15.

Ich rannte. Ich rannte, so schnell mich meine Füße trugen. Mein Atem raste. Zuerst achtete ich nicht auf den Mann, der in der Ferne auftauchte und von den Sportplätzen her auf mich zulief, er war nur ein verschwommener Fleck, der sich bewegte. Ich hetzte unbeirrt weiter, aber je näher der Mann kam, desto schneller schien er zu werden. Ich spannte die Muskeln an und änderte leicht meinen Kurs, um ihn – wie es unter Joggern üblich ist – höflich vorbeizulassen, aber er scherte in letzter Sekunde in dieselbe Richtung aus und versperrte mir den Weg. Ich wich taumelnd zur Seite aus, um nicht gegen ihn zu prallen, und meine Schuhe rutschten auf dem nassen Laub, das den Pfad bedeckte.

Der Mann schob seine Kapuze zurück, und ich sah, dass es Justin war. Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen, aber seine Augen blieben völlig ausdruckslos. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da hatte er mich schon mit einem einzigen Hieb zu Boden gestreckt. Die Wucht seines Schlags raubte mir die Luft. Ehe ich mich dessen versah, saß er auf mir und hielt mich fest. Ich schlug um mich und wand mich, aber ich hatte keine Chance, er war zu stark.

»Wenn du mir mein Geld nicht geben willst, musst du eben auf andere Weise bezahlen«, knurrte er wütend. Mein Versuch zu schreien, scheiterte kläglich, ich brachte keinen Ton heraus. Ich wollte kämpfen, aber es ging einfach nicht.

Dan! Dan, bitte hilf mir!, rief ich stumm. Dann wachte ich auf und stellte fest, dass die Hand, die auf meinem Arm lag, Dan gehörte und dass ich gegen unsere Daunendecke und die wollene Überdecke ankämpfte, die sich um mich gewickelt hatten und mich unerbittlich einzwängten.

Kalter Schweiß bedeckte meinen ganzen Körper, und meine Augen schossen ziellos durch die bedrohliche Dunkelheit, bis ich endlich die vertrauten Umrisse unseres Schlafzimmers erkannte. Durch die Vorhänge drang bereits das erste Dämmerlicht.

»Schon gut, Jen, ich bin ja da«, murmelte Dan schläfrig. »Du bist in Sicherheit. Alles ist gut. Du hast nur geträumt.« Er streichelte sanft und gleichmäßig meine Haare, wie er es oft tat, wenn ich Trost brauchte oder er mir zeigen wollte, dass er mich liebte.

Stoßweise atmend lag ich da und schüttelte langsam den Traum und die Erinnerungen an Justins festen Griff um meinen Arm und an meine Flucht vom Wohnwagenpark am Vorabend ab. Mein Alptraum kam mir genauso real vor wie die beiden echten Erlebnisse. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Mit schwerem Kopf und Bauchschmerzen dämmerte ich weiter vor mich hin, bis gegen sieben Uhr mein Handy auf dem Nachttisch piepste. Ich streckte die Hand aus und sah nach. Es war wieder eine Nachricht von Justin eingetroffen.

»Ich hab gestern Abend angerufen«, murmelte Dan im Halbschlaf und legte mir die Hand auf die Taille.

»Ich habe eine längere Joggingrunde gemacht«, flüsterte ich und drehte mich von ihm weg, um das Display meines Handys und meine zerschrammte Wange vor ihm zu verbergen. Ich würde mir später eine gute Erklärung dafür ausdenken. »Schlaf weiter.«

»Wer schickt dir denn so früh am Morgen eine SMS? Hast du Bereitschaft?«, murrte Dan.

»Ja. Schlaf einfach weiter«, wiederholte ich. Zum Glück gehorchte er und schnarchte kurz darauf wieder friedlich.

Ich ging mit meinem Handy ins Badezimmer und las die SMS. Dieses Mal wollte Justin 300 Pfund von mir. Ohne Umschweife, genau wie bei den letzten Malen.

