10.

Ich zog meine Leggings und einen Kapuzenpullover an, schnürte meine Turnschuhe zu und joggte los. Die Bewegung tat mir gut. Für Mannschaftssportarten hatten mir immer schon die Geduld und der Ehrgeiz gefehlt, daher hatte ich irgendwann mit einer chronisch nervösen schottischen Freundin namens Pam, die ich aus den Anglistik-Seminaren an der Uni kannte, mit dem Joggen angefangen. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen fühlten wir uns von den komplizierten Choreographien der angebotenen Aerobic-Kurse überfordert, und auch die betont munteren Anfeuerungsrufe der Kursleiterin gingen uns auf die Nerven.

Wenn man die Kilometer zusammenzählen würde, die ich seither gerannt bin, könnte man den Großraum Cardiff bestimmt Hunderte Male umspannen. Ich achtete allerdings nie auf die Distanz oder die Zeit, und es ging mir auch nicht darum, Kalorien zu verbrennen. Ich nahm weder an Firmenläufen noch an Halbmarathons teil und war auch kein Mitglied in einem Laufverein. Ich zog einfach dreimal die Woche die Turnschuhe an und rannte los.

Im Sommer lief ich abends in kurzer Hose und T-Shirt durch die Parks oder am Fluss entlang, bis sich die Blätter im Spätsommer allmählich färbten und im Herbst schließlich ganz abfielen. Im Winter joggte ich in langer Sporthose, langärmeligem Fleecepullover, Baseballkappe und Handschuhen durch die dunklen, stillen, regennass glitzernden Straßen der Stadt. Die Kälte machte mir nichts aus, genauso wenig wie die Dunkelheit. Ich genoss sie sogar, denn ich liebte die Anonymität. Je menschenleerer die Strecke war, desto besser, obwohl ich natürlich immer mein Handy in einer kleinen Tasche am Arm trug und alle Passanten im Auge behielt, um rechtzeitig fliehen zu können, wenn ich mich bedroht fühlte.

Ich rannte nie mit iPod, damit ich keine Begehrlichkeiten weckte und jederzeit hörte, wenn sich jemand von hinten an mich heranschlich. In den vergangenen sechs Jahren hatte ich zu viele diesbezügliche Warnungen herausgegeben, um selbst so unvorsichtig zu sein, im Dunkeln mit iPod zu joggen. Aber ich verzichtete vor allem deshalb darauf, weil ich die Stille genoss.

Das Geräusch meiner Füße, die gleichmäßig auf den Boden hämmerten, das kontrollierte Ein- und Ausatmen, das gesteigerte Tempo, sobald meine Muskeln aufgewärmt waren, die Ausdehnung der Lunge, die sich mit Luft füllte, der fließende Schweiß – das alles war für mich der perfekte Abschluss eines Tages. Damit ließ sich der Lärm wegspülen, die klingelnden Telefone, die schrillen Forderungen der Journalisten, das Knistern des Polizeifunks, die Wörter, die aus den Mündern meiner Kollegen sprudelten und in Telefonhörern verschwanden, das Klappern der Tastaturen, das endlose Klicken und Quasseln und Knattern. Von all diesen Dingen reinigte ich meinen Kopf, indem ich mich körperlich verausgabte, mit jedem Schritt wurde es stiller und leerer darin.

Sobald diese Leere hergestellt war, konnte ich ungestört nachdenken.

Nachdem Dan um meine Hand angehalten hatte, war ich laufen gegangen, bevor ich seinen Antrag annahm.

Auch als ich aus dem Watch-House zurückgekommen war und zum zweiten Mal mit Sophie gesprochen hatte, war ich joggen gegangen. Keine zweiundsiebzig Stunden davor hatte ich mit Justin im Bett gelegen, aber mein schlechtes Gewissen hatte sich in Grenzen gehalten. Wenn Dan mich nicht angelogen hätte, wenn ich nicht durch Sophies Anruf von seinem unsäglichen Betrug erfahren hätte, wäre das alles gar nicht erst passiert.

Ich war gerannt und gerannt und hatte mir vorgestellt, wie Sophie im Takt meiner Füße immer kleiner und kleiner wurde und schließlich mit einem Knall aus meinem Kopf verschwand, wie sie noch einmal kurz aufleuchtete wie ein sterbender Stern und dann blinkend ihr Leben aushauchte und in Vergessenheit geriet. Bald würde der Moment kommen, in dem Dan mir gegenüber sein Ehegelübde ablegte, in dem er mir sagte, dass er mich über alles liebte und nur mit mir zusammen sein wollte. Was kümmerte mich da eine Sophie!

Justin war zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetaucht in meiner Rechnung, denn er hatte bereits der Vergangenheit angehört.

Als ich nach Sophies Anruf joggen gegangen war, war unser Hochzeitstermin noch acht Monate entfernt gewesen. Es war mir vorgekommen wie eine sehr lange Zeit.

Drei Monate später rannte ich immer noch, aber jetzt waren es nur noch fünf Monate bis zur Hochzeit, und alles war anders.

Ich versuchte krampfhaft, den Kopf freizubekommen und mich an der Winterlandschaft zu erfreuen, die sich vor mir erstreckte, am glitzernden Schnee, der über Nacht gefallen war und den Boden makellos weiß gefärbt hatte, am knallblauen Himmel. Ich rannte an den Sportplätzen vorbei, um den Pfad zu erreichen, der am Fluss entlangführte. Alles war wunderbar ruhig und gedämpft, wie in Watte gepackt. Der Tag war bereits in die weichen Farben des nahenden Sonnenuntergangs getaucht, und während ich quer über das Rugbyfeld rannte und anschließend im Wald verschwand, war ich entzückt von dem Knirschen meiner Füße im unberührten Schnee. Ich dachte an das Gedicht »Rast am Wald an einem verschneiten Tag« von Robert Frost. Darin geht es um einen Reiter, der gerne länger in den tief verschneiten Wäldern verweilen würde, aber ein Versprechen einhalten und seine Reise zu Ende bringen muss, bevor er schlafen darf. Das Gedicht ist eine Metapher auf die Reise des Lebens und letztlich auch auf den Tod, der an ihrem Ende steht. Mir fiel ein, dass ich im Watch-House einen Gedichtband von Robert Frost dabeigehabt hatte und dass Justin diesen Umstand kommentiert hatte. »›Der unbegangene Weg‹. Mein Lieblingsgedicht«, hatte er gesagt. »Ich habe ebenfalls versucht, einen ungewöhnlichen Weg einzuschlagen. Aber irgendwann bin ich dann doch wieder in Gower gelandet.«

In Gedanken sah ich Justins Gesicht vor mir und stellte mir vor, wie ich es unter meinen Schuhen zermalmte, wie ich es zu Brei zerstampfte. Zuerst würden seine Knochen brechen, und dann würde das Blut aus seiner zertrümmerten Nase schießen. Er würde wimmernde Geräusche von sich geben und mit den Armen um sich schlagen, während ich weiter auf ihn eintrat, auch nachdem sein Mund längst nur noch eine blutige Masse war, in der einzelne Zähne schwammen.

