14.
Beim Anblick der Scheinwerfer blieb ich stocksteif stehen, und meine linke Hand krampfte sich um die Notizzettel. Ich sah mich selbst plötzlich von außen, ein unbewegliches Standbild, auf frischer Tat ertappt.
Aber dann schoss überraschend ein Fluchtreflex durch meinen Körper. Ich bewegte mich, ohne nachzudenken, schnell und ruhig. In rasendem Tempo schob ich die Zeitschriften zusammen und arrangierte sie wieder auf dem Tisch, stellte die Tamponschachtel in den Küchenschrank und schloss ihn leise. Dann knipste ich die Taschenlampe aus und steckte sie in die Tasche meiner Fleecejacke, während ich mich fieberhaft nach einem Fluchtweg umsah.
Die Scheinwerfer hielten vor dem Wohnwagen und gingen dann aus, aber der Motor lief weiter. Vorsichtig schlich ich zum Vorhang und spähte hindurch, um zu sehen, ob ich wirklich so tief in der Patsche steckte wie befürchtet.
Ein junger Mann mit widerspenstigem, sonnengebleichtem Haar saß auf dem Fahrersitz eines alten militärgrünen LandRovers mit Planenverdeck. Der Mann zündete sich gerade eine Zigarette an und suchte offenbar etwas im Fußraum seines Wagens.
Es war nicht Justin.
Wer auch immer es war, er wollte offensichtlich zum Wohnwagen der Mathrys. Jede Minute konnte der Mann den stotternden Motor ausschalten und aussteigen. Der Wohnwagen hatte nur eine Tür, aber es war zu spät, um durch sie das Weite zu suchen. Sobald der Mann aus dem Landrover stieg, hatte er die Tür direkt vor der Nase, ich konnte mich also nicht heimlich davonstehlen. Jetzt schaltete er den Motor aus und warf sich einen abgewetzten Seesack über die Schulter.
All dies registrierte ich innerhalb von Sekundenbruchteilen, und genauso schnell ging mir auf, dass mir nur ein Ausweg blieb. Ich musste mich neben dem Seitenfenster, das ich nach dem Einstieg zwar zugezogen, aber nicht verriegelt hatte, bereithalten und warten. Momentan war es vom Landrover aus noch einsehbar, aber wenn ich wartete, bis der Mann die Wohnwagentür erreicht hatte, war ich für ihn nicht mehr zu sehen. Sobald er den Schlüssel ins Schloss steckte, musste ich das Fenster anheben, hinausklettern und mich auf den Boden fallen lassen. Wenn ich Glück hatte, würde das Geräusch der sich öffnenden Tür den Lärm, den ich dabei machte, übertönen. Der Wohnwagen war dunkel, und die Tür befand sich in einer Nische hinter der Küchenzeile. Vielleicht reichte das aus, um mir die Flucht zu ermöglichen.
Der Mann würde mindestens ein paar Sekunden brauchen, bis ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte, und bis dahin war ich längst um den Wohnwagen herumgerannt und auf dem Weg zur nur zwanzig Meter entfernten Landstraße, die hinter der Hecke begann. Dort konnte er mich nicht mehr sehen.
Während ich sprungbereit auf der gepolsterten Sitzbank kauerte, legte ich eine Hand ans Fenster, bereit, es aufzustoßen. Jedes Geräusch, das ich machte, jeder laute Atemzug musste in einem äußerst kurzen Zeitfenster stattfinden, ich musste genau den richtigen Augenblick wählen, um loszuschnellen.
Plötzlich klingelte das Handy des Mannes.
»Was denn?«, meldete er sich ungeduldig, und seine Stimme kam immer noch irgendwo aus der Nähe des Landrovers. »Ich bin zufällig gerade hier«, sagte er, woraufhin eine Pause entstand. »Ich hab doch schon gesagt, dass ich das erledige.« Wieder eine Pause.
Jetzt näherte sich seine Stimme dem Wohnwagen. »Ja, natürlich weiß ich das … Ach was, ich bin hier doch am Arsch der Welt, hier ist weit und breit kein Mensch.« Erneute Pause.