»Die dicke Paula hat schon wieder nach dir gesucht«, teilte mir Serian fröhlich mit, als ich zwei Stunden später im Büro eintraf. Sie reichte mir einen Stapel Papiere und einen Kaffee und beäugte neugierig meine Wange. Ich hatte die Schramme und den Bluterguss gar nicht erst mit Make-up abzudecken versucht, weil es dann so ausgesehen hätte, als hätte ich etwas zu verbergen. »Was ist denn mit dir passiert? Hast du einen Ringkampf verloren?«

»Du solltest mal den anderen Typen sehen«, antwortete ich heiter, wie ich es schon mehrmals an diesem Morgen getan hatte.

Es ist wirklich erstaunlich, wie die Kollegen einen anstarren, wenn man als Frau mit einer Gesichtsverletzung zur Arbeit kommt, vor allem, wenn es sich bei diesen Kollegen um Polizisten handelt. Ich tischte Serian dieselbe Ausrede auf wie zuvor schon Nige, der Empfangsdame, Superintendent Sellers und Kirsty aus dem Archiv. »Bin beim Joggen gestürzt.«

Eine einfache, überzeugende Ausrede. Und nicht einmal besonders weit hergeholt. Dennoch spürte ich, wie die Leute mich abschätzend und besorgt betrachteten. Genauso gut hätte ich behaupten können, ich wäre gegen eine Tür gelaufen.

Ich rechnete jeden Augenblick damit, dass mich eine Mitarbeiterin der Abteilung für häusliche Gewalt dezent auf dem Flur ansprach und mir auf einfühlsame und taktvolle Weise zu verstehen gab, dass ich mich jederzeit an sie wenden könne, wenn ich Probleme hätte, streng vertraulich natürlich. Aber nichts passierte. Da Dan Detective Inspector war, hielt man sich offenbar zurück (oder war nur feige) und eilte mit gesenktem Blick an mir vorbei.

»Hat dir dein Alter eine gescheuert?«, fragte Doyle mit einem Grinsen, als ich auf der Flucht vor der dicken Paula ins Konferenzzimmer schlüpfte, wo sich die Kollegen von der Kripo zu einer Einsatzbesprechung versammelt hatten. Ich ignorierte die verstohlenen Blicke der Anwesenden auf meine Wange und setzte mich. Die dicke Paula blieb zögernd in der Tür stehen, die Superintendent Sellers zum Glück gerade schließen wollte. Weil sie dann doch nicht den Mut aufbrachte, ein Meeting zu stören, zog Paula beleidigt ab. Was auch immer sie von mir wollte, an diesem Morgen hatte ich nicht die Energie, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Ich bekam kaum ein Wort von dem mit, was Sellers über Drogenrazzien und Maßnahmenpakete zur Informationsbeschaffung vortrug, außer dass sie irgendwann ein totes Baby erwähnte – Methadon-Überdosis, glaube ich.

Benommen starrte ich in die Finsternis, die in meinem Kopf herrschte, und spielte den Vorabend immer wieder in Gedanken durch. Bevor ich ins Bett gefallen war, hatte ich den Computer hochgefahren, um nach der »Surfschlampen«-Website zu suchen. Noch jetzt drehte sich mir allein beim Gedanken daran, dass auch ich eines Tages auf dieser Seite erscheinen könnte, der Magen um.

Dass es dazu kam, war durchaus möglich. Vielleicht würde meine Karriere als unfreiwilliger Pornostar dort ihren Anfang nehmen, bevor Justin das Video, auf dem er mich vögelte, an Dans E-Mail-Adresse oder an meine Freunde verschickte.

Leider war keine Internetverbindung zustande gekommen. Jedes Mal wenn ich die Suchmaschine aufrufen wollte, erschien hartnäckig die Meldung »Derzeit keine Verbindung möglich – bitte kontaktieren Sie Ihren Internetanbieter«.

Mir blieb nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass sich das Problem von allein löste und die Verbindung irgendwann wieder funktionierte. Die Warterei war nervtötend. Ohne dass meine Mitmenschen etwas davon mitbekamen, liefen in Endlosschleife Horrorvisionen vor meinem inneren Auge ab, und ich musste versuchen, irgendwie mein Gehirn abzuschalten, bevor meine Nervenenden anfingen, sich aufzulösen, und ich vor der versammelten Führungsriege der Kripo einen hysterischen Anfall bekam.

Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich mir mental veranschaulichte, was ich inzwischen herausgefunden hatte. Ich kannte Justins richtigen Namen, und mithilfe dieser Schlüsselinformation konnte ich ihn vielleicht knacken wie eine altmodische Dose Corned Beef, indem ich erst mit dem Öffner einen dünnen Streifen um ihn herum abwickelte und dann den Deckel entfernte, um an sein weiches, rosafarbenes, verletzliches Inneres zu kommen.

