6.
Im Handumdrehen war der zweite Weihnachtsfeiertag gekommen, und die besinnliche Jahreszeit lag fast hinter uns. Ich hatte nur drei Tage freibekommen und war fest entschlossen, sie bestmöglich zu nutzen, indem ich mich nur vom Sofa rührte, wenn es absolut nötig war. Dan hatte es sich im Wohnzimmersessel gemütlich gemacht und las D-Day. Die Schlacht um die Normandie von Antony Beevor. Er schätzte die militärhistorischen Texte von Antony Beevor sehr, weshalb ich ihm jedes Jahr, seit wir gemeinsam Weihnachten feierten, ein neues Buch von ihm schenkte. Auch dieses Jahr bildete keine Ausnahme. Dan hatte Stalingrad und Berlin 1945. Das Ende und Paris nach der Befreiung gelesen und auch sonst viele Werke von namhaften Historikern. Vor allem der Zweite Weltkrieg und Vietnam interessierten ihn, aber mittlerweile auch Irak und Afghanistan.
Ich fand geschichtliche Themen ebenfalls spannend, las aber auch über viele andere Themen, während Dans Lektüre sich ausschließlich auf historische Sachbücher und politische Analysen beschränkte. Anfangs hatte mich sein großes Interesse dafür beeindruckt, aber jetzt nervte es mich zusehends. Wenn ich ganz ehrlich war, misstraute ich Menschen, die nie Erzählliteratur lasen, weil ich sie einfach nicht verstand. Wenn ich keinen Roman neben dem Bett liegen und einen weiteren in der Handtasche hatte, geriet ich in Panik, ähnlich wie bei einem verlorenen Körperteil, dessen Abwesenheit noch lange schmerzt. Im gerade zu Ende gehenden Jahr war zeitgenössische Belletristik meine große Leidenschaft gewesen, aber ich hatte auch viele alte und moderne Klassiker gelesen. Eigentlich verschlang ich alles, bis auf anspruchslose Frauenliteratur (was ich wohl nicht begründen muss) und Krimis (es ist einfach witzlos, wenn man bei der Polizei arbeitet und dort täglich die echten Verbrechen mitbekommt).
Wenn ich nicht mindestens alle zwei Wochen im Buchladen vorbeischauen und schnell ein paar Bücher kaufen konnte, erlitt ich regelrechte Entzugserscheinungen. Schon als Kind hatte ich »meine Nase ständig in irgendein Buch gesteckt«, wie meine Mutter gerne erzählte. Das war durchaus wörtlich zu nehmen, denn für mich hatte der Reiz von Büchern immer schon mit ihrem Geruch zu tun gehabt, mit dem Gefühl des Papiers unter meinen Fingern. Der Geruch ist sozusagen der Vorbote und bietet einen Vorgeschmack auf das, was zwischen den Buchdeckeln steckt. Man saugt den Inhalt des Buches durch die Nase ein, nimmt sie in sich auf, die Verheißung der Seiten, die betörende Aussicht auf eine Welt, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Bevor ich anfing, mir meine Romane selbst zu kaufen, war Weihnachten für mich gleichbedeutend mit neuen Büchern. Jedes Jahr bestellte meine Mutter über den Zeitungskiosk im Dorf eine ganze Reihe von Jahreszeitschriften, Kinderbücher und Anthologien wie Tausendundeine Nacht oder 101 Gespenstergeschichten für mich. Bei Mr Lewis konnte man ab Juni jede Woche einen kleinen Betrag abstottern, damit man im Dezember nicht alles auf einmal zahlen musste.
Am Weihnachtsmorgen konnte ich meine Aufregung meist gar nicht mehr zügeln, und wenn ich die Bücher endlich ausgepackt hatte, saß ich im Schneidersitz vor meinen Schätzen und fuhr mit den Fingern über die Titelblätter von Jahreszeitschriften wie Twinkle, Mandy oder Girl, über die Buchdeckel von Grimms Märchen oder illustrierten Historienklassikern für Kinder wie Die drei Musketiere oder Lorna Doone.
In meinen Lieblingsgeschichten ging es meist um blaublütige Kinder, die versehentlich nach der Geburt vertauscht worden waren und in der falschen Familie aufwuchsen. In meinen Tagträumen fantasierte ich oft davon, dass ich selbst ebenfalls der falschen Familie ausgehändigt worden war, weshalb nun jeden Moment meine echte Familie in einer goldenen Kutsche oder – mit zunehmendem Alter passte ich meine Fantasien ein wenig an – in einer lackschwarzen Limousine vorfahren konnte. Es würde natürlich für einigen Aufruhr in Pontypridd sorgen, wenn ein Lakai mit Federhut oder ein samtgekleideter Diener vor unserem Haus vom Kutschbock sprang. Voller Begeisterung würde ich mich in die Arme meiner leiblichen Mutter werfen, einer wunderschönen, würdevollen Dame, die zur italienischen oder vielleicht zur schwedischen Aristokratie gehörte.
