitarbeiter, der dort vorbeikam, zum Schauplatz meines Regelverstoßes lockte. Aber es waren immer noch keine Schritte zu hören.

Nach etwa zwei Minuten gab der Computer ein leises Pling von sich, woraufhin in der Suchmaske die Worte »Anfrage negativ« erschienen. Negativ? Kein Suchergebnis? Verdammt! Justin war also nicht vorbestraft. Als Nächstes war NOMAD an der Reihe, das Programm, das sämtliche Vorfälle und Anrufe protokollierte, die von der Wache bearbeitet wurden. Im Gegensatz zur Nationalen Datenbank war hier jeder Autodiebstahl, jede Körperverletzung und jede Ruhestörung innerhalb der Reviergrenzen vermerkt. Die persönlichen Daten des Anrufers wurden ebenso aufgezeichnet wie die des Opfers (im Polizeijargon »versehrte Person« oder VP genannt) und aller Zeugen und Verdächtigen, selbst wenn es nie zu einer Verhaftung oder einer Gerichtsverhandlung kam.

Für NOMAD hatte ich selbst ein Passwort, da ich bei Anfragen von Journalisten Zugriff auf die gewünschten Informationen brauchte. Aber auch hier galt, dass unsere Suchanfragen direkt mit unserer Arbeit zu tun haben mussten. Ich tippte Justins Namen ein, und die Sanduhr begann erneut zu rotieren. Immer wieder blickte ich zur Tür und hoffte, dass sich niemand lautlos anschlich und mich auf frischer Tat ertappte.

Mist! Die Suchanfrage war ebenfalls negativ. Justin Reynolds hatte noch nie Anzeige erstattet oder einen Einbruch oder Autodiebstahl oder den Verlust seines Geldbeutels gemeldet. Er hatte nie als Zeuge für ein Verbrechen ausgesagt oder einen Strafzettel wegen Falschparkens oder Geschwindigkeitsüberschreitung bekommen.

Meine letzte Chance war die Datenbank der Kraftfahrzeugzulassungsstelle. Wieder lauschte ich dem quälenden Summen des Computers und wartete mit zum Zerreißen gespannten Nerven auf das Ergebnis. Suchanfrage negativ. Nirgendwo in Großbritannien war ein Auto unter dem Namen Justin Reynolds zugelassen.

Ratlos lehnte ich mich im Stuhl zurück. Das Ergebnis meiner Suche hieß natürlich noch lange nicht, dass Justin nicht in der Gegend lebte. Er war nur schlicht und ergreifend nie polizeiauffällig geworden, war nie Opfer eines Verbrechens gewesen und hatte nie ein Auto besessen. Noch wahrscheinlicher war allerdings, dass er mir einen falschen Namen genannt hatte. Wenn ich versucht hätte, jemanden zu erpressen, wäre ich auch nicht so dumm gewesen, es unter meinem richtigen Namen zu tun. Das erklärte auch, warum ich im Internet nirgendwo eine Spur von Justin Reynolds gefunden hatte, obwohl jeder Mensch irgendwann einen elektronischen Fußabdruck hinterlässt, weil sich das gar nicht vermeiden lässt.

Eilig schloss ich die Programme, die ich geöffnet hatte, und stellte Bodies letzte offizielle Suchanfrage wieder her. Nachdem ich mich rasch auf dem Flur umgesehen hatte, huschte ich zurück in die Pressestelle, wo ich erleichtert aufatmete. Gleichzeitig war ich frustriert darüber, dass ich schon so früh eine Niederlage einstecken musste. Ich war mir so sicher gewesen, dass meine riskante Suchaktion etwas Brauchbares zutage förderte.

Wer bist du, Justin, und wo treibst du dich herum?, dachte ich. Wenn ich weiterhin so erfolglos blieb, wusste ich immerhin, wo er am 15. Januar sein würde. Irgendwo in der Nähe des Flughafens von Cardiff, bevor er sich mit einem weiteren Umschlag voller Geld aus dem Staub machen würde.

An diesem Abend feierten Dan und ich unseren neunten Jahrestag. Ich konnte kaum glauben, dass es schon neun Jahre her war, dass wir uns kennengelernt hatten. Eigentlich war das genaue Datum schon vor zwei Wochen gewesen, aber da Dan am betreffenden Tag eine Doppelschicht aufgebrummt bekommen hatte, hatten wir unseren Jahrestag verschoben und feierten ihn nun ausgerechnet am schlimmsten Tag des Jahres: an Silvester.

Für mich war unser Jubiläum jedes Jahr aufs Neue eine schwierige Zeit. Normalerweise war ich schon Wochen vorher aufgeregt und überlegte, ob Dan mich dieses Jahr endlich mit einem Restaurantbesuch oder einer anderen Idee überraschen würde, ob er mir ausnahmsweise etwas schenken würde, das keine Enttäuschung in mir auslöste. Manchmal legte er seine Geschenke zu Weihnachten und zum Jahrestag sogar zusammen, was mich schon aus Prinzip ärgerte. Ich fühlte mich betrogen, wie ein Kind, das kurz vor oder kurz nach Weihnachten Geburtstag hat und nur einmal Geschenke bekommt.

Es ging mir nicht um den Betrag, den er für mich ausgab, aber ich wollte, dass er sich die Mühe machte, sich etwas Besonderes zu überlegen, und sei es ein Gedichtband für fünf Pfund. Ich selbst hatte Dan dieses Jahr eine schicke Lederbrieftasche gekauft, weil seine alte schon so abgenutzt war.