Meine Lunge füllte sich mit kalter, frischer Luft, und ich stieß einen Teil des krankmachenden Hasses hervor, der seit meinem Ausflug nach Porthcawl und meiner Fahrt zum Flughafen in meinem Inneren getobt hatte. Während die Kilometer unter meinen Füßen dahinflogen, dachte ich darüber nach, wie es weitergehen sollte.

Bisher hatte mein Erspartes für die beiden Zahlungen gereicht. Es war zwar noch ein bisschen Geld übrig, aber wenn Justins Forderungen weiterhin in so kurzen Abständen eintrafen, war die Summe bald aufgebraucht. Dan würde schnell misstrauisch werden, wenn ich über Geldnot klagte oder ihn bat, mir etwas zu leihen.

Ein undefinierbares Gefühl breitete sich in mir aus, etwas Dunkles und Klebriges, das meine Kehle hinuntertropfte und sich in meiner Magengrube sammelte. Während ich weiter durch das Wäldchen rannte, wartete ich darauf, dass sich das Gefühl in aller Klarheit offenbarte und mir die Richtung wies.

Ich schoss zwischen den Bäumen hervor und näherte mich der eisbedeckten Anglerhütte am Flussufer. An der Treppe tummelte sich eine Gruppe Jugendlicher, die sich gegenseitig mit Schneebällen bewarfen.

»Lauf, Forrest, lauf!«, schrie ein Junge und lachte sich mit seinen Freunden ins Fäustchen.

Ich war der Gruppe schon öfter begegnet, und der heutige Kommentar war definitiv einer der harmloseren. Die beliebtesten Sprüche, die ich mir von den Jungen anhören musste, waren Geiler Hintern, Süße oder Lust, meinen Schwanz zu lutschen?. Dabei konnten sie nicht älter als dreizehn sein. Ich ignorierte die Gruppe wie üblich, weil die einzige Alternative darin bestand, Schimpfwörter zurückzubrüllen, womit ich mich auf ihr Niveau begeben und sie vermutlich weiter angestachelt hätte. Oder ich hätte mir eine neue Route suchen müssen, aber ich sah es überhaupt nicht ein, dass mich eine Bande vorpubertärer Idioten verscheuchte.

An diesem Tag machte irgendetwas klick in meinem Kopf. Ich würde mich weder von den Jugendlichen noch von überhaupt jemandem verscheuchen lassen – ganz im Gegenteil. Ich musste irgendwie erreichen, dass Justin vor mir davonrannte.

Meine Lungenflügel öffneten sich, und die Endorphine zirkulierten frei durch meinen Körper und brachten mir die ersehnte Klarheit. Ich rannte drei Runden um die Sportplätze und joggte dann wieder nach Hause. Jetzt wusste ich, was ich tun würde.

Der Schnee blieb nur vierundzwanzig Stunden liegen, aber am nächsten Morgen musste ich dennoch einer langatmigen Einsatznachbesprechung beiwohnen, in der es um die (erneute) Sperrung der M4 sowie die Blockierung mehrerer Landstraßen aufgrund von nächtlichen Unfällen ging.

Jack NewsBeatWales hatte um neun Uhr morgens bereits viermal angerufen, um sich einen »Überblick über das Schneechaos« zu verschaffen, wie er es nannte. So chaotisch sei die Nacht nun auch wieder nicht gewesen, hatte ich entgegnet. Nein, ich könne ihm leider nicht die Einzelheiten jedes SVU – Straßenverkehrsunfalls – der letzten vierundzwanzig Stunden nennen, da dies den zeitlichen Rahmen sprengen würde, aber es sei niemand gestorben oder lebensgefährlich verletzt worden. Er fragte dennoch nach Automarken, Schadensdetails, Anzahl, Alter und Wohnort der Insassen und wollte wissen, in welches Krankenhaus sie mit welchen Verletzungen eingeliefert worden waren.

Ich gab mein Bestes, aber unser System wurde nicht immer sofort aktualisiert, wenn keine Verkehrstoten involviert waren. Jack war nicht besonders glücklich darüber, dass ich ihm nur allgemein gehaltene Informationen per E-Mail schickte, aber er würde die bittere Pille wohl schlucken müssen. Ich spürte, wie sich ein hämmernder Kopfschmerz zwischen meinen Augen und in meinem Nacken einnistete. Ich hatte sonst nur selten Kopfschmerzen und hoffte, dass keine Erkältung im Anmarsch war. Während ich zum wöchentlichen Image-Meeting ins Besprechungszimmer eilte, sehnte ich die Mittagspause herbei, damit ich mich endlich ins Büro der Kriminalpolizei schleichen und erneut an Bodies Computer die Datenbank durchforsten konnte.

Müde und gelangweilt saß ich da, während meine uniformierten Kollegen über Partnerschaften, positive Darstellung in der Öffentlichkeit und Zufriedenstellung der Stadträte durch Polizeiinitiativen in den Gemeinden schwadronierten. Als ich meine Stelle angetreten hatte, hatte ich keineswegs die Illusion gehegt, dass meine Arbeit wahnsinnig aufregend oder heldenhaft sein würde, aber dass ich mich derart oft mit bürokratischem Blödsinn herumschlagen musste, hatte ich nicht für möglich gehalten.

Im Prinzip hatte ich mich direkt nach der Uni bei der Polizei beworben. Anfangs war es nur als Notlösung gedacht gewesen, schließlich hatte mein Studium weder mit Medien noch mit PR zu tun gehabt. Ich hatte einen Abschluss in britischer und europäischer Geschichte und in englischer Literatur. Geschichte, weil ich es toll fand, mir Wissen allein um des Wissens willen anzueignen, und Literatur, weil Erzählliteratur meine Sehnsucht nach Realitätsflucht befriedigte. Ich liebte die Synthese von Fakten und Erlebnissen, Geschichte und Geschichten, die diese klassischste aller Fächerkombinationen mir bot. Dass sie mich auf keinen bestimmten Beruf vorbereitete, war mir damals egal gewesen. Während des Studiums würde ich schon noch herausfinden, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte, da war ich mir sicher. Und ich war mir genauso sicher, dass ich bei erster Gelegenheit aus Wales wegziehen würde, vielleicht sogar aus Großbritannien.