Jetzt, wo ich erwachsen war, besaß Weihnachten natürlich nicht mehr dieselbe Faszination für mich, aber ich bekam immerhin drei Romane von meiner Mutter geschenkt, ein Nachschlagewerk zur Bildsprache des Jugendstils von meinem Vater und einen unerwartet reizvollen Bildband über die Malerei der italienischen Renaissance von Dan. Alle diese Bücher lagen ausgepackt am Fuß des Sofas, aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, sie zu lesen. Während Dan sich mit Antony Beevor an die Strände der Normandie begab, zappte ich mich durchs Fernsehprogramm und aß noch ein paar Paranüsse, wegen des Selens und der essenziellen Fettsäuren.
Dabei gab ich mir Mühe, den Stapel mit Hochzeitsmagazinen und Broschüren, der mich auffordernd vom Beistelltisch am Fenster aus ansah, keines Blickes zu würdigen. Schließlich wollte ich mich über die Feiertage entspannen.
Meine filmreife Geldübergabe aus dem Zug heraus war einen knappen Monat her, und ich hatte keine weiteren E-Mails oder Textnachrichten von Justin bekommen. Allmählich erwachte in mir die Hoffnung, dass ich diese demütigende Episode als abgeschlossenen Fall betrachten konnte, um im Polizeijargon zu bleiben. In den letzten Wochen hatte ich mit einem starren Lächeln auf dem Gesicht weitere Hochzeitsvorbereitungen getroffen, mögliche Menüs probegegessen und zusammen mit meiner Mutter einen Chocolatier aufgesucht, um kleine Gastgeschenke aus Schokolade zu bestellen.
Inzwischen war es fünf Uhr nachmittags an diesem verregneten 26. Dezember, und meine größte Sorge bestand darin, den Besuch meiner Eltern zu überstehen, die sich zu einem frühen Abendessen mit Truthahnsandwiches angekündigt hatten. Außerdem hatte ich einen Trivial-Pursuit-Titel zu verteidigen. Ich war fünf Jahre lang in Folge die Erste gewesen, die alle kleinen bunten Plastikecken beisammenhatte, aber meine Mutter hatte mir verraten, dass mein Vater heimlich gepaukt hatte, um mich in diesem Jahr herauszufordern. Er nahm Gesellschaftsspiele immer furchtbar ernst. Seit ich acht oder neun Jahre alt war, hörte die Welt zweimal die Woche für eine halbe Stunde auf, sich zu drehen, weil dann Quizsendungen im Fernsehen kamen, die er und ich gebannt vom Sofa aus verfolgten.
Aus heutiger Sicht kam es mir eigenartig vor, dass auch für mich einmal wichtig gewesen war, ob ich ein Spiel gewann oder nicht.
Als mein Telefon piepste, dachte ich zunächst, es wäre meine Mutter, die uns mitteilte, dass sie bei Onkel Owen unter einer Lawine aus Weihnachtsplätzchen und Obstkuchen begraben lägen und daher später kommen würden. Aber dann erkannte ich die Nummer auf dem Display.
In der SMS stand: »Deine Weihnachtsspende war hochwillkommen. Im neuen Jahr wird eine weitere fällig. Ich melde mich.« Vierzehn Wörter, die meine ganze Welt zum Einsturz brachten. Oder die Tür zu einer neuen, düsteren Welt öffneten.
Eine Welle der Übelkeit überkam mich, und dann erklang auch noch das Dingdong der Türklingel. Ich hörte, wie meine Mutter lautstark »Fröhliche Weihnachten!« durch den Briefkasten posaunte. Aus jeder Silbe war die Festtagsstimmung überdeutlich herauszuhören.
Lieber Gott, ich schaffe das jetzt nicht. Nicht jetzt!, schrie ich innerlich, so heftig, dass ich Angst hatte, meine Augäpfel würden platzen. Das hier ist mein Zuhause, und es ist Weihnachten! Dan riss sich langsam von den blutgetränkten Stränden der Normandie und der weichen Umklammerung des Sessels los und klappte mit gespieltem Ernst sein Buch zu. »Also, auf in die Schlacht«, sagte er grinsend. »Bist du bereit fürs Gefecht? Meine kleine Intelligenzbestie hat schließlich einen Titel zu verteidigen.«
»Dan«, platzte es aus mir heraus. »Da ist etwas … Ich meine, ich weiß nicht, ob ich …«
»Schon gut, Schatz«, beschwichtigte er und beugte sich zu mir herunter, um mir wie einem Hundewelpen den Kopf zu tätscheln. »Das wird schon. Setz dich nicht unter Druck, es ist nur ein Spiel.«
»Darum geht es doch gar nicht! Scheiß auf Trivial Pursuit! Es geht um …« Sag es ihm nicht, sag es ihm nicht, sag am besten gar nichts. Das schaffst du alleine, sei kein Feigling, befahl die Stimme in meinem Kopf.