Meine Sorge stellte sich diesmal als unbegründet heraus, denn er schenkte mir einen spitzenbesetzten Seidenpyjama, über den ich mich sehr freute. Seit er mir ins Watch-House hinterhergefahren war, um mich zurück nach Hause zu holen, gab er sich die größte Mühe und zeigte mir, dass er meine Bedürfnisse ernst nahm. Daher rührte wohl auch sein Versuch, am Silvesterabend ein romantisches Abendessen für mich zu zaubern. Eigentlich hatte er mich in ein Restaurant ausführen wollen, aber er war wieder einmal zu spät dran gewesen und hatte keine Reservierung mehr ergattern können. Also hatte er ein Menü mit Nachtisch für mich vorbereitet, einen guten Wein dazu gekauft und den Tisch festlich gedeckt, mit Tischdecke und Platztellern und sogar ein paar Teelichtern für die romantische Stimmung. Das Lamm war ein wenig zu durch, und die Kartoffeln waren ein vorgekochtes Fertigprodukt, aber es war seit Jahren die erste Mahlzeit, die er selbstständig für mich gekocht hatte, daher war ich trotz allem gerührt.

Ich selbst war nämlich auch nicht gerade ein Ass in der Küche. Meist war ich es zwar, die abends kochte, aber mein Repertoire beschränkte sich auf gekochte Kartoffeln mit gebratenem Hühnchen oder Fisch und gedünstetem Gemüse. Hin und wieder brachte ich auch ein Currygericht oder eine Gemüsepfanne zustande, aber für ausgefallenere Rezepte fehlte mir die Geduld. Dan aß klaglos alles, was ich ihm vorsetzte, und lobte mich sogar dafür. Dieses Mal war es an mir, ihm Komplimente zu machen.

»Ich weiß, dass in unserer Beziehung nicht immer alles so läuft, wie du es dir vorstellst, aber ich werde mir von jetzt an Mühe geben«, versprach er. »Ich werde versuchen, ein bisschen romantischer zu sein. Du weißt, dass ich dich über alles liebe, aber manchmal fehlt mir einfach das Organisationstalent, um dir meine Liebe mit kleinen Gesten zu zeigen. Während der Schicht geht es oft drunter und drüber, und ich bin nun mal nicht so gut im Multitasking wie du. Das soll keine Ausrede sein. Ich weiß, dass das mein Schwachpunkt ist, und verspreche, dass ich daran arbeiten werde.«

Als Dan in der Küche die Himbeer-Pannacotta anrichtete, traf eine SMS von Justin ein, woraufhin ich an nichts anderes mehr denken konnte. »250 Pfund. Fahr zum Flughafen. 19 Uhr. Anweisungen folgen.«

Unter größten Mühen spielte ich für den Rest des Abends die perfekte Freundin und gab mich dankbar, zufrieden und sorglos. Es war die schauspielerische Leistung meines Lebens. Wir hatten versprochen, bei einer Silvesterparty in Gee Gees Bar vorbeizuschauen, wo die meisten Kollegen feierten, die heute keinen Dienst hatten. Danach wollten wir zu zweit in einen etwas ruhigeren Pub weiterziehen. Die Aussicht darauf, die ganze Nacht in Dans fröhliches Gesicht blicken zu müssen und dabei genau zu wissen, dass ich ihn belog, war beinahe unerträglich.

Die Party bei Gee Gees war der absolute Horror. Alle waren sturzbetrunken und amüsierten sich prächtig. Man tanzte ausgelassen oder begrapschte sich gegenseitig in den dunklen, stickigen Séparées, für die das Gee Gees bekannt war. Superintendent Sue Sellers verstellte mir auf der Toilette den Weg, um mir mit ihrer Reibeisenstimme zuzulallen, was für ein Glück ich doch verdammt noch mal hätte, einen Mann wie Dan mein Eigen zu nennen.

Noch nie hatte ich mir so sehr gewünscht, einen Raum zu verlassen. Ich wollte nur noch weg von all dem Glitzer und Lametta, von all den lachenden, kreischenden, sich gegenseitig anrempelnden und miteinander knutschenden Menschen mit ihren albernen Silvesterhüten. Ich wollte mit Dan in einem stillen Eckchen in einem altmodischen Pub sitzen und trinken und reden und lachen, wie wir es zu Beginn unserer Beziehung oft gemacht hatten.

Also brachen wir noch vor Mitternacht zum Old Station Pub auf und zwängten uns in eine Sitznische neben einen Mann, der als Ronald McDonald verkleidet war, und eine Frau, die als Batgirl ging. Als der Countdown bei null angekommen war und die Jukebox scheppernd »Auld Lang Syne« spielte, umarmte mich Dan stürmisch, den ein paar Gläser Bier in Stimmung gebracht hatten, nahm mein Gesicht in beide Hände, wie er es oft getan hatte, als unsere Liebe noch ganz frisch gewesen war, und sagte: »Ab jetzt wird alles gut, Jen. Das weiß ich. Wir haben schon so einen langen Weg miteinander zurückgelegt und dürfen nie wieder zulassen, dass uns etwas in die Quere kommt.« Dann küsste er mich, sanft und unendlich zärtlich.

Plötzlich musste ich ihn ganz fest umarmen, damit er nicht sah, dass ich innerlich zersprang, dass ich fast erstickte, weil ich die inzwischen vertraute Tränenflut zurückdrängen musste.

Später lag ich in Dans Arme gekuschelt im Bett. Es hatte angefangen zu schneien, und er schnüffelte an meinem Hals und sagte: »Wie ich das vermisst habe. Das ist das Beste am ganzen Tag, an jedem Tag. Frohes neues Jahr, mein Liebling.«

Kurz darauf war er eingeschlafen, während ich noch viele Stunden wach lag. Aber ich genoss die Wärme, die er ausstrahlte, und rührte mich daher nicht von seiner Seite.

Am nächsten Nachmittag, nachdem Dan sich verkatert und müde zu seiner Spätschicht geschleppt hatte, fuhr ich mit dem Auto nach Porthcawl. Mir blieben fünfzehn Tage, bis die nächste Zahlung fällig war. Fünfzehn Tage, um Justin zu finden und ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, damit er endlich zur Vernunft kam.