Seine Stimme klang jetzt noch näher, war aber noch nicht ganz bei der Tür angekommen. »Du wiederholst dich, Alter. Nimm verdammt noch mal endlich ein Valium und entspann dich.« Schweigen. »Nein, natürlich nicht, glaubst du, ich bin bescheuert? Ja, ja … Ich weiß es doch, verdammt noch mal!«
Ich hörte, wie er das Gespräch beendete, einen Seufzer ausstieß und leise das Wort »Arschloch« murmelte, bevor er den Seesack wieder auf die Schulter hievte und sich der Tür näherte. Dort blieb er stehen und schien nach seinem Schlüssel zu kramen, denn ich vernahm ein Klimpern. Dann wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt, es klickte.
Mein Timing war perfekt. Genau als die Tür aufging, schob ich das Fenster nach außen, und als der Mann den ersten Schritt nach drinnen machte, schlüpfte ich hinaus. Als ich schon fast durch die Öffnung war, blieb mein Hosenbein an einem losen Stück Fensterverkleidung hängen und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Knall landete ich unsanft auf der Seite und hörte laut das Fenster zuklappen.
Es folgte ein Moment der Stille, bevor drinnen das Licht angeschaltet wurde. Ich sah mich nicht um oder wartete ab, ob der Mann mich gehört oder gesehen hatte, sondern stieß mich mit Armen und Beinen gleichzeitig vom Boden ab, sprang auf die Füße und rannte los.
Plötzlich ertönte ein Schrei aus dem Wohnwagen, der mir so ohrenbetäubend vorkam, als hätte jemand eine Stereoanlage voll aufgedreht: »He, du Scheißkerl!« Die Wohnwagentür flog auf, und dann waren erst auf dem Kies und dann auf dem Gras entschlossene Schritte zu hören.
Aber ich war bereits hinter der Hecke und damit außer Sichtweite. Ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen, und zog die Baseballkappe noch tiefer in die Stirn. Hoffentlich hatte ich genug Vorsprung herausgeschlagen. Ich schoss um die Kurve, als ob der leibhaftige Teufel hinter mir her wäre, was womöglich stimmte. Beim Auftauchen der Scheinwerfer war mein erster Gedanke gewesen, nicht in einem Wohnwagen erwischt zu werden, in den ich unrechtmäßig eingebrochen war, aber jetzt ging mir auf, dass ich in den dichten, finsteren Wäldern, die den verlassenen Wohnwagenpark umgaben, auch nicht viel besser dran war. Hier war niemand, der mich schreien hörte, wenn ich Hilfe brauchte. Der Mann, der mich verfolgte, steckte mit Justin unter einer Decke. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Er hatte sicher nicht gesehen, wer ich war, dafür war das Licht zu schwach gewesen. Er hatte allerhöchstens eine schwarze Gestalt mit Kapuzenjacke und Baseballkappe in die Dunkelheit fliehen sehen. Die naheliegende Vermutung war, dass ich ein Einbrecher oder Junkie war.
Mir schoss Bodies Schilderung der Verfolgungsjagd beim Bierraub von Twn Row durch den Kopf, während ich einen letzten keuchenden Sprint zum Waldrand hinlegte. Wenn der vor Testosteron strotzende, durchtrainierte Bodie in diesem Moment hinter mir her gewesen wäre, hätte ich keine Chance gehabt. Innerhalb von Sekunden hätte sich dieser rasende Muskelberg von hinten auf mich geworfen und mich zu Boden gerissen, wo ich genauso überrumpelt liegen geblieben wäre wie Mickey Half-Pipe. Oder war es Mickey Ming Mong gewesen? Einer der beiden beklagenswerten Mickeys jedenfalls. Aber der Mann, der mich verfolgte, war alles andere als durchtrainiert, und ich machte auch nicht den gleichen Fehler, den Mickey begangen hatte. Er hatte versucht, Bodie davonzulaufen, während ich nur eine gewisse Distanz zwischen mich und meinen Verfolger bringen wollte. Denn zwischen Kampf und Flucht gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Untertauchen.
Ich hatte sechs oder sieben Sekunden Vorsprung und viele gejoggte Kilometer in und um Cardiff auf meiner Seite. Fast instinktiv hatte ich vorab die Entfernung vom Wohnwagen zur nächsten Kurve der Landstraße abgeschätzt, und als ich dort angekommen war, schaltete ich blitzschnell, bog vom Weg in die Büsche ab und legte mich hinter einem Strauch flach auf den Bauch.