»He«, sagte Dan sanft und zog mich auf die Füße. »Mach dir keine Sorgen wegen deiner Mutter. Ich mache sie genau wie letztes Jahr mit Martini Rosso gefügig. Du wirst sehen, sie ist ganz brav.« Er umarmte mich so fest, dass ich mir vorkam wie in einer Schraubzwinge. Seine harten Muskeln und sein Geruch nach Duschgel fügten sich zu einem beruhigenden Schutzwall zusammen.
»Ich liebe dich, Dan«, brachte ich mühsam hervor. Mach, dass es wieder gut wird, flehte ich stumm, nur dieses eine Mal. Mach, dass es aufhört.
»Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde!«, rief er theatralisch und ließ mich los, um mutig zur Tür zu stolzieren. »Shakespeare. Siehst du? Ich bin nicht nur ein dummer, ungebildeter Polizist.«
»Ich muss kurz meine E-Mails checken«, murmelte ich.
»Jetzt?«, fragte er ungläubig und leicht verärgert.
»Bin sofort wieder da.«
Und tatsächlich: Als ich mich in meinen E-Mail-Account einloggte, wartete dort ein neues Video. Es war dieselbe Filmsequenz wie vorher, aber diesmal war mein Gesicht zu sehen, ein wenig verschwommen zwar, aber für jeden identifizierbar, der mich kannte. Mit wachsendem Ekel starrte ich die Aufnahmen an, wie hypnotisiert von meinem Mund, der sich in rhythmischen, an einen Fisch erinnernden Stöhnlauten öffnete und schloss, während meine wilde Leidenschaft sich dem Höhepunkt näherte.
»Willst du diese oscarreife Darbietung im Internet sehen? Auf der Website der Polizei von Cardiff? Willst du berühmt werden?«, stand in der E-Mail. »Nein? Dann fahr auf der A436 Richtung Flughafen. 15. Januar.«
Flughafen? Ich vernahm ein halb ersticktes, schnaubendes Lachen und merkte, dass es aus meinem Mund gekommen war. Ich sollte zum Flughafen fahren? O Gott! Was würde er diesmal von mir verlangen? Dass ich eine Maschine charterte und den Umschlag über den Sanddünen von Ogmore-by-Sea fallen ließ? Dass ich ihn mit einem kleinen Fallschirm auf das Deck eines wartenden Schiffes abwarf, auf das der Wintermond schien? Hysterie ergriff von mir Besitz und meine Lippen verzogen sich zu einem starren Grinsen, das meine Zähne entblößte. Es war offensichtlich, dass das Spiel gerade erst begonnen hatte.
Unten hörte ich, wie meine Mutter Dan abknutschte und ihn mit ihren Umarmungen fast strangulierte. Dann klirrten Gläser, und eine Flasche wurde geöffnet.
»Wo ist eigentlich mein Töchterlein?«, rief meine Mutter schallend aus dem Wohnzimmer. »Du kannst doch nicht den ganzen Nachmittag im Schlafzimmer herumsitzen! Wir haben dir und deinem Göttergatten noch mehr Geschenke mitgebracht! Außerdem wollte ich dir ein paar Sachen für die Hochzeit zeigen.«
Für die Hochzeit. O Gott.
Eilig fuhr ich den Laptop herunter. Sekunden später platzte meine Mutter ins Schlafzimmer. Die Pailletten auf ihrem schicken roten Weihnachtsjäckchen funkelten, während sie in der einen Hand ein Bündel Zeitschriften und Kataloge schwenkte und mich mit dem freien Arm umschlang und fast erwürgte.