Während ich in der Silvesternacht wach gelegen und Dans gleichmäßigen, zufriedenen Atemzügen gelauscht hatte, hatte ich Pläne geschmiedet und beschlossen, einen neuen Ansatz auszuprobieren. Mir war nämlich klar geworden, dass es doch Dinge gab, die ich über Justin wusste und bisher noch nicht berücksichtigt hatte, Dinge, die er und andere Leute an jenem Wochenende gesagt hatten.

Dadurch, dass ich täglich rund um die Uhr am Telefon hing und mit Kommentaren, Zitaten und Tatsachen jonglierte, hatte ich ein beinahe unheimliches Gedächtnis für Gespräche und konnte mir mühelos merken, was wer wann wo zu mir gesagt hatte. Schließlich ist die akkurate Wiedergabe von Informationen unerlässlich, wenn es um rechtliche Fragen geht oder um den Ruf, den jemand in der Öffentlichkeit genießt. Auch mein täglicher Umgang mit Polizisten verschaffte mir einen Vorteil, denn ich wusste genau, wie ich die mir vorliegenden Informationen am besten verwertete und meinen Nutzen daraus zog. Ich musste nur die richtigen Fragen stellen und mich systematisch durch die Antworten arbeiten.

Mit anderen Worten: Ich fing endlich an, die Suche nach Justin wie eine Pressereferentin (oder Polizistin) anzupacken, statt mich weiterhin wie ein Opfer zu fühlen. Mit Opfern hatte ich bei meiner täglichen Arbeit schon genug zu tun.

Zuerst machte ich Inventur und trug zusammen, was ich bereits wusste. Begegnet war ich Justin im Watch-House in Penallt auf der Halbinsel Gower. Für die erste Zahlung hatte ich einen Zug nach Swansea genommen, und auch die bevorstehende Geldübergabe am Flughafen, der sich außerhalb Cardiffs in Vale of Glamorgan befand, setzte voraus, dass er sich zumindest grob in der Gegend auskannte. Außerdem hatte Justin erzählt, dass er surfte. Bei unserem Gespräch im Pub hatte er ein- oder zweimal den Küstenort Porthcawl erwähnt, wo Carl, der Surfer mit der Sherpamütze, sein »Monster«-Brett hatte bemalen lassen.

Falls Justin tatsächlich Surfer war, konnte es dann nicht sein, dass er sich immer da aufhielt, wo gerade die besten Wellen waren? Porthcawl war berüchtigt für seine hohen Wellen, weshalb sich an den Stränden im Umkreis oft den ganzen Winter lang ein paar hartgesottene Surfer aufhielten.

Justin fuhr angeblich einen ziemlich auffälligen Campingbus, und der musste sich doch irgendwie ausfindig machen lassen. Außerdem hatte Carl behauptet, dass auf die Seite des Busses ein Hai gemalt war, der vermutlich ebenfalls von dem Surfbrettkünstler aus Nottage bei Porthcawl stammte.

Die Auswertung all dieser Informationen webte nur hauchdünne Fäden, aber ich hatte nichts anderes, an das ich mich hätte klammern können. Irgendwo musste ich schließlich anfangen, wenn ich mich nicht einfach zurücklehnen und darauf warten wollte, dass Justin mir mein Geld abknöpfte oder Schlimmeres antat. Also redete ich mir ein, dass es das einzig Vernünftige war, ihn persönlich zur Rede zu stellen. Ich war aufrichtig davon überzeugt, dass ich ihn zur Vernunft bringen oder zumindest an sein Mitgefühl, sein Gewissen appellieren konnte. Jedenfalls musste ich ihm noch einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, um das, was zwischen uns vorgefallen war, bei Licht zu betrachten und zu versuchen, es irgendwie zu verstehen.

Als ich an der Promenade parkte, sah der Strand im dämmrig grauen Licht des Januarnachmittages genauso müde und verkatert aus wie die wenigen Menschen, die unterwegs waren. Die spärlichen Schneeflocken, die in der Nacht gefallen waren, waren längst geschmolzen, und der bewölkte Himmel wirkte bleiern. Wenigstens regnete es nicht.

Es war gerade Flut, und die Wellen schlugen schäumend an den langen Strand, der am hinteren Ende von einer Landzunge begrenzt wurde, auf der ein Rettungsschwimmerturm aus Beton stand. Auf der anderen Seite der Promenade gammelten Vergnügungspark und Rummelplatz vor sich hin, deren farbenfrohe Pracht längst verblichen und abgeblättert war. Die ausgefransten, dreckigen Fahnen, die auf der klapprigen Achterbahn und der Big-Bump-Superrutsche wehten, zeugten von fernen, ausgelassenen Sommertagen.

Ich bummelte die Promenade entlang, vorbei am Leuchtturm, der wie eine weiße Pfeffermühle von der Ufermauer in den Himmel ragte und stur dem Wind und der schäumenden Brandung trotzte. Sechs dick aufgeplusterte Möwen saßen dicht gedrängt neben der Treppe zum Strand und warteten auf Kinder, denen sie Essbares stibitzen konnten. An diesem tristen Neujahrstag waren nur wenige Touristen unterwegs, die im Windschatten von Dolly’s Tee Cabin standen und Pappbecher mit Tee und zuckrige Donuts in den Händen hielten, während sie ihren Kindern zuriefen, dass sie sich vor Pfützen und eisigen Flächen in Acht nehmen sollten.