Aber noch hatte ich nicht wirklich etwas gefunden, was ich gegen ihn verwenden konnte, mir fehlte immer noch ein Druckmittel. Ich weiß nicht, was ich mir von meiner Durchsuchung des Wohnwagens erhofft hatte – dass ich Kinderpornos fand, vielleicht, oder illegale Einwanderer, die er als Sklaven hielt, oder polnische Prostituierte in Handschellen, oder ein Labor für Crystal Meth. Ich hatte zwar Drogen gefunden, aber nichts, was die Staatsanwaltschaft für strafrechtlich relevant erachten würde.

Die roten Pillen, die ich in die Hosentasche gesteckt hatte, waren dennoch sehr aufschlussreich. Rohypnol, auch Roofies genannt. Löst man sie in einem alkoholischen Getränk auf, sind sie völlig geruchs- und geschmacksneutral. Sie sind problemlos im Internet zu bestellen und führen nach der Einnahme schnell zu Bewusstlosigkeit oder zumindest eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit. Am nächsten Tag hat man Gedächtnislücken. Die perfekte Date-Rape-Droge.

Date Rape: Das erste Wort ist harmlos und voller Verheißungen, das zweite bedeutet Vergewaltigung. Zusammengefügt erhält man »nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr, bei dem weder eine ausdrückliche Verweigerung noch Gewaltanwendung vorliegen«. Aber Date Rape klingt natürlich viel medienwirksamer.

Immer wieder kam mir der Moment in den Sinn, als ich am Morgen nach meiner Nacht mit Justin im Badezimmer gestanden und zu ermitteln versucht hatte, was das Letzte war, an das ich mich erinnern konnte. Aber alles, was ich hatte heraufbeschwören können, waren verschwommene Bilder und die Erinnerung an die Gläser Wein, die Justin mir vor dem Kamin eingeschenkt hatte.

In der Rohypnol-Schachtel in seinem Wohnwagen hatten sechs rote Pillen gefehlt, und im Badezimmerschrank waren zwölf abgepackte Kondome gewesen.

Ich war immer davon ausgegangen, dass ich ein Einzelopfer war und dass Justin mich gezielt ins Visier genommen hatte, vielleicht, weil er die Gelegenheit als günstig erachtet hatte. Aber der große Vorrat an roten Pillen und Kondomen, den ich entdeckt hatte, sprach eine andere Sprache.

Auf den Notizzetteln, die ich im Wohnwagen gefunden hatte, hatten mehrere Frauennamen gestanden, und in den Hotelführern war mehr als nur ein Hotel markiert gewesen.

Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was wohl damals mit Suzy, der Pfarrerstochter, passiert war. War sie das Mädchen auf den Fotos, die ich gefunden hatte, das Mädchen mit dem Kruzifix? Steckte hinter der Geschichte nur eine ungewollte Schwangerschaft samt damit einhergehendem Skandal, wie Gwen angedeutet hatte? Oder etwas Schlimmeres? Auf dem Foto, das ich eingesteckt hatte, war das dunkelhaarige Mädchen neben Justin zu sehen. Es war mit Justin befreundet gewesen, und irgendetwas in seinem Leben war daraufhin furchtbar schiefgelaufen. Bei alldem hatte sicher auch Sex eine Rolle gespielt – war das nicht immer so?

Sobald das Meeting vorbei war, schlüpfte ich nach unten ins Kripo-Büro, während die anderen zum Mittagessen gingen. Bodies Computer war wie immer frei zugänglich. Ohne langes Nachdenken gab ich Susan Miller in die Suchmaske ein, und dann Suzy Miller. Kein Ergebnis. Das überraschte mich nicht sonderlich. Wenn damals etwas passiert wäre, wovon die Polizei Kenntnis gehabt hätte, wäre es Gwen und der putzenden Bekannten ihrer Schwester sicher zu Ohren gekommen. Außerdem war das Ganze zehn Jahre her. Selbst wenn es damals eine Anzeige gegeben hatte, hatte der Vorfall vielleicht nie Eingang in die NOMAD-Datenbank gefunden, weil man die Angelegenheit einvernehmlich unter sich geklärt hatte.