»Hier … das musst du dir angucken, Jen«, sagte sie und sprühte nur so vor Begeisterung. Sie war von Kopf bis Fuß auf Weihnachten eingestellt, von ihrem ordentlich frisierten grau werdenden Haar bis zu den flachen Pumps. Aufgeregt zeigte sie auf zwei Hochglanzmagazine: »In dem hier sind Kleider, und in diesem Dessous. Die haben auch entzückende Sachen für Brautmütter! Vielleicht ziehe ich so einen Feder-Kopfschmuck an, das wirkt viel weniger plump als ein Hut. Ich habe dir einen Knick in die Seite mit diesen süßen Bustier-Dingern und figurformenden Korsetts gemacht, siehst du? Vielleicht willst du ja sogar Strumpfbänder anziehen?«
Ein Korsett? Strumpfbänder? Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?, hätte ich sie am liebsten gefragt. Verkaufen diese Hochzeitszeitschriften jetzt etwa auch Karnevalskostüme? Spiele ich in der Hochzeitsversion von Moulin Rouge mit? In mir stiegen plötzlich Erinnerungen an den Junggesellinnenabschied einer befreundeten Polizistin auf, die es wahnsinnig lustig und überhaupt kein bisschen nuttig fand, Moulin Rouge als Motto auszugeben und in Netzstrumpfhosen, Push-up-BH und Rüschenhöschen durch die Pubs von Cardiff zu ziehen. Um mich dem Motto wenigstens einigermaßen anzupassen, war ich als Conférencier erschienen, im Dreiteiler mit Fliege und Zylinder.
»Findest du nicht, dass du das Thema verfehlt hast, Jen?«, hatte mich Allyson, die zukünftige Braut, gefragt, während sie mit wackelnden Brüsten auf den Knien eines geistig minderbemittelten Muskelprotzes herumgehüpft war, den sie im Wetherspoons-Pub aufgerissen hatte.
An ihrem Kleid war ein Plastikpenis befestigt gewesen, und auf dem Rücken hatte sie ein Schild mit der Aufschrift »Ich übe noch« getragen. »Du bist immer so ernst«, hatte sie mir vorgeworfen. »Amüsier dich doch ein bisschen und mach dich locker, sonst halten dich die Leute noch für eine Lesbe!«
Als nun meine Mutter im selben Atemzug vom Heiraten und von weißen Seidenstrümpfen schwärmte, reichte es mir.
»Seidenstrümpfe? Strumpfbänder? Wird das eine Hochzeit oder ein verdammtes Cabaret?«, rief ich. »Soll ich etwa auch noch Cancan tanzen? Ich bin eine Braut und kein verfluchtes Callgirl! Es wäre wirklich schön, wenn wir mal einen Tag nicht über diesen ganzen Hochzeitsquatsch reden könnten! Herr Jesus auf dem Fahrrad, gibt es denn keine anderen Themen mehr?!«
»Gut, ganz, wie du willst, Fräulein Griesgram«, antwortete meine Mutter leichthin. »Ich dachte nur, dass dir vielleicht etwas Weibliches vorschwebt, weil eine Hochzeit schließlich ein ganz besonderes Ereignis ist. Ich lege dir die Kataloge unten hin. Tante Annie hat übrigens angeboten, die Hochzeitstorte zu backen. Und wenn du Zeit hast, die Sache mit den Gästefotos und dem Hochzeitsvideo zu besprechen, lass es mich wissen. Ein Freund von Onkel Owen arbeitet neuerdings als Hochzeitsfotograf und würde dir bestimmt einen guten Preis machen.«
Hochzeitsvideo? Kein Bedarf, dachte ich. Ich habe hier bereits ein hübsches, neunzigsekündiges Video-Highlight, das dir und den anderen Gästen bestimmt wahnsinnig gut gefallen würde.
Ich brach plötzlich in Tränen aus, zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit.
»Ach je, Jen, was ist denn nur los mit dir?«, fragte meine Mutter gutmütig. »Man bekommt ja fast den Eindruck, dass du überhaupt nicht heiraten willst.«
Sie tätschelte mir die Schulter (warum tätschelten meine Mitmenschen mich plötzlich, als wäre ich ein Pudel?) und strahlte Dan an, der mit einem Martini Rosso in der Tür stand. Heute war der einzige Tag im Jahr, an dem meine Mutter sich mehr als ein Glas Alkohol gönnte, und er würde dafür sorgen, dass sie es voll auskostete.
»Ich glaube, deine Verlobte braucht ein bisschen Zuwendung, lieber Schwiegersohn«, sagte sie, und wie immer genügte sein Anblick, um sie zum Strahlen zu bringen. »Sie ist ein bisschen überempfindlich wegen der Hochzeit«, flüsterte sie laut, während ich heulend dasaß und unter Schluchzern die Worte hervorstieß: »Kann ich bitte einen großen Jack Daniel’s haben?«
»Seit wann trinkst du Jack Daniel’s?«, fragte Dan überrascht.
»Schon seit wir uns kennen.«
Mein Vater gewann an diesem Tag unsere Trivial-Pursuit-Partie.