Wie anders waren da früher die munteren Ausflüge meiner chaotischen Großfamilie ans Meer gewesen, bei denen keine Sekunde lang Trübsinn oder Tristesse aufgekommen war. Die Erinnerungen wärmten mich in der eiskalten Brise, die heute wehte. Das Ritual war immer dasselbe: Erst wurde mithilfe einer kratzigen Decke und eines gestreiften Windschutzes das Territorium abgesteckt, und dann übernahm Onkel Owen die Aufgabe, auf einem Petroleumkocher Würstchen zu garen und sie dampfend heiß in längliche Brötchen zu legen. Großtante Non und Oma Jenkins saßen auf ihren Liegestühlen, behielten trotz der flirrenden Sommerhitze ihre Stützstrumpfhosen und Wickelstrickjacken an und lästerten genüsslich über Gott und die Welt. Nachdem sich alle mit Tee und Keksen gestärkt hatten, gaben sie Anekdoten aus ihrer Schulzeit in einem großen Internat an der Südküste Englands zum Besten. Darin kamen Fliegerbomben und dreiste amerikanische Piloten namens Joe oder Brad vor, mürrische Hausmütter, die mit krummem Rücken Messing polierten und Brot buken und riesige, schwer zu bedienende Holzöfen befeuerten.

Die exotischen Geschichten meiner Großmutter, die sie erzählte, während sie zwischendurch an ihrem dünnen Tee nippte, konnten sich bis weit in den Nachmittag ausdehnen. Sie schien schon im zarten Alter von neun oder zehn Jahren Dinge erlebt zu haben, die sich in meinen Ohren aufregend und ein bisschen gewagt anhörten. Als Backfisch hatte sie einen Verehrer nach dem anderen gehabt, und jeder hatte ihr wunderbar frivole und vollkommen unpraktische Geschenke gemacht, die er speziell für sie ausgesucht hatte, um ihrer Schönheit zu huldigen, zum Beispiel einen extravaganten Hut mit roten Kirschen darauf oder eine Krokodilledertasche mit strassbesetzter Schließe.

Dan hingegen hatte mir einmal einen Northface-Rucksack zu Weihnachten geschenkt, den ich seither für meine Sportsachen benutzte.

»Mehr, Oma, erzähl uns noch mehr Geschichten!«, hatte ich als kleines Mädchen immer gedrängt, während ich im Schneidersitz vor ihr im Sand saß und hingerissen lauschte.

Oberhalb der Stelle, an der wir damals unsere Familienpicknicks gemacht hatten, verlief heute ein betonierter Fußweg, an dem sich die Imbissbuden drängten. Dahinter entdeckte ich trotz der Kälte ein halbes Dutzend hartgesottener Surfer im Wasser, die sich mit dicken Neoprenanzügen, Gummischuhen und schwarzen Kopfhauben vor der Kälte schützten. Hin und wieder erwischte einer von ihnen eine Welle und fuhr davon, während der Rest der Meute wie große schwarze Seehunde auf den Wogen wippte. Ein paar pastellfarbene Campingbusse parkten hintereinander im Halteverbot entlang des Fußwegs.

Ich sog die kalte Luft ein und wappnete mich für das, was nun kommen würde. Aufmerksam musterte ich die Busse und die Surfer, die um sie herumstanden, um zu sehen, ob ich vielleicht einen von ihnen erkannte. Dabei schlenderte ich unauffällig erst auf der einen Seite und dann auf der anderen an den Campingbussen vorbei. Keiner hatte ein Haimotiv auf der Seite. Das wäre ja auch zu einfach gewesen.

Ein Grüppchen aufgeschlossen wirkender Surfer, die noch ihre Neoprenanzüge trugen und Wollmützen aufhatten, stand Kaffee trinkend und Hotdogs essend vor einem der Busse. Irgendwo musste ich ja anfangen, meine Fragen zu stellen. Ob ich mich ausreichend vorbereitet hatte, würde sich zeigen.

Mit wildfremden Menschen ein Gespräch anzufangen, ohne mich hinter meiner Funktion als Pressereferentin zu verschanzen, war absolutes Neuland für mich. Am Telefon war ich ein Ass, dort fiel es mir nicht schwer, auch unangenehme Fragen zu stellen. Wenn man nicht den abschätzenden Blicken eines Gegenübers ausgesetzt ist, ist es einfacher, ruhig zu bleiben und hartnäckig die eigenen Ziele zu verfolgen. Ich war es gewohnt, auf die Stimmen der Menschen zu achten und aus Klang und Tonfall herauszuhören, ob sie Besänftigung brauchten oder eine resolute Behandlung vertrugen. Dabei konnte ich mich stets an vorgegebenen Verhaltensmustern orientieren und wusste genau, wie weit ich gehen durfte.

Meine heutige Mission war etwas ganz anderes. Ich musste improvisieren und spontan reagieren. Am liebsten hätte ich gleich wieder das Handtuch geworfen, aber beim Gedanken an das Video erwachte mein Kampfgeist. Ich zählte wieder von zehn bis eins, ballte die Fäuste und fixierte den jungen Mann, der der Anführer der Gruppe zu sein schien.

Er saß im Schneidersitz in der offenen Tür seines Campingbusses, hatte den Neoprenanzug bis zur Taille heruntergerollt und trug einen Wollpullover mit Kapuze. Die sonnengebleichten Strähnchen in seinen Haaren waren so gleichmäßig verteilt, dass er bestimmt mit Blondierungsspray nachgeholfen hatte, um einen sorgfältig nachlässigen Surferlook zu erhalten.

Einer der anderen Surfer reichte ihm ein heißes Getränk und einen Schokoladenkeks, Gefälligkeiten, die er mit großer Selbstverständlichkeit entgegennahm. Zwei weitere Surfer saßen auf der Bordsteinkante und lachten über etwas, was ihr Anführer gesagt hatte. Alle vier waren im Studentenalter und besaßen das gesunde, athletische Aussehen von reichen Söhnen, die eine Privatschule besucht hatten. Der Campingbus, in dem der Surfer mit den blonden Strähnchen saß, war nagelneu, ein mit jedem erdenklichen Komfort ausgestattetes Modell in Cremeweiß und Blau. Luxus auf vier Rädern, dachte ich.