Widerstrebend ging ich in die Kantine, um mir einen Kaffee zu holen. Ich war mir sicher, dass Suzy Miller eine Menge über Justin wusste, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich sie finden sollte. Also musste ich jemanden fragen, der schlauer war als NOMAD und dessen Erinnerungen weiter zurückreichten. Mir kam sofort Police Constable Dick Thomas aus Swansea in den Sinn.

Dick war einer meiner Lieblingspolizisten und trotz seines fortgeschrittenen Alters immer noch Police Constable. Er war eines der immer seltener werdenden Urgesteine der Polizei, ein Mann, der sich mit Wehmut an die gute alte Zeit erinnerte und seinem Ruhestand mit Ungeduld entgegenblickte. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er mehr Wissen und Erfahrung angesammelt als alle höherrangigen Beamten zusammengenommen, aber aus irgendeinem Grund hatte er nie eine Beförderung angestrebt. Jedes Revier und jeder Bezirk hat seinen eigenen Dick Thomas (bei uns auf der Wache war es Sergeant Stan im Untergeschoss). Das Tolle an diesen Männern ist, dass man sie nur freundlich behandeln, aufmerksam ihren Geschichten lauschen und ihnen ab und zu eine Schachtel Kekse mitbringen muss, und schon hat man die besten Ansprechpartner der ganzen Polizei zur Verfügung, eine endlos sprudelnde Quelle von Informationen, die es nie in die offiziellen Akten geschafft haben. Sie kennen sämtlichen Klatsch und Tratsch, sämtliche unbestätigten Gerüchte und manchmal auch die Wahrheit, die nie bewiesen werden konnte.

Als ich Dick und seine neue Kollegin Rhian besucht hatte, um ein Alibi für meinen ersten Besuch im Wohnwagenpark von Aberthin zu haben, hatte ich Dick eine Packung Bakewell-Törtchen mitgebracht. Ich hatte also bereits einen Stein bei ihm im Brett. Er wirkte ein bisschen überrascht, mich schon so bald wiederzusehen, aber ich hatte einen guten Vorwand: einen großen Karton mit frisch gedruckten Einladungen zur nächsten Gemeindeversammlung, die wir an alle Polizeireviere unseres Verwaltungsbezirks verteilten. Am frühen Nachmittag stieg ich mit diesem Karton aus dem Auto und betrat Dicks Wache.

Eigentlich handelte es sich dabei um ein aus drei Räumen bestehendes Gemeindebüro in einem umgebauten Bungalow, das erst vor sechs Monaten eröffnet hatte. Es war Teil einer vom Innenministerium angeordneten Strategie, die die Polizei in die Wohnviertel bringen und sie für die Einwohner »zugänglicher« machen sollte. Auch in einigen Gesamtschulen und größeren Supermärkten waren seither kleine Polizeiposten eingerichtet worden. In regelmäßig stattfindenden Gemeindeversammlungen sollte die Bevölkerung Gelegenheit erhalten, mit der Polizei »in einen Dialog zu treten«. Mein Verdacht war jedoch, dass das Innenministerium mit dieser Aktion ebenjene Bevölkerung und auch die Medien darüber hinwegtäuschen wollte, dass durch die erheblichen Etatkürzungen überall Polizeiwachen geschlossen wurden.

Dicks Wache, beziehungsweise sein Gemeindebüro, war stets blitzsauber und aufgeräumt, genau wie er selbst. Ich hatte ihn noch nie ohne sorgfältig gebügeltes Hemd und akkurat geschnittene Haare gesehen.

»Meine Güte, sind Sie gegen eine Tür gerannt, oder was?«, fragte er mit einem verschmitzten Lächeln, als ich zur Tür hereinkam.

»Hingefallen. Beim Joggen.«

»Und da heißt es immer, Bewegung sei gesund. Solltest du übrigens auch mal probieren, Rhian. Wär mal ganz was Neues für dich.«

Rhian, die neue Polizeirekrutin, lümmelte mit offener Uniform-Krawatte und unordentlichem Pferdeschwanz auf einem Stuhl und blätterte in einer Boulevardzeitschrift. Sie war einundzwanzig, sah aber sogar noch jünger aus.