Sechs Sekunden später bog der Mann in vollem Tempo um die Ecke, aber er atmete bereits schwer und schwankte ein wenig. Nachdem er etwa zehn Schritte an meinem Versteck vorbeigerannt war, wo ich zwischen den winterlich spröden Blättern und Dornen die Luft anhielt, blieb er keuchend stehen und starrte nach vorne, wo die Landstraße eine erneute Kurve machte und in der Dunkelheit verschwand.
»Was zum …? Verdammte Scheiße!«, stieß er nach kurzer Verschnaufpause hervor und bekam einen Hustenanfall.
Er stützte die Hände auf die Knie und starrte weiter auf die leere Straße. In diesem Moment wiederholten sich völlig unerwartet und genau zum richtigen Zeitpunkt die Geräusche von vorhin: Glas zersplitterte, und das Gegröle und Gelächter betrunkener Jugendlicher schallte in unsere Richtung. Ich hätte nie geglaubt, dass ich randalierenden Teenagern einmal dankbar sein würde.
Da der Mann allein und am Ende seiner Kräfte war, brach er die Verfolgung ab und rief noch ein letztes »Ja, renn nur weiter, du Arschloch!« die Straße hinunter, bevor er zurück in Richtung Wohnwagen trottete.
Ich blieb noch eine gefühlte Ewigkeit reglos liegen, weil ich ganz sicher sein wollte, dass er weg war. Die Erinnerung an den Bluterguss, den Justin mir vor dem Surf-Shop verpasst hatte, war noch zu frisch. Mein heutiger Verfolger war ein kräftiger Mann. Nicht besonders fit, aber stark. Und er hatte Grund, wütend auf mich zu sein. Also erschien es mir sicherer, noch eine Weile liegen zu bleiben.
Nachdem ich etwa eine halbe Stunde in die Nacht hineingelauscht hatte, stand ich auf, bürstete mir Zweige und Erde von den Kleidern und schlich zur Straße zurück. Das Licht in Justins Wohnwagen war an, und ich hörte leise den tragbaren Fernseher scheppern.
Es wäre sicher vernünftiger gewesen, wenn ich mich in diesem Moment aus dem Staub gemacht hätte, aber ich war neugierig und wollte wissen, was der Mann im Wohnwagen tat. Wenn meine Vermutung stimmte, hatte Justin ihn vorhin angerufen und ihm Anweisungen gegeben. Aber Anweisungen wofür? Hatte er den Mann hergeschickt, um etwas Bestimmtes zu erledigen? Es hatte so geklungen.
Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür des Wohnwagens. Wieder hatte ich Glück, denn der Vorhang stand einen Spalt offen und forderte mich geradezu heraus, einen Blick zu riskieren. Der Mann lag auf der Sitzbank unter dem Fenster und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Es hing ein gräulicher Schleier in der Luft. Vor dem Mann auf dem Tisch stand eine große Wasserpfeife, und ich sah, dass das Fenster, aus dem ich geflohen war, immer noch angelehnt war. Er hatte es nicht verriegelt. Vielleicht hatte er nur gehört, wie jemand davonrannte, und gar nicht mitbekommen, dass derjenige aus dem Wohnwagenfenster gesprungen war. Durch den Fensterspalt roch ich Gras und noch etwas, etwas Stärkeres.
Der Seesack des Mannes stand offen auf der Bank, und ich sah die Zeitschriften und Kataloge, die ich mir angesehen hatte, oben herausragen. Eine weitere Tragetasche war vollgestopft mit Papieren oder vielleicht Fotos. Auf dem Tisch stand ein offener Laptop, und mir ging auf, dass die Geräusche von ihm stammten und nicht vom Fernseher.