»Sorry, Jungs, darf ich euch kurz stören?«, hörte ich mich mit vollkommen entspannter Stimme fragen. »Ich bin auf der Suche nach einem Justin Reynolds. Ihr kennt ihn nicht zufällig? Angeblich surft er auch manchmal hier.«

Der Anführer unterbrach die Geschichte, die er gerade zum Besten gab, und bedachte mich mit einem strahlend weißen Lächeln. Sein Gebiss war bestimmt nicht billig gewesen. Aus der Nähe sah ich, dass er noch jünger war, als ich gedacht hatte, vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig.

»Hallöchen!«, begrüßte er mich. »Und wer ist dieser Glückliche, der von dir gesucht wird?«

Was die Privatschule anging, hatte ich eindeutig recht gehabt. Sein Englisch war so akzentuiert und hochgestochen, dass ich mir dagegen wie ein Bauerntrampel vorkam.

»Nur ein alter Freund«, antwortete ich vorsichtig. Schließlich hätte Justin der beste Kumpel dieser Surfer sein können. Vielleicht stand er sogar gerade im Campingbus, wo ich ihn nicht sehen konnte, und zog sich den Neoprenanzug aus oder war zu einer der Imbissbuden gegangen, um sich einen Hotdog zu holen.

»Ein alter Freund, oder ein alter Freund?«, hakte der Alphasurfer mit einem vielsagenden Glitzern in den Augen nach.

»Sagen wir einfach, ich habe seine Telefonnummer verloren«, gab ich augenzwinkernd zurück. Oh, das war gut, dachte ich. Kokett, aber unverbindlich. Ich war positiv überrascht von mir selbst. Mein Selbstvertrauen wuchs.

»Ich kann dir meine geben, wenn du dich dann besser fühlst«, bot er an und knipste wieder sein strahlendes Lächeln an. Wenn ich in seinem Alter doch nur so unbefangen gewesen wäre, so selbstverständlich meinen Platz in der Welt beansprucht hätte. Nicht einmal heute, mit neunundzwanzig Jahren, besaß ich ein vergleichbares Selbstvertrauen. Mach jetzt nicht alles kaputt, indem du vor Scham im Erdboden versinkst, ermahnte ich mich, als ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Hoffentlich ging es als frische Gesichtsfarbe durch, die mir der Winterwind ins Gesicht getrieben hatte.

»Das ist mit Abstand das beste Angebot, das mir heute unterbreitet wurde«, schaltete ich mich wieder in das Gespräch ein und gab mir Mühe, so scherzhaft und beiläufig wie möglich zu klingen.

»Der Tag ist jung, vielleicht ergibt sich ja noch etwas Besseres«, sagte einer der Surfer von der Bordsteinkante und grinste schüchtern, woraufhin der Alphasurfer einen Gummischuh nach ihm warf. Die Runde lachte.

»Wirklich zuvorkommend von euch«, bedankte ich mich. »Aber ich muss diesen Typen wirklich finden. Justin Reynolds?«

»Sorry, Süße, aber der Name sagt mir nichts«, antwortete der Anführer. Auch die anderen schüttelten die Köpfe. »Schuldet er dir Geld, oder so was?«

»Nein, nein. Ich würde nur gern mit ihm sprechen. Er hat einen total schönen Campingbus, einen alten. Vielleicht habt ihr den schon mal in der Gegend gesehen. Mit einem aufgemalten Hai auf der Seite?«

Ich versuchte gar nicht erst, so zu klingen wie Carl und Dinge wie »geiler Bus« oder »lässiges Design« zu sagen. So weit reichte mein schauspielerisches Talent nicht. Ich hatte das Gemälde auf Justins Bus zwar nicht selbst gesehen, konnte mir dank Carls Surfbrett aber ungefähr vorstellen, wie es aussah, und fügte spontan hinzu: »Mit ganz vielen Blumen drumherum, so im hawaiianischen Stil. Habt ihr den zufällig irgendwo gesehen?«

»Nein, sagt mir nichts. Surfst du auch in der Gegend? Ich hab dich noch nie hier gesehen. Glaube ich zumindest. Du surfst bestimmt in Rest Bay, oder? Da surfen die meisten, die von außerhalb kommen.«

Ich trug Jeans, Converse-Turnschuhe, eine halbwegs coole Fleecejacke von Dan, die er zum Wandern anzog, und eine Pudelmütze. Dazu hatte ich mir die Surfer-Armbänder übers Handgelenk gestreift, die ich in Gower gekauft hatte. Ich wollte aussehen wie jemand, der den ganzen Tag am Strand verbrachte und ab und zu ein paar Wellen surfte, jemand, der einen vollkommen harmlosen Grund dafür hatte, einen Surfer und seinen Bus zu suchen.

»Ja«, hörte ich mich lügen. »Aber ich bin die totale Anfängerin, echt, ich surfe erst seit ungefähr einem Jahr. Von Rest Bay komme ich gerade, aber da geht gar nichts. Ist sowieso viel zu kalt heute.« Da geht gar nichts. Diesen Satz hatte ich auf dem Weg von meinem Auto zum Strand aufgeschnappt und jetzt instinktiv in meine Lüge eingebaut, damit ich authentischer wirkte. Obwohl ich nicht genau wusste, was in Surferkreisen damit gemeint war, sagte ich es so selbstverständlich, als hätte ich verkündet, dass mir zu Hause die Milch ausgegangen sei. Dennoch war ich unsicher, ob ich glaubhaft wirkte. Ich kam mir vor, als würde über meinem Kopf in riesigen Leuchtbuchstaben das Wort »Blenderin« stehen.