»Ach Dick, was wissen Sie schon?«, entgegnete sie freundlich, bevor sie mich begrüßte: »Hi, Jen, schon wieder da?«

»Tu mir den Gefallen und leg die Zeitschrift weg, ja?«, bat Dick. »Mach dich lieber nützlich und setz Teewasser für die Pressereferentin auf. Und dann fängst du an, das Datum und den Veranstaltungsort für die nächste Gemeindeversammlung auf die Plakate zu schreiben, die Jen mitgebracht hat. Dann können wir gleich nachher anfangen, sie aufzuhängen.«

Rhian gehorchte langsam, aber gutmütig.

»Diese jungen Leute sind dermaßen unmotiviert«, flüsterte Dick, während er mir einen Stuhl anbot. »Sie gibt sich ja Mühe, aber die Hellste ist sie wirklich nicht.«

Nachdem ich es mir mit einer dampfenden Tasse Tee auf dem Stuhl gemütlich gemacht hatte, öffnete ich die Schachtel Schokoladenkekse, die ich mitgebracht hatte, und schob sie zu Dick hinüber. Sobald er begonnen hatte, genüsslich an einem Keks zu knabbern, sagte ich gedankenverloren, als würde es mich gar nicht besonders interessieren: »Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich Ihr unerschöpfliches Wissen ein wenig anzapfen. Erinnern Sie sich noch an einen Skandal hier in der Gegend, der jetzt schon ein paar Jahre her sein müsste? Es ging um einen gewissen Pfarrer Miller und seine Tochter. Als ich letztes Jahr wegen des Benefizlaufs hier war, hat mir eine Teilnehmerin davon erzählt. Ich frage nur, weil wir, beziehungsweise die Führungsriege, darüber nachdenken, eine Kampagne gegen Kindesmissbrauch in der Kirche zu starten.« (Das war beinahe die Wahrheit, denn vor ein paar Wochen war in Swansea ein Pfarrer verhaftet worden, der angeblich zwei kleine Jungen missbraucht hatte. Zusammen mit dem aktuellen Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche hatte dieser Fall dafür gesorgt, dass viele Gemeinden ein erhöhtes Interesse daran hatten, mit der Polizei zusammenzuarbeiten.)

Ich hakte weiter nach: »Es ging um den Pfarrer von Pennard, wenn ich mich nicht irre, und um irgendeinen Skandal, in den seine Tochter verwickelt war. Natürlich wollen wir nicht ins Fettnäpfchen treten bei so einer heiklen Angelegenheit. Man weiß ja, wie lange sich die Leute in ländlichen Gegenden so etwas merken, und vielleicht wohnen ja noch Verwandte der Familie dort. Aber ich dachte, wenn ich jemanden danach fragen kann, dann Sie mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Elefantengedächtnis. Sie wissen wirklich alles.«

Dick lächelte geschmeichelt, genau wie ich es geplant hatte. Dann sagte er: »Na ja, ich bin nun mal der Dienstälteste im ganzen Bezirk, aber mein Erinnerungsvermögen ist nicht das schlechteste, da haben Sie recht. Auch wenn ich morgens regelmäßig meinen Autoschlüssel verlege. Aber wenn etwas in dieser Gegend in den letzten fünfundzwanzig Jahren passiert ist, hatte ich sehr wahrscheinlich damit zu tun oder weiß zumindest davon.«

Er dachte einen Moment nach und sagte dann: »Milland. Das war der Name! Pater Milland. Mit vollem Namen hieß er Ray Milland, wie der berühmte walisische Schauspieler. Aber Sie sind bestimmt zu jung, um sich noch an ihn zu erinnern.«

»Das verlorene Wochenende, nicht wahr? Von Billy Wilder«, entgegnete ich lächelnd.

Er freute sich sichtlich und wies mit dem Kinn in Richtung Rhian. »Hast du das gehört, Rhian? Ich wünschte, du würdest auch mal über dein Hello-Magazin hinausgucken! Sie sind ein ganz schön schlaues Mädchen, Jen. Wie kommt es, dass jemand in Ihrem Alter so etwas weiß?«

»Ich hatte eine Oma, die Schwarz-Weiß-Filme geliebt hat, und mit der habe ich sonntagnachmittags immer ferngesehen.«

»Wunderbar!« Ich war in seinem Ansehen gerade erneut gestiegen. Bald würde er mir aus der Hand fressen.