In der Pressestelle der Polizei war ich mehr oder weniger aus Zufall gelandet. Weil ich Dan kennengelernt hatte.

Er war gerade dabei gewesen, seine Magisterarbeit zu schreiben, als ich mein erstes Studienjahr hinter mir hatte, und am Ende meines zweiten Studienjahres wurde er für die Polizeiausbildung zugelassen und lernte den rauen Polizeialltag kennen. Als ich meinen Uniabschluss machte, war er bereits zum Detective Constable aufgestiegen und wollte, dass wir zusammen ein Haus kauften. »Mieten ist Geldverschwendung, Jen«, betete er mir zwei Jahre lang vor. »Das Geld ist futsch, ohne dass man dafür das Geringste in der Hand hat.«

Er hätte es gerne gesehen, wenn ich schon vor meinem Abschluss bei ihm eingezogen wäre. Dadurch hätte ich sogar Geld gespart, denn er bestand darauf, die Miete allein zu übernehmen. Schließlich wusste er, dass ich knapp bei Kasse war. Aber ich lehnte beharrlich ab, mit der Begründung, dass ich erstens meine eigenen vier Wände zum Lernen brauchte und es zweitens besser wäre, getrennte Wohnungen zu haben, weil unser Lebensrhythmus viel zu unterschiedlich sei.

Nachdem ich in allen meinen Fächern als Beste abgeschnitten, ein hart erarbeitetes ausgezeichnetes Examen abgelegt und einen Sommer und Herbst lang auf der faulen Haut gelegen hatte, musste ich langsam Geld verdienen. Meine Eltern hatten fleißig gespart und sich eingeschränkt, um mir mein dreijähriges Studium zu ermöglichen, aber ich hatte dennoch wie alle anderen Studenten Kredite zurückzuzahlen und musste mich zudem mit dem Problem auseinandersetzen, dass ich immer noch keine Ahnung hatte, welchen Berufsweg ich einschlagen wollte.

In dieser Phase gelang es Dan schließlich, mich zu einem gemeinsamen Hauskauf zu überreden, und als im Februar eine gut bezahlte Stelle in der Pressestelle der Cardiffer Polizei frei wurde, sagte Dan: »Das wäre doch eine interessante Erfahrung und würde sich außerdem gut in deinem Lebenslauf machen. Und du könntest anfangen, deine Studienkredite zurückzuzahlen. Versuch es doch einfach ein Jahr lang, während du dir überlegst, was du wirklich willst. Du bist so ein schlauer Kopf, du findest überall Arbeit.«

Aber genau das war mein Argument dagegen. Es hörte sich nicht gerade nach einer großen Herausforderung an, sich täglich ein paar Pressemitteilungen aus den Rippen zu leiern, außerdem fand ich es ein bisschen zu spießig, im selben Jahr ein Haus zu kaufen und bei der Polizei anzufangen. Aber da ich kein Geld hatte, um weiter herumzureisen und mir in Ruhe Gedanken zu machen, welche Branche mir lohnenswerter erschien, traf ich eine Vernunftentscheidung und schickte die Bewerbung ab.

Alptraum-Nige hatte das Bewerbungsgespräch geführt, bei dem die dicke Paula als Vertreterin der Personalabteilung und einer der Chief Superintendents als Abgeordneter der Kriminalpolizei teilgenommen hatten.

»Eigentlich wollten wir niemanden nehmen, der nicht aus dem Bereich Medien oder PR kommt«, hatte Nigel erklärt, als er mich einige Tage später anrief, um mir mitzuteilen, dass ich beim Bewerbungsgespräch auf ganzer Linie überzeugt hatte. »Aber Sie waren den anderen Bewerbern haushoch überlegen. Ihre offenkundige geistige Reife hat uns sehr beeindruckt.«

Anfangs war mir meine Arbeit wider Erwarten sinnvoll und kurzweilig vorgekommen. Immerhin habe ich unmittelbaren Einfluss auf den Alltag der Menschen, hatte ich mir eingeredet. Das war mit Sicherheit besser, als irgendwo in einem Callcenter zu sitzen. Ich interessierte mich für die Polizeiarbeit und ihre Geschichte, und Dan und ich diskutierten regelmäßig über Themen wie institutionalisierten Rassismus, Einmischung durch das Innenministerium, Auswirkungen von Etatkürzungen und Wirksamkeit von einstweiligen Verfügungen wegen unsozialen Verhaltens – kurz, über sämtliche politischen und sozialen Themen, mit denen man bei der modernen Polizeiarbeit konfrontiert wird.

Dan brachte jeden Abend Geschichten von der Arbeit mit, die ihm Außenstehende nie abgenommen hätten – schreckliche, traurige, witzige, herzerwärmende Geschichten. Bevor ich meine Stelle als Pressereferentin antrat, stellte ich es mir dramatisch und aufregend vor, im Falle eines Vorfalls schnell in meine Kleider schlüpfen zu müssen, um am Ort des Geschehens im Blitzlichtgewitter zu stehen und wichtige Interviews zu geben.

Manchmal traf das auch ein, aber man musste sich auch mit lästigem statistischem Firlefanz und politischen Rangeleien herumschlagen und jagte ständig irgendwelchen Zielvorgaben hinterher. Am meisten litt ich unter den nicht enden wollenden Meetings.

Normalerweise überlebte ich diese Meetings, indem ich mein Gehirn nur auf Sparflamme laufen ließ und mich an einen angenehmen Ort träumte, den ich dann mit Hintergrundwissen füllen musste. Ich stellte mir zum Beispiel vor, dass ich auf dem Markusplatz in Venedig (den Napoleon den »schönsten Festsaal Europas« genannt hatte) im Schatten des Campanile saß (wo Galilei sein Teleskop vorgeführt und die kopernikanische Ansicht vertreten hatte, dass die Erde sich um die Sonne drehte) und einen Bellini trank (Pfirsichsaft mit Prosecco, erfunden in den Dreißigerjahren in Harry’s Bar, die wiederum von Noel Coward, Truman Capote und Ernest Hemingway frequentiert worden war).