Aber der Anführer grinste nur und sagte: »Ja, hier ist es jetzt auch weniger geworden, lohnt sich nicht mehr. Meine Jungs und ich waren draußen, bis uns halb die Eier abgefroren sind.« Die Runde kicherte. Ich entdeckte einen wunderschönen Wal auf dem Surfbrett des Anführers, das an der Fahrertür lehnte. Das Design ähnelte dem von Carls »Monster«, denn auch dieser Wal war von hawaiianischen Blumen umgeben. Mein Interesse entging dem Alphasurfer nicht.

»Gefällt dir mein Wal?«

»Absolut. Carl, ein Freund von mir, hat auch so eins, aber bei ihm ist es ein Hai.«

»Ach, den Typen kenne ich. Carl aus Penallt, stimmt’s?« Seine Zunge tat sich schwer mit der walisischen Aussprache des doppelten »l«. »Der ist so was von stolz auf seine Bretter. Ein ziemlicher Exzentriker, aber das sind die älteren Surfer meistens. Zu viel …« Er tat so, als würde er an einem Joint ziehen. »Der hat so viel gekifft in seinem Leben, dass er glaubt, er wäre in Kalifornien. Wenn du mich fragst, ist weniger oft mehr, was Drogen angeht. Alles in Maßen.«

»Ich weiß genau, was du meinst. Man muss sein Limit kennen«, sagte das Surfer-Girl, das seit Neuestem in meinem Kopf wohnte.

»Stimmt«, gaben mir die beiden Surfer recht, die auf der Bordsteinkante saßen. Nachdenkliches Nicken machte die Runde.

»Hast du deinen Wal auch in Nottage malen lassen? Carl meinte, dass es da so einen Typen gibt, der sich darauf spezialisiert hat. Ich bin am Überlegen, ob ich mir auch was auf mein Brett malen lasse.«

»Ja, Santos hat die besten Farben und Designs. Er designt dir bestimmt was Cooles, aber sieh zu, dass du ihn runterhandelst. Der hält sich für Picasso. Wehe, du lässt dir einen Wal malen! Der gehört mir.«

Es war offenbar nicht das erste Mal, dass seine Freunde erklären mussten, warum ihr Anführer ein Alleinrecht auf Wale für sich beanspruchte, denn einer von ihnen zeigte erst auf ihn und dann auf das Surfbrett. »Darf ich vorstellen? Jona … und der Wal.«

»Nur dass ich auf dem Wal reite und mich nicht von ihm verschlucken lasse«, stellte der Anführer klar.

»Du heißt Jona?« Herr Jesus auf dem Fahrrad, dieser Typ hat bestimmt mehr Kohle, als ihm guttut, dachte ich. Ich wette, deine Eltern wünschen sich, dass du dir endlich einen anständigen Haarschnitt und einen Job zulegst.

»He«, sagte Jona, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen. »Vielleicht kennt Santos ja deinen Freund mit dem Hai auf dem Bus. Er malt ständig Haie, das ist seine Spezialität.«

Sag bloß?, dachte ich. Allmählich machte mir das Flirten richtig Spaß, und ich entspannte mich ein wenig. So schlimm war es gar nicht, Detektivin zu spielen und die Leute auszufragen. Jona schrieb mir die Adresse von Santos’ Surf-Shop auf.

»Du willst nicht zufällig noch ein bisschen Gras mit uns rauchen?«, fragte er lässig, während er mir den Zettel gab.

Sehe ich aus wie eine Kifferin?, dachte ich entrüstet. Cannabis ist immer noch illegal, und das gilt auch für euch. Für Besitz gibt es bis zu fünf Jahre und fürs Dealen fünfzehn. Außerdem macht Kiffen dumm, sagte die Pressesprecherin in meinem Kopf, die nun wieder die Oberhand über das Surfer-Girl gewann. »Danke, nein«, sagte ich.

»Dann hast du wahrscheinlich auch nichts, was du uns verkaufen könntest, oder?«, fragte er mit einem Zwinkern.

»Sorry, ich äh … hab nichts mehr.«

»Schon okay. Kein Problem.«

Ich wandte mich zum Gehen. »Tschüss, Jungs, wir sehen uns.« Aber Jona rief mich noch einmal zurück.

»Ich hoffe, du findest deinen Freund. Aber falls nicht …« Er gab mir noch einen Zettel. Diesmal stand seine Handynummer drauf. Ganz schön dreist, dachte ich, fühlte mich aber geschmeichelt und nahm den Zettel mit einem Lächeln entgegen.

Während ich zurück zu meinem Auto schlenderte, war ich recht zufrieden damit, wie mein kleines Intermezzo mit den Surfern verlaufen war. Es war mir leichter gefallen als erwartet, mich zu verstellen. Fast ein wenig erschrocken nahm ich zur Kenntnis, dass ich eine angeborene Begabung für überzeugendes Schwindeln zu haben schien. Dass der Surfer mir seine Telefonnummer zugesteckt hatte, freute mich. Ich hatte noch nie eine Telefonnummer von einem Jungen bekommen. Weil mein Erfolg mir Mut gemacht hatte, sprang ich voller Elan ins Auto und fuhr direkt weiter zu Santos’ Shop in Nottage, das nur fünf Minuten von Porthcawl entfernt lag.

Der Surf-Shop befand sich neben einem Gemüseladen und war Teil einer kleinen Einkaufsstraße, die an den pittoresken Dorfplatz mit seiner normannischen Kirche und einem einstöckigen Pub mit georgianischer Fassade anschloss. Dan und ich waren einmal nach einem Tagestrip nach Ogmore-by-Sea hier vorbeigekommen, um den milden Augustabend mit einem Getränk im Pub ausklingen zu lassen.

In Ogmore gibt es die größte natürliche Sanddünenlandschaft Europas, und an jenem Samstag hatte Dan ausnahmsweise freigehabt und vorgeschlagen, dass wir den sonnigen Tag für eine Strandwanderung nutzten.