»Also, wo waren wir? Ach ja, Pater Milland«, sagte er und fummelte an seiner Krawatte herum. »Ich bin mir sicher, dass er selbst keinen Dreck am Stecken hatte, ein Gentleman der alten Schule war das. Auf ihn lasse ich nichts kommen. Aber mit seiner Tochter war irgendetwas nicht in Ordnung, da haben Sie recht. Jetzt erinnere ich mich wieder: Sie wurde schwanger, glaube ich. Und dann hat sie behauptet, dass es bei einer Vergewaltigung passiert sei. Na ja, sie selbst hat keine Anzeige Zerstattet, aber eine ihrer Freundinnen. Damals war sie gerade von zu Hause ausgezogen, um zu studieren. Ich glaube, der Familie war es nicht recht, dass sie in einer fremden Stadt war und dort Alkohol trank und mit Jungen ausging. Ist ja eigentlich normal für junge Leute, aber ihr Vater war sehr altmodisch. Was soll man von einem Pfarrer auch anderes erwarten? Na ja, jedenfalls gab es eine Anzeige wegen Vergewaltigung, um die sich Inspector Keith Cottle gekümmert hat, wenn ich mich nicht irre. Aber der hat uns mittlerweile leider verlassen.«

»Was, er ist tot? Wann ist er denn gestorben? Er war doch erst Mitte fünfzig, oder?«

»Nein, er hat nicht diese Welt verlassen, sondern nur den Polizeidienst, Sie dummes Huhn. Na ja, jedenfalls gab es damals noch nicht so viele Vergewaltigungsprozesse und keine geschulten Psychologen und so weiter. Außerdem war die Tat schon ein paar Monate her und die Beweislage daher schwierig. Aber das spielte dann sowieso keine Rolle mehr, denn als wir eine detaillierte Aussage von der jungen Dame wollten, zog sie ihre Anschuldigung zurück und behauptete, sie hätte die Geschichte nur erfunden, damit ihr Vater nicht erfährt, dass ihr Exfreund sie geschwängert hat. Sex vor der Ehe war ja gar nicht denkbar in so einer Familie.

Wirklich eine Schande, sie war so ein nettes, ordentliches Mädchen, ruhig und fleißig. Ich erinnere mich noch genau an sie. Schon als sie vierzehn oder fünfzehn war, habe ich sie immer in der Kirche arbeiten sehen, wenn ich meine Runde durchs Dorf gedreht habe. Schwarze Haare hatte sie, pechschwarz, und eine Brille. Ein hübsches, anständiges Mädchen. Die Familie wollte natürlich nicht, dass die Sache herauskommt, und ist daher weggezogen. Ich glaube, sie hat das Kind abgetrieben, aber vielleicht hat sie es auch zur Adoption freigegeben.«

»Es wurde also in dem Fall nie wegen Vergewaltigung ermittelt?«

»Nein.«

»Nicht mal eine oberflächliche Routineuntersuchung?«

»Nein. Es gab ja, wie gesagt, keine Beweise, und sie hat die Anzeige selbst zurückgezogen. Heutzutage hätte man wahrscheinlich ein bisschen genauer hingeschaut, um sicherzugehen, dass die Rücknahme der Anzeige freiwillig war. Aber damals galt: keine Anschuldigung, keine Ermittlung. Hat ein tragisches Ende genommen, das Ganze.«

»Wieso tragisch?«

»Weil sie sich umgebracht hat.«

»Was?«

»Ja, sie hat ihrem Leben ungefähr achtzehn Monate später ein Ende gesetzt, unten in Carmarthen, wo die Familie hingezogen war. Mein Cousin Alun, der damals dort in der Gegend gearbeitet hat – jetzt ist er im Ruhestand und führt nebenher eine Frühstückspension –, hat mir davon erzählt, weil er wusste, dass die Familie ursprünglich aus meinem Bezirk stammt. Offenbar ist sie eines Tages auf die Eisenbahnbrücke geklettert und gesprungen. War erst einundzwanzig. Eine echte Tragödie.«

»Und es gab keine verdächtigen Umstände?«, fragte ich und versuchte zu verarbeiten, was Dick mir gerade erzählt hatte.