Aber heute hatte ich keinen Sinn für mein kleines Tagtraumspielchen, sondern betete hinter der Fassade meines höflichen Lächelns, dass das Meeting schnell vorbeigehen möge.

Sobald es sich endlich auflöste und die Teilnehmer zum Mittagessen verschwanden, schlüpfte ich, ohne lange zu zögern, ins Kripo-Büro und rief die Suchmaske von Bodies NOMAD-Programm auf. Ich musste schnell sein. Bodie und seine Kollegen waren zu einer Messerstecherei in Splott gerufen worden und würden bestimmt bald zurück sein. Nach der Mittagspause würde sich das Büro mit all jenen Detective Constables füllen, die die Renovierung aus ihren Zimmern vertrieben hatte und die sich darum stritten, wer zuerst an den Computern des Großraumbüros seine Berichte schreiben durfte.

Die Rundumerneuerung des Gebäudes war allerdings so gut wie abgeschlossen. Am Morgen hatte ich das durchgesessene alte Sofa von Sergeant Stan neben den Mülltonnen im Hinterhof stehen sehen, und die letzten Teppichrollen standen neben der Tür zu den Arrestzellen im Untergeschoss bereit. Bald würde Bodie wieder in sein altes, frisch renoviertes Büro ziehen, wo ihn ein nagelneuer Schreibtisch und ein PC mit Flachbildschirm erwarteten. Dann würde es deutlich schwieriger werden, sich an seinen Computer zu schleichen.

Natürlich war immer noch kein Justin Reynolds bei NOMAD registriert, aber in dem Programm sind auch die Kennzeichen der Autos vermerkt, die in Unfälle verwickelt waren. Ich tippte das von Justins Bus ein.

In Porthcawl hatte ich mir aus alter Polizeigewohnheit sein Nummernschild gemerkt, wobei mir mein exzellentes Gedächtnis geholfen hatte. Bei meiner letzten Suche hatte ich weder in der Polizeidatenbank noch bei der Kraftfahrzeugbehörde einen Justin Reynolds gefunden, aber ich wusste, dass der Mann, der sich Justin Reynolds nannte, einen Campingbus fuhr. Wenn ich das Kennzeichen eingab, fand ich vielleicht seinen Bus, und damit auch den Namen des Halters.

Der Computer gab ein Pling von sich. Die Suchmaschine hatte etwas gefunden. Der Eintrag war zwar schon acht Jahre alt, aber immerhin. Mit geübtem Blick überflog ich den Schadensbericht und lauschte dabei mit einem Ohr auf Schritte im Flur. Es sah ganz danach aus, als wäre der Campingbus im Jahr 2002 in einen Unfall mit einem Landrover und einem Postauto verwickelt gewesen. Der Landrover war auf Höhe des Dorfladens von Aberthin, in dem auch die örtliche Poststelle untergebracht war, über die B234 geschlittert, hatte einen Briefkasten gestreift und war schließlich gegen das Postauto geprallt. Der Campingbus, der hinter dem Landrover gefahren war, hatte angehalten, war aber – da niemand verletzt war – noch vor Eintreffen der Polizei weitergefahren.

Laut Protokoll hatte der Postbote sich das Kennzeichen aufgeschrieben, für den Fall, dass er jemanden brauchte, der seine Unschuld bezeugte. Der Campingbus war damals auf einen siebenundfünfzigjährigen Michael Mathry aus Pennard zugelassen gewesen, und eine Überprüfung hatte ergeben, dass er ordnungsgemäß versichert war. Als die Zeugenaussage des Dorfladeninhabers aufgenommen wurde, bestätigte dieser, dass er die Mathrys kannte, weil sie einen Wohnwagen in einem Wohnwagenpark in der Nähe stehen hatten. Ihr Sohn fahre oft mit dem Campingbus dorthin, aber er könne sich nicht erinnern, wie er mit Vornamen hieß.

Da der Fahrer des Landrovers die zulässige Promillegrenze um ein Vielfaches überschritten hatte und der Ladenbesitzer ein unabhängiger Zeuge war, hatte sich die Polizei nie die Mühe gemacht, Mr Mathry zu kontaktieren und um eine Aussage zu bitten.

Hastig suchte ich in der Datenbank der Kraftfahrzeugbehörde nach Michael Mathry. Wie sich herausstellte, war er immer noch der registrierte Halter des Campingbusses. Allerdings waren die Versicherungsdaten schon älter, was daran liegen konnte, dass das System nicht regelmäßig aktualisiert wurde. Manchmal verkauften die Leute aber auch ihre Autos und vergaßen dann, den Besitzerwechsel bei der Versicherung zu melden. Die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob Michael Mathry immer noch der Besitzer war, bestand darin, bei der angegebenen KFZ-Versicherung anzurufen, aber mir fiel kein seriös klingender Vorwand ein.

Andererseits war das vielleicht auch gar nicht nötig. In der Datenbank war die Privatadresse der Mathrys in Pennard angegeben, sogar mit Telefonnummer.

Während ich am Vorabend wie eine Besessene am Fluss entlanggerannt war, hatte ich mir felsenfest vorgenommen, Justins (beziehungsweise Pauls) vollen Namen herauszufinden, um seinen Wissensvorsprung wenigstens ansatzweise einzuholen. Er hatte bereits viel zu viele Informationen über mich und kannte nicht nur meinen vollen Namen, sondern wusste auch, mit wem ich liiert war und wo ich arbeitete, was es ihm ermöglichte, das Tempo und die Bedingungen unseres kleinen Haschmich-Spielchens nach Belieben zu bestimmen. Ich hingegen saß am Telefon und wartete tatenlos auf die nächste Anweisung, die nächste per E-Mail oder SMS übermittelte Drohung, wie ein Fisch, der hilflos am Haken zappelt.

Er baute auf meine Verwirrung, meine Ungläubigkeit, meine Panik. Er baute darauf, dass ich blindlings mitspielte.

Dabei genoss ich doch eigentlich einen Heimvorteil, weil ich tagtäglich mit Informationen, Fakten und Einzelheiten jonglierte und entschied, an wen ich sie weitergab und an wen nicht. Ich war die gute Fee, die Geschenke verteilte und Wünsche erfüllte.

Fakten waren fester Bestandteil meines Alltags und die Basis jeder Pressemitteilung, die ich je herausgegeben hatte. Und jetzt musste ich die Fakten über Justin zusammentragen, angefangen bei seinem echten Namen. Wenn ich erst einmal die Fakten kannte, fand ich vielleicht auch seine Geheimnisse heraus, seine Schwächen.