Diese Strandwanderung hatte sich zu einem heißen, schweißtreibenden, sandigen Gewaltmarsch ausgewachsen. Ich hatte nichts gegen Sport an der frischen Luft und war sogar schon mit Dan auf den Pen Y Fan gestiegen, den höchsten Berg der Brecon Beacons. Die Bergwanderung hatte mir richtig Spaß gemacht, aber an diesem Tag im August hatte es sechsundzwanzig Grad im Schatten, und ich hätte lieber irgendwo am Meer in einem Café gesessen und einen kalten Weißwein getrunken.

Aber Dan hatte die drei vorherigen Wochenenden durchgearbeitet, also hatte ich ihm bereitwillig den Wunsch erfüllt, zur Abwechslung mal »ein bisschen Frischluft und Sonne zu tanken«.

Er hatte einen vollen Rucksack mit Sonnencreme, Sonnenhüten und gekühlten Orange-Tango-Dosen mitgenommen, den er mühelos auf seinen breiten Schultern trug. Er wusste, dass Orange Tango der einzige Softdrink war, den ich mir ab und zu einmal gönnte. Ansonsten mied ich das süße Zeug, weil es schlecht für den Insulinspiegel und die Zähne war, aber bei der Hitze, die an diesem Tag herrschte, war mir die kühle Erfrischung hochwillkommen.

Weil ich fest entschlossen war, vor Ablauf des Tages doch noch mein Glas Weißwein zu bekommen, legten wir auf dem Heimweg einen Zwischenstopp in Nottage ein. Zufällig fand an diesem Tag die alljährliche australische Grillparty des Rettungsschwimmerverbands statt, und so wimmelte es auf dem Dorfplatz von durchtrainierten Kerlen in Hawaiihemden und Blümchenshorts, die gutmütig mit Foster-Bierdosen anstießen und sich gegenseitig den australischen Gruß »G’day!« zuriefen.

Ein tief gebräunter Typ mit Kopfhörern und sonnengebleichter Afrofrisur bediente ein mobiles DJ-Pult auf der Ladefläche eines Rettungsschwimmerfahrzeugs und legte eine Mischung aus Beach Boys und elektronischer Clubmusik auf.

»Mein Güte, sind wir in Wales oder in Australien? Ich glaube, ich habe einen Hitzschlag«, hatte sich Dan gereizt beschwert.

Wir machten uns nach nur einem Getränk wieder auf den Weg, obwohl ich gerne noch ein Stündchen geblieben wäre, die tanzenden Leute beobachtet und vielleicht selbst eine Dose kaltes australisches Bier getrunken hätte. Der Abend war herrlich lau, und wir hätten uns die Schuhe ausziehen und uns auf die Wiese legen können, aber Dan war überzeugt, dass die Mischung aus Hitze und Bier in einer Schlägerei enden würde.

Als ich nun den Surf-Shop betrat, erkannte ich Santos sofort als den DJ von damals wieder. Er hatte immer noch dieselben wilden, ausgebleichten Locken und dieselbe unnatürlich wirkende Bräune. Die Wände seines Ladens waren mit Postern tapeziert, auf denen wagemutige Kerle atemberaubend hohe Wellen abritten, die türkisblau und kristallklar waren und ganz anders aussahen als die schlickigen Flussmündungswellen vor Porthcawl. Aber man durfte ja träumen. Auf den Kleiderständern hingen teure Neoprenanzüge neben Freizeitbekleidung von Billabong und Reef. Im hinteren Teil des Ladens gab es einen zweiten Raum, in dem Surfbretter in allen Größen und Farben gestapelt waren.

»Hey, Chica, was kann ich für dich tun?«, fragte Santos gut gelaunt. »Fröhliches neues Jahr, übrigens!«

»Ebenso«, antwortete ich und erwiderte sein strahlendes Lächeln. Aus der Nähe betrachtet war Santos älter als erwartet, Anfang fünfzig vielleicht. Er saß auf einem Hocker neben der Kasse und zeichnete etwas auf einen großen Skizzenblock. Ich erkannte vertraut wirkende Blumen und Blätter und eine vollbusige Schönheit mit Hularöckchen.

»Also, was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte mit dir sprechen.«

»Oh, was habe ich jetzt schon wieder ausgefressen? Schulde ich dir Geld?«, fragte er grinsend.

Warum glauben diese Surfer ständig, dass mir jemand Geld schuldet?, überlegte ich. »Nein, aber ich interessiere mich für deine Designs. Ich will vielleicht mein Surfbrett bemalen lassen, und du bist mir empfohlen worden.«

»Aha. Und von wem, wenn ich fragen darf?«

»Von einem Typen, dem ich in Gower begegnet bin. Du hast seinen Campingbus für ihn bemalt. Ein Hai, der einen Seehund frisst? Er meinte, du würdest dich bestimmt an ihn erinnern. Vielleicht könntest du für mich etwas Ähnliches entwerfen.«

Santos kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ja, ich erinnere mich. So ein blau-weißer VW-Bus, stimmt’s? War ein paarmal hier im Laden. Busse sind eigentlich nicht so mein Ding, meistens bemale ich Boards. Hat ewig gedauert, bis das Ganze fertig war, aber der Hai war auf jeden Fall eine meiner besten Arbeiten. Paul hieß der Typ, den Nachnamen weiß ich nicht mehr. Aber ich hatte ihn eigentlich gebeten, es nicht weiterzusagen. Ich führe nämlich in erster Linie einen Surf-Shop. Die Designs sind sozusagen eine private Gefälligkeit für Freunde. Wenn ich mich dafür bezahlen lassen würde, müsste ich das Ganze beim Finanzamt anmelden. Ich bin doch nicht blöd.«

»Ah«, sagte ich und verstand genau, was er mir damit sagen wollte. »Wärst du eventuell bereit, mir so eine private Gefälligkeit zu erweisen?«