Ich drehte mich ein wenig, um den Bildschirm besser sehen zu können, und erkannte verschwommene Bewegungen. Mir war sofort klar, dass es sich um einen Pornofilm handelte. Jetzt bemerkte ich auch, dass die Hose des Mannes offen stand und dass auf dem Tisch mehrere zerknüllte Papiertücher lagen. Auf der Website, die auf dem Bildschirm zu sehen war, stand in großen Buchstaben: »Heiße Surfschlampen. Geil und feucht!«
Das Video, das gerade lief, ähnelte den Amateurfilmen, über die ich damals bei »Heiße Girls von nebenan« und »Babes mit großen Brüsten« gestolpert war. Spucke sammelte sich in meinem Mund, und ich kämpfte gegen einen plötzlichen Anfall von Übelkeit an. Ich würgte, hatte mich kurz darauf aber wieder im Griff. Mein Unbehagen lag nicht an dem, was ich auf dem Bildschirm sah, denn obwohl ich nicht viel mehr als den Namen der Website und schemenhafte Bewegungen erkannte, hatte ich mit einem Blick erfasst, dass es sich bei dem kopulierenden Paar nicht um Justin und mich handelte. Mein Schock rührte vielmehr von meiner Angst, dass auch ich bald auf dieser Website auftauchen könnte.
In diesem Moment fing das Handy des Mannes erneut an zu klingeln – ein schriller, monotoner Piepston, der mich aus meinen panischen Gedanken riss. Was auch immer der Typ geraucht hatte, es schien ihn ins Halbkoma versetzt zu haben, denn er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich wartete trotzdem lieber nicht ab, bis er doch noch aus seinem Dämmerzustand erwachte, und schlich an der Hecke entlang von Justins Wohnwagen weg. Erst als ich sämtliche Wohnwagen umrundet hatte und auf der anderen Seite des Parks angekommen war, bog ich Richtung Straße ab, um von hinten mein Auto zu erreichen.
Nachdem ich eine Weile mit nervösen Fingern am Schloss herumgenestelt hatte, riss ich die Tür auf und ließ mich auf den Sitz sinken. Ich war völlig erschöpft und zitterte, weil der Adrenalinspiegel langsam wieder sank, aber ich zwang mich, den Motor anzulassen und davonzufahren. Nachdem ich wenige Minuten später die Hauptstraße erreicht hatte, wo die Straßenbeleuchtung davon zeugte, dass ich wieder in der Zivilisation angekommen war, erhaschte ich einen Blick auf mein Gesicht im Rückspiegel und erschrak. Auf meiner rechten Wange prangte ein rotbrauner, verkrusteter Kratzer, und darunter begann sich entlang des Wangenknochens ein daumengroßer Bluterguss zu bilden, gegen den nicht einmal mein Concealer von Max Factor etwas würde ausrichten können. Ich musste mir diese Verletzungen bei meinem Sprung in die Büsche zugezogen haben, aber ich hatte nichts davon mitbekommen.
Nachdem ich ein Papiertuch aus der Tasche gezogen hatte, spuckte ich darauf und reinigte mir, so gut es ging, die Wange. Der Kratzer war nicht tief und würde in ein oder zwei Tagen verheilt sein, redete ich mir ein. Es hätte schlimmer kommen können.
Ich fuhr mechanisch und langsam dahin. Die Versuchung war groß, das Gaspedal voll durchzudrücken, um möglichst schnell ins Bett zu kommen, aber ich wollte auf keinen Fall so weit von zu Hause entfernt geblitzt werden oder in eine Polizeikontrolle geraten, schon gar nicht mit zerkratztem Gesicht und schlammbespritzter Kleidung. Alles in bester Ordnung, Officer!
Als ich endlich die Haustür hinter mir zumachte und mich im Flur auf den Boden sinken ließ, sah ich den blinkenden Anrufbeantworter.
Dan hatte zwei Nachrichten hinterlassen. In der ersten sagte er, er rufe nur an, um zu hören, ob ich einen schönen Tag gehabt habe, und um mir zu sagen, dass er mich liebe. In der zweiten Nachricht bat er mich, ihn vor dem Schlafengehen anzurufen, es sei eine ruhige Schicht und ihm sei langweilig. Die letzte Nachricht war schon zwei Stunden her.
Ich rief ihn nicht zurück, weil ich wusste, dass es mir unmöglich gewesen wäre, auch nur einen zusammenhängenden Satz herauszubringen.
Erst als ich mir die schlammige Jeans auszog, um sie in die Wäsche zu werfen, stellte ich fest, dass ich noch das Heftchen mit den roten Pillen und das Foto von Justin und Suzy in der Tasche hatte. Aber Dans Taschenlampe war nirgendwo zu finden.