Ich hatte ihn aufgescheucht, indem ich ihn in Porthcawl aufgespürt hatte, hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht, das war ihm anzusehen gewesen. Dass das Opfer ihn zur Rede stellte, war ganz sicher nicht Teil seines Plans gewesen. Um sein Gleichgewicht noch ein wenig mehr zu stören, brauchte ich ein Druckmittel. Ich musste etwas in der Hand haben, wenn das nächste Video eintraf, denn dass es eintreffen würde, stand fest. Vielleicht gelang es mir, Justin begreiflich zu machen, dass es zu viel Mühe kostete, mich weiter zu erpressen. Wenn ich herausfand, wer er war und wo er wohnte, konnte ich ihn vielleicht in die Flucht schlagen.

Auf diesem Weg war ich schon ein ganzes Stück vorangekommen. Die Mathrys waren die Besitzer des Campingbusses oder waren es zumindest in der Vergangenheit gewesen. Und sie hatten einen Sohn, der den Bus angeblich fuhr.

Während ich über diese Informationen nachdachte, hörte ich am Ende des Flurs die Tür des Treppenhauses zufallen. Gelächter und Stimmen kündigten die Rückkehr der Detectives an. Eilig schloss ich die Suchmasken auf Bodies Computer und hinterließ ihn so, wie ich ihn vorgefunden hatte. Beim Verlassen des Büros stieß ich gegen die dicke Paula. Ich sollte vielleicht klarstellen, dass sie in Wirklichkeit kein bisschen dick, sondern im Gegenteil eine dieser mageren Frauen war, deren Hüften und Schultern ebenso kantig sind wie ihr Charakter. Die dicke Paula wurde von allen so genannt, weil sie ständig über ihr Gewicht klagte und Kuchen und Süßigkeiten grundsätzlich zurückwies, weil sie immer irgendeine Diät machte – Atkins, Weight Watchers, sie hatte sie alle probiert.

Ihr mürrisches Temperament schrieben wir ihrer ständigen Unterzuckerung zu. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie ihre schlechte Laune momentan hauptsächlich an mir auszulassen.

»Ah, da sind Sie ja. Ich habe Sie schon überall gesucht, Jennifer«, verkündete sie theatralisch und versperrte mir wie eine Verkehrspolizistin mit erhobener Hand den Weg.

»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte ich, so höflich ich konnte.

»Ja, ich suche Sie schon seit einer halben Ewigkeit. Der Detective Inspector sucht Sie, aber niemand im ganzen Gebäude scheint zu wissen, wo Sie stecken. Sie müssen von neun bis fünf jederzeit verfügbar und ansprechbar sein, das wissen Sie genau. Das ist nicht das erste Mal, dass wir uns darüber unterhalten. Sie können nicht einfach so von Ihrem Arbeitsplatz verschwinden.«

»Ich war beim Image-Meeting.«

»Das ist schon seit über einer halben Stunde zu Ende.«

»Danach habe ich mir einen Kaffee geholt und bin dann hierhergekommen.«

»Hier ist aber niemand außer Ihnen.«

»Das sehe ich auch. Ich war auf der Suche nach dem Detective Inspector.«

»Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie sich offiziell abmelden müssen, wenn Sie sich von Ihrem Arbeitsplatz entfernen oder an einem Meeting teilnehmen? Wir müssen jederzeit wissen, wo Sie sich aufhalten.«

»Nigel wusste, dass ich beim Meeting war.«

»Vor einer halben Stunde.«

»Dass das hier eine Polizeiwache ist, ist mir klar, aber mir ist nicht klar, dass wir Mitarbeiter hier unter Überwachung stehen«, antwortete ich kühl. »Mein Job ist äußerst hektisch, Paula. Ich renne wie eine Idiotin durchs Gebäude, um persönlich mit Kollegen zu sprechen, die nicht an ihr Telefon gehen. Heute Vormittag war ich beispielsweise in zwei Meetings und zehn verschiedenen Abteilungen. Mittlerweile ist es nach zwei, und ich hatte noch nicht einmal Zeit, ein Sandwich zu essen. Mein Handy ist eingeschaltet. Wenn ich im Gebäude unterwegs bin und Sie mich nicht finden, können Sie mich jederzeit per Handy erreichen, wie jeder andere auch. Oder Sie lassen mich einfach über Lautsprecher ausrufen.«

Ich war selbst überrascht von meiner kleinen Ansprache. Normalerweise lauschte ich nur höflich und versprach, mich zu bessern, wenn die dicke Paula mir eine Standpauke hielt. Meine genervten Grimassen sparte ich mir für hinterher auf. Aber allmählich war ich mit meiner Geduld am Ende.

Auch Paula war sprachlos und schwieg einen Moment. Dann öffnete sie den Mund, vermutlich, um mir erneut die Vorschriften unter die Nase zu reiben, aber zum Glück kamen in diesem Moment Bodie und Detective Inspector Harden um die Ecke.

»Die liebreizende Jen!«, rief Bodie schon von Weitem. »Wir haben dich schon überall gesucht. Wir brauchen deinen Rat bezüglich einer Körperverletzung mit rassistischem Hintergrund.«

Seine kräftige Stimme hallte durch den ganzen Flur, und er strahlte Paula an, obwohl ich genau wusste, dass er sie genauso wenig ausstehen konnte wie ich. »Sie ist unsere absolute Lieblings-Pressereferentin«, erklärte er und zeigte auf mich. »Was würden wir nur ohne dich tun?« Grinsend knuffte er mich in die Seite.

»Dai, dich habe ich gesucht«, sagte ich und benutzte absichtlich nicht seinen Dienstrang.

»Da haben wir uns wohl mal wieder verpasst«, polterte der Detective Inspector.

Paula machte ein Gesicht, als ob sie gerade in eine Zitrone gebissen hätte. Nicht genug damit, dass ich ihr eine ungewohnt aufsässige Antwort gegeben hatte, zu allem Überfluss war ich auch noch mit den meisten hochrangigen Beamten des südlichen Reviers befreundet und per Du, was ihr überhaupt nicht passte. In der Verwaltung duzten sich höchstens die kleineren Angestellten untereinander. Dort galt es wahrscheinlich als Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit, wenn man mal einen Witz machte oder auch nur lächelte.

Paula konnte es nicht ausstehen, wenn geflirtet wurde. Es wurmte sie zutiefst, dass Bodie und seine Kollegen mich »liebreizende Jen« nannten und mir auch sonst viele Komplimente machten. Aber sie hatte auch ein wenig Respekt vor den ruppigen Kripo-Jungs und biss sich daher auf die Zunge.