»Nein, überhaupt keine. Laut meinem Cousin war es eindeutig Selbstmord. Angeblich hat sie es getan, weil sie es sich nicht verzeihen konnte, das Baby abgetrieben zu haben. Oder weggegeben, das weiß ich nicht mehr genau. Vor dem Selbstmord hat sie offenbar schon eine ganze Weile getrunken und unter Depressionen gelitten. Wenn mich meine Erinnerung nicht im Stich lässt, sind irgendwo Oben-ohne-Fotos von ihr aufgetaucht. Das war damals noch eine größere Sache als heute, wo kein Hahn mehr danach kräht, weil die jungen Frauen sowieso ständig ihre Titten auspacken. Entschuldigen Sie meine ungehobelte Sprache.«

Er verstummte, und ich schwieg ebenfalls.

»Lag wahrscheinlich an der übertrieben strengen Erziehung«, mutmaßte er, nachdem er eine Weile nachgedacht und noch einen Keks gegessen hatte. »Wenn diese strenggläubigen Leute ausflippen, dann so richtig. Stille Wasser sind tief, sage ich immer. Der Vater des Mädchens hatte nach ihrem Tod einen Herzinfarkt, wie mir Alun erzählt hat. Wirklich traurig, so was. Wenn die eigenen Kinder einen ins Grab bringen.

Hab ich Ihnen übrigens schon erzählt, dass Sally, meine Älteste, ihr erstes Kind erwartet? Ich werde Großvater und kann es gar nicht erwarten! Wenn sie klein sind, sind sie am niedlichsten. In sechs Monaten bin ich hier weg, gehe offiziell in Ruhestand. Dann schaukele ich nur noch meine Enkel auf den Knien und gehe im Park spazieren. Nie wieder Taschendiebe, Sozialhilfebetrüger und Familiendramen. Sally will nach der Geburt so schnell wie möglich wieder arbeiten, weil sie in ihrem Anwaltsbüro ziemlich gut verdient. Umweltrecht, das ist heutzutage eine sichere Bank. Ich habe schon zu ihr und Bob gesagt, dass ich mich liebend gerne um den kleinen Wurm kümmere. Bin sowieso froh, diesen Beruf hinter mir zu lassen. Ist nicht mehr das, was er mal war.«

Er warf Rhian einen schwermütigen Blick zu, die mit einem Filzstift langsam und konzentriert Ort und Zeit der Gemeindeversammlung in das freie Feld des ersten Plakats eintrug.

Dick und ich plauderten noch ein wenig über das Wetter und die bevorstehende Autowasch-Aktion, mit der die örtliche Schule und die Feuerwehr Geld für gute Zwecke sammeln wollten. Wie üblich bat ich Dick, mir die Eckdaten zukommen zu lassen, damit ich einen kleinen Artikel darüber in die Zeitung setzen konnte.

Als ich eine Stunde später wieder zurück nach Hause fuhr, ging mir das Foto von Suzy Milland und Justin nicht mehr aus dem Kopf. Auch die anderen Fotos, die ich im Wohnwagen gesehen hatte, ließen mir keine Ruhe, vor allem eines, auf dem sie unbekümmert und mit wehenden Haaren im Meer gestanden und ihr Kleid angehoben hatte, damit es nicht nass wurde. War Justin (oder vielmehr Paul) der Vater ihres Babys gewesen? Hatte tatsächlich eine Vergewaltigung stattgefunden, die alle Beteiligten hinterher vertuscht hatten? Oder war etwas ganz anderes passiert? War Justin damals schon auf den Geschmack gekommen, weil er gemerkt hatte, was man mit Erpressung alles erreichen konnte? Waren die Oben-ohne-Fotos mit oder ohne Suzys Einwilligung entstanden? Das Ganze konnte jedenfalls kein Zufall sein. War Suzy sein erstes Opfer gewesen, auf welche Art auch immer? Falls ja, hatte Justin schon als junger Mann mit seinen Spielchen begonnen und brachte es inzwischen auf zehn Jahre Erfahrung – zehn Jahre mehr als ich.

Fest stand, dass ich Suzy nicht mehr ausfindig machen konnte, um sie zu fragen, was damals passiert war. Sie konnte mir kein Druckmittel gegen Justin liefern, weil sie die Wahrheit mit sich in den Tod genommen hatte, als sie von der Brücke gesprungen war.