»Na ja, dafür müsste ich dich erst ein bisschen näher kennenlernen, Süße. Schließlich sind wir bis jetzt noch keine Freunde, oder?«

Es folgte ein unbehagliches Schweigen, und ich fürchtete schon, dass meine Nachforschungen an dieser Stelle ihr vorzeitiges Ende fänden. Noch während ich fieberhaft überlegte, wie ich weitere Fragen zu Justin (beziehungsweise Paul) stellen konnte, ohne übertrieben neugierig zu wirken, schob mir Santos beiläufig ein DIN-A4-Blatt zu, das er aus seinem Notizblock gezogen hatte. Darauf war eine Liste mit Designbeispielen und den jeweiligen Preisen abgedruckt. Ich wollte die Liste in die Hand nehmen, aber Santos legte einen Finger darauf und schüttelte den Kopf. Man durfte sich die Liste offenbar nur im Laden ansehen.

»Die Designs macht eigentlich ein Freund von mir«, fuhr er fort. »Er ist, äh … Künstler von Beruf. Wenn du interessiert bist, könnte ich dich vielleicht an ihn weitervermitteln.«

»Alles klar«, sagte ich mit einem nachdrücklichen Nicken. »Kann gut sein, dass ich darauf zurückkomme.«

Er zwinkerte mir zu. »Sehr gut. Sonst noch irgendwas? Wir hätten da heute zum Beispiel Sex Wax im Angebot.« Ich starrte ihn entsetzt an, aber zu meiner Erleichterung schob er mir einen rosa Block mit Surfbrett-Wachs über den Ladentisch.

»Danke, aber bei mir ist alles perfekt gewachst.« Das flapsige Surfer-Girl hatte wieder die Führung übernommen.

Er grinste und bedachte mich mit einem Blick, der zu sagen schien: »Du weißt doch noch nicht mal, wo bei einem Surfbrett hinten und vorne ist, Baby.« Aber meine Unwissenheit störte ihn offenbar nicht im Geringsten. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass es nicht viel gab, was Santos störte.

»Du hast nicht zufällig irgendwo die Telefonnummer von diesem Paul notiert, oder? Wo er doch ein Freund von dir ist?«

»Nein, Süße, ich bin nicht so der Typ für Schreibkram. Warum?«

»Weil er meinte, dass er vielleicht seinen Bus verkaufen will. Er hat mir seine Handynummer gegeben, aber ich habe sie irgendwo verlegt.« Ich zuckte mit den Schultern, als wollte ich sagen: Typisch, das passiert mir ständig.

»Nee, tut mir leid«, sagte er, aber dann hielt er nachdenklich inne und kramte in der Schublade seines Ladentischs herum. »Warte mal, könnte sogar sein, dass ich dir helfen kann.« Er zog einen losen Zettel hervor, auf dem in unleserlicher Schrift etwas notiert war. »Er kommt am Freitag in einer Woche gegen Nachmittag vorbei, um das Surfbrett abzuholen, das er vor ein paar Wochen bestellt hat. Plant anscheinend eine längere Reise im Ausland, der Glückspilz. Ich selbst komme ja heutzutage nicht mehr weiter als bis Newquay.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das klang zu einfach, um wahr zu sein. »Er kommt also am Freitag, um seine Rechnung zu bezahlen«, wiederholte ich.

»Nein, um sein Brett abzuholen. Bei mir läuft nichts mehr ohne Vorkasse. Bin doch nicht bescheuert. Gibt so viele unzuverlässige Typen da draußen, die sich mit Gras zudröhnen. Dabei sollte es beim Surfen eigentlich um was ganz anderes gehen, nämlich um das Naturerlebnis. Du weißt, was ich meine, Baby.«

Ich nickte. Diesbezüglich konnte ich ihm aus ganzem Herzen zustimmen. »Dann mal vielen Dank. Ich überlege mir das mit dem, äh … mit diesem Künstlerfreund von dir.«

»Nimm doch eine hiervon mit. Man weiß nie, ob man nicht mal eine mobile Disco braucht.« Er zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche, auf der groß »Dons Disco« stand.

»Ich dachte, du heißt Santos? Oder ist das dein Nachname?«

»Nein, mit Nachnamen heiße ich Protheroe, und mein Vorname ist Don, aber das hat irgendwie nicht den richtigen Vibe, finde ich. Seit Hawaii 1976 nennen mich alle nur noch Santos.«

»Du arbeitest also auch als DJ?«

»Ja, ich mache alles. Hochzeiten, Partys, achtzigste Geburtstage. Classic Rock, Dance, Oldies. Bringt ein bisschen Extrakohle ein. Mit Surfzubehör wird man leider nicht reich. Irgendwann müssen wir alle mal auf einen halbwegs grünen Zweig kommen. Mein Sohn will nächstes Jahr nach Swansea auf die Uni.«

»Echt?« Ich war überrascht darüber, dass Santos einen erwachsenen Sohn hatte, der auch noch studieren wollte. »Kann man da nicht neuerdings sogar ein Surfdiplom machen?«, fragte ich plump, weil mir nichts anderes einfiel.

»Stimmt. Langsam übertreiben sie’s, oder? Ein Surfdiplom! Aber Dean will Jura studieren und nicht so ein Versager werden wie sein alter Herr. Wer kann es ihm verdenken? Also, lass es mich wissen, wenn du dein Surfbrett bemalt haben willst.«

Freitag. Das Wort hallte durch meinen Kopf, während ich Santos zum Abschied zuwinkte. Nächsten Freitag holt Justin sein Brett ab.

Bis dahin blieben noch zehn Tage. Wie sollte ich nur so viel Geduld aufbringen? Ich musste mir eine Ausrede ausdenken, um an besagtem Freitag früher Feierabend machen zu können, damit ich rechtzeitig in Nottage war.