»Denken Sie bitte an das, was wir besprochen haben, Jennifer«, sagte sie, warf die strähnigen braunen Haare zurück und eilte mit vorgeschobenem Kinn davon wie eine strenge Schulleiterin.

»Was wollte die alte Hexe?«, fragte Bodie und verzog das Gesicht. »Sie war vorhin schon mal hier und hat nach dir gefragt.«

Tatsächlich? Warum schnüffelte sie hier unten herum? Um ein Haar hätte sie mich bei meiner verbotenen Datenbankrecherche erwischt. Ich würde mich vor ihr in Acht nehmen müssen.

»Irgendwie hat sie mich seit Neustem auf dem Kieker«, antwortete ich schulterzuckend.

»Weil du nicht vor ihr die Hacken zusammenschlägst wie eine gehorsame kleine Soldatin? Diese Frau ist ein verdammter Nazi«, schimpfte Bodie und salutierte mit knallenden Fersen, während er gleichzeitig die Finger unter die Nase legte, um ein Hitlerbärtchen zu simulieren. »Wenn sie wirklich dick wäre, wäre sie vielleicht wenigstens eine Ulknudel. Braucht wahrscheinlich mal einen richtigen Mann im Bett, aber ich stelle mich definitiv nicht zur Verfügung. Da könnte ich genauso gut eine Schublade voller Messer und Gabeln bumsen.«

»Marc. Es reicht«, ermahnte ihn der Detective Inspector mit der Missbilligung des Dienstälteren. Dann sagte er zu mir: »Du kommst besser mit rein, Jen, bevor Bodie noch frecher wird und ich ihn an die Dienstaufsicht melden muss.«

Die beiden setzten mich über den »rassistischen« Vorfall in Kenntnis, zu dem ich eine Pressemeldung formulieren sollte. Dafür ist das Gleichbehandlungsgesetz ganz sicher nicht gedacht gewesen, überlegte ich. Ein betrunkener Engländer hatte einen Waliser im Wetherspoons-Pub einen hässlichen Schafficker genannt, woraufhin dieser ihn prompt als nutzlosen englischen Wichser bezeichnet hatte. Daraufhin war eine Prügelei ausgebrochen, die für beide mit einem Krankenhausbesuch geendet hatte. Die Geschichte für die Öffentlichkeit aufzubereiten und einen Zeugenaufruf zu veröffentlichen war eine Sache von zehn Minuten.

Paula machte mir da schon mehr Sorgen. Wenn sie mich tatsächlich an Bodies Computer erwischt hätte, wäre es schwierig geworden, ihr eine plausible Erklärung aufzutischen. Und jetzt, wo ich ihr Paroli geboten hatte, würde sie mich sicher noch genauer im Auge behalten. Ich musste also höllisch aufpassen.

Inzwischen war es drei Uhr nachmittags, und ich holte mir mein Sandwich mit Geflügelsalat aus dem Kühlschrank, bevor ich mich wieder an meinen Schreibtisch setzte. Neben dem Rassismusvorfall musste ich auch noch eine Beschwerde gegen einen unserer Streifenpolizisten an den Detective Inspector weiterleiten und eine Strategie zur »positiven Darstellung der Polizei in der Öffentlichkeit« entwerfen, bevor ich nach Hause gehen konnte.

Serian berichtete mir, dass die dicke Paula wegen meiner angeblichen Abwesenheit vom Arbeitsplatz auf dem Kriegspfad war.

»Sie war dreimal hier und hat nach dir gefragt, du ungezogenes Mädchen!«, krakeelte sie und gab mir einen Klaps auf den Handrücken, wobei sie den missbilligenden Lehrerinnenblick der dicken Paula überzeugend imitierte. Wenn es so weiterging mit Paulas Fixierung auf mich, würden wir uns bald wie Tom und Jerry wilde Verfolgungsjagden durchs Gebäude liefern. Während sie knurrend und grimmig hinter mir herrannte, würde ich um Ecken flitzen, in Büros abtauchen oder mich hinter Getränkeautomaten verstecken.

»Ja, ich bin ihr gerade unten bei der Kripo begegnet«, antwortete ich.

»Ich habe ihr gehörig die Leviten gelesen, weil sie dich ständig schikaniert«, rief Nige quer durchs Zimmer. Was er meinte, war, dass er ihr höflich versichert hatte, wie zuverlässig ich sei und dass ich bestimmt irgendwo im Gebäude einen wichtigen Termin habe. Aber er werde mich gerne daran erinnern, mich das nächste Mal schriftlich abzumelden, wenn ich längere Zeit meinem Arbeitsplatz fernblieb.

»Danke, Nige«, antwortete ich lächelnd.

»Könntest du dich vielleicht ein paar Tage lang besonders gewissenhaft an- und abmelden, damit sie Ruhe gibt? Unnötiger Papierkram, ich weiß, aber diese Büromenschen stehen nun mal drauf.«

»Für dich tue ich doch alles, Nige.«

Er ging dazu über, mir von der neuesten Unverschämtheit eines Reporters von der Sun zu erzählen, der in meiner Abwesenheit angerufen hatte. Ich täuschte Interesse vor und nickte, aber in Wirklichkeit schmiedete ich den Plan, einen kleinen Ausflug nach Pennard zu unternehmen, um dort weitere Nachforschungen über Justin anzustellen.

»Ich habe einen total idyllischen kleinen Ferienort in Griechenland aufgetan«, rief mir Dan entgegen, als ich um sieben Uhr erschöpft durch die Haustür taumelte. Er hatte zwei Tage frei, bevor die nächste Runde Nachtschichten begann, und schien irgendetwas zu kochen. Aus der Küche schlug mir der Geruch von Tomatensoße und Knoblauchbrot entgegen.

»Ach ja, deine Mutter hat angerufen. Wir sollen ihr dringend die genaue Anzahl unserer Hochzeitsgäste durchgeben, damit sie die Sitzordnung festlegen kann. Außerdem hat noch jemand von der Blumenfirma angerufen – so ein tuntig klingender Typ namens Stanley, glaube ich.«

Dan erschien mit einem Geschirrtuch über der Schulter in der Tür. Er hielt einen Löffel in der Hand, von dem eine klumpige rote Soße aufs Parkett tropfte. Ich stellte müde meine Tasche ab und zeigte auf die Bolognesekleckse.

»Oh, Mist«, sagte er und bückte sich, um sie mit dem Geschirrtuch zu entfernen, bevor er mir einen Kuss auf die Wange gab. »Du siehst fertig aus. Harter Tag? In der Kanne ist heißer Tee, ich gieße dir einen ein. Das Essen ist in zehn Minuten fertig.«

Er zog sich in die Küche zurück und klapperte mit Geschirr herum, während ich mir mühsam Jacke und Schuhe auszog. Im Wohnzimmer liefen die Fernsehnachrichten in voller Lautstärke, und ich beeilte mich, sie leiser zu stellen. In meinem Kopf hämmerte es auch so schon genug. Mit der einen Hand sammelte ich zwei benutzte Tassen und eine Snickers-Verpackung ein und mit der anderen Dans achtlos abgestreifte Arbeitsschuhe. Dann ging ich zurück in die Küche.

Saunahitze schlug mir entgegen, und unter der Decke hing träge eine Dunstwolke, die von dem sprudelnden Nudelwasser auf unserem Gasherd aufstieg.

»Mach doch dieses Abzugsding an, Dan«, sagte ich zu seinem Rücken und setzte mich an den Küchentisch, auf dem ein Stapel mit aufgeschlagenen Urlaubskatalogen lag.

»Ist doch kaputt«, antwortete er und öffnete stattdessen ein Fenster. Ich widerstand dem Drang, aufzustehen und die bespritzten Oberflächen sauber zu wischen und die benutzten Küchengeräte einzuweichen. Das mochte Dan nämlich gar nicht. Außerdem war ich zu müde, um mich zu bewegen.

»Guck dir das Hotel ganz oben auf dem Stapel an«, sagte Dan und wies auf die Kataloge. »Der Pool ist genial. Und wenn man sich langweilt, sind die umliegenden Berge ideal zum Wandern. Da ist weit und breit gar nichts, also gibt es auch garantiert keine Touristenhorden oder Bierproleten. Die Flüge gehen ab Bristol.«

Tiefblaues Meer und makellos weiße Sandbuchten schimmerten mir entgegen. Mir war heiß und schwindelig. Seit wir das Hochzeitsdatum festgelegt hatten, sprach Dan über nichts anderes mehr als unsere Flitterwochen. Mehr als die Hälfte der notwendigen Vorbereitungen für die Hochzeit waren noch zu erledigen (Stanley war nicht der Einzige, der mir wegen der Anzahlung und der definitiven Gästezahl hinterhertelefonierte), aber Dan schien nur daran interessiert, die Flitterwochen in trockene Tücher zu bringen. Man hätte meinen sollen, dass es machbar wäre, sich auf ein Reiseziel zu einigen, aber beim Thema Reisen waren Dan und ich schon immer unterschiedlicher Meinung gewesen, und seine Vorschläge für unsere Flitterwochen bildeten keine Ausnahme.

Für ihn bestand ein perfekter Urlaub darin, am Strand oder am Pool herumzuliegen und zwischendurch ein bisschen zu wandern. Er bevorzugte abgelegene Hotels mitten in der Natur, vielleicht mit einer einfachen Taverne oder Bar, in der man abends eine Kleinigkeit essen und ein paar Bierchen trinken konnte. Stichwort Griechenland, Balearen oder Portugal.

Ich hingegen war das komplette Gegenteil. Seit ich als Kind einen Atlas zu Weihnachten bekommen und staunend die Landkarten und Bilder betrachtet hatte, träumte ich davon, das Kolosseum zu erkunden, die Decke der Sixtinischen Kapelle zu bewundern, aus den Brunnen der Alhambra zu trinken, mich mit beiden Füßen unters Brandenburger Tor zu stellen oder auf das Empire State Building zu steigen, dieses Wunderwerk des Art déco.

Ich hatte mir immer gewünscht, diese Träume mit Dan teilen zu können, und mir vorgestellt, wie wir Hand in Hand zwischen antiken Steinen herumkletterten und den Duft von Freesien einatmeten, oder einen Bellini in Venedig oder in irgendeiner anderen geschäftigen europäischen Bar tranken, oder uns unter einem weiten Sternenhimmel küssten.

Aber es sollte nicht sein.

Schon unsere erste gemeinsame Reise war ein großer Misserfolg gewesen. Kurz vor Beginn meines zweiten Studienjahres hatten wir einen Kurzurlaub zusammen unternommen, bei dem ich Dan nach Amsterdam geschleift hatte, in der Überzeugung, dass er nur einen kleinen Anstoß brauchte, um meine kulturbetontere Vorstellung von Urlaub schätzen zu lernen und sich für urbane Sehenswürdigkeiten zu erwärmen. Die Flüge waren billig gewesen, und Amsterdam war ein absolutes Pflichtziel für jeden Studenten. Aber das Einzige, was Dan dort wirklich gefallen hatte, war das Anne-Frank-Haus gewesen, vermutlich weil es mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatte.

Er hatte sich schon unwohl gefühlt, wenn wir auch nur in die Nähe eines Coffeeshops gekommen waren und Gefahr liefen, Cannabiswolken einzuatmen. Das fand ich noch verständlich, schließlich stand er damals kurz vor der Aufnahmeprüfung zum Polizeidienst. Er hatte die irrationale Sorge, dass er passiv zu viel Gras einatmete und den Drogentest nicht bestand. Außerdem fand er, dass in den Coffeeshops zu viele Herumtreiber und Faulenzer herumhingen.

Die Wörter »Herumtreiber« und »Faulenzer« waren für Dan auch damals schon die schlimmsten Beleidigungen, und wenn er jemanden ein »stinkfaules Arschloch« nannte, wusste man, dass seine Verachtung ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Er weigerte sich strikt, durch das Rotlichtviertel zu gehen, was ich als Frau nicht allzu schlimm fand.

Anfangs glaubte ich, Amsterdam sei einfach die falsche Stadt für ihn gewesen, aber Dan lehnte auch die von mir vorgeschlagenen Reisen nach Kopenhagen (»zu kalt und angeblich längst nicht so reizvoll, wie alle sagen«), Prag (»zu viele Junggesellenabschiede und Taschendiebe«), Paris (»zu klischeemäßig«) und Rom (»überteuerte, schmutzige und von Graffiti verunstaltete Touristenfalle«) ab.

Mehrere Valentinstage, Geburtstage und Jahrestage vergingen, ohne dass er mich auch nur ein Mal mit einem romantischen Kurztrip überraschte, wie es andere Männer oft mit ihren Freundinnen taten. Während meine Kommilitonen im Sommer nach meinem zweiten Studienjahr ihre Rucksäcke packten, um an exotische Orte zu reisen, verbrachten Dan und ich zehn Tage in Portugal – an der Algarve, um genau zu sein. Das Hotel, das Dan ausgesucht hatte, war wunderschön und geschmackvoll und lag abgelegen an einem hübschen Strand. Dan vertrieb sich die Zeit mit Windsurfen und Schnorcheln, und wir schwammen täglich im Meer. Ich las viel und bewunderte die Umgebung, aber ich langweilte mich schon nach kurzer Zeit und fühlte mich einsam und zappelig.

Bereits auf dem Rückflug schlug Dan die Balearen als Reiseziel für den nächsten Sommer vor.

Am Ende meines dritten und letzten Studienjahres, als er gerade seine Polizeiausbildung beendet hatte und darauf drängte, ein Haus zu kaufen, war ich fest entschlossen, an einen interessanten Ort zu reisen, und wenn ich es allein tun musste. In einem seltenen Anfall von Aufsässigkeit, der meine Eltern – und, wenn ich ehrlich bin, auch mich selbst – schockierte, zettelte ich eine Rebellion an und meldete mich als Betreuerin für ein Ferienlager in den Vereinigten Staaten.

Zuerst würde ich neun Wochen in einem Camp in Massachusetts verbringen, wo es vor Waschbären und Streifenhörnchen nur so wimmelte, und dort Ferienkinder hüten. Aber damit nicht genug: Im Anschluss würde ich an einer organisierten Campingreise durch New England teilnehmen, bei der wir von Camp zu Camp zogen.

Dan hatte mit Überraschung und Verärgerung reagiert, als ich ihm die Anmeldeformulare gezeigt hatte, und etwas vom Unabhängigkeitskrieg, der Boston Tea Party, den Hexenprozessen von Salem und dem weißen Hai gemurmelt. Als ich tatsächlich angenommen wurde, war seine Verärgerung in offene Feindseligkeit umgeschlagen.

»Das ist nichts anderes als Sklavenarbeit, und das weißt du auch. In solchen Ferienlagern wimmelt es nur so von Gammlern. Ich bin mir sicher, dass es dir dort nicht gefällt«, hatte er erklärt.

Er fand, dass es mir überhaupt nicht ähnlich sah, so abenteuerlustig zu sein und nicht auf seine vernünftigen Argumente zu hören. Und das, obwohl ich Kinder eigentlich überhaupt nicht mögen würde und das Ganze überhaupt viel zu gefährlich sei.

»Wie soll ich dich denn erreichen, wenn du jeden Tag woanders bist?«, fragte er immer wieder. Damals waren Handys noch nicht in jedermanns Benutzung, aber ich versprach ihm, von jedem Münztelefon anzurufen, das mir unterwegs begegnete. Außerdem gab ich ihm die Adressen sämtlicher Camps, in denen wir uns aufhalten würden.

»Findest du das nicht ein bisschen sehr studentenmäßig? Und teuer wird es bestimmt auch«, warnte er mich, als er merkte, dass ich keineswegs vorhatte, einen Rückzieher zu machen und wie gewöhnlich einzulenken.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir stattdessen lieber unser Projekt »Hauskauf« vorangetrieben und uns »ein schönes gemeinsames Nest« gesucht, damit er anschließend unter Hochdruck weiter an seiner Karriere arbeiten konnte.

Aber ich war erst einundzwanzig.

Bewaffnet mit meinem Amerikaführer, einigen Klassikern der amerikanischen Literatur (einem Gedichtband von Robert Frost und Der scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne) und einem Rucksack voller Shorts, T-Shirts und Sonnencreme stieg ich schließlich ins Flugzeug. Vier Monate unter dem blauen Himmel von New England, zwischen Bäumen und plätschernden Badeseen, stellten sich als anstrengende, aber auch unerwartet beglückende Erfahrung heraus.

Es stimmte zwar, dass ich ständig erschöpft war und mir die Kinder mit ihrer ungestümen Anhänglichkeit manchmal auf die Nerven gingen. Fast alle stammten aus der schwarzen oder hispanischen Unterschicht und standen auf Gangsta Rap und begrüßten sich mit Ghettofaust. Alle waren unter zwölf und nahmen an Bostoner Sozialprojekten teil. Verständlicherweise fanden sie ihre sehr weißen, sehr anständigen britischen Betreuer ziemlich eigenartig.

Auch meine Kollegen gingen mir auf die Nerven, denn die meisten waren stinkreich und vagabundierten mit Mamas und Papas Kreditkarte durch die Weltgeschichte.

Ich fragte mich tatsächlich die meiste Zeit, was ich da eigentlich tat, fand es aber trotzdem irgendwie schön. An unseren freien Wochenenden verschanzten wir Betreuer uns in der Personalhütte und tranken dünnes, warmes Budweiser oder Whiskey Cola – was natürlich gegen die Campregeln verstieß. Wir flirteten unbeholfen und tanzten zu allem, was das scheppernde Radio hergab. Einmal nahm ich sogar einen Zug von einem Joint, von dem ich gerne noch mehr geraucht hätte, weil ich wusste, dass Dan sich darüber geärgert hätte, aber ich mochte den Geschmack nicht.

Im Camp gab es einen gutmütigen, bärtigen Exhippie namens Joe, der die Kinder mit einem alten Schulbus herumfuhr. Er hatte eine Schwäche für mich und erzählte mir Geschichten aus den Sechzigern und Siebzigern (sofern er sich noch daran erinnerte). Er besaß ein Tattoo-Studio im nahe gelegenen Örtchen Orange, direkt neben der weißen Holzschindelkirche und dem Porky-Tum-Pizzaservice, und bot an, mir eine Glockenblume auf die Schulter zu tätowieren, weil die genauso irre blau ist wie deine Augen, Mann!. In den langen Nächten sahen wir den Glühwürmchen zu und hörten die Doors.

Wie ich diese surreale, märchenhafte Welt liebte, dieses Land, in dem alles mit einer Glasur aus besonders kräftigen, bunten Farben überzogen schien, in dem es Extraportionen Pommes frites gab und man Kaffee nachgeschenkt bekam, so viel man wollte.

Ich vermisste Dan, aber nicht so sehr, wie ich erwartet hatte. Ihm fiel die Trennung natürlich schwerer, weil er zu Hause saß und arbeitete und seine Probezeit bei der Polizei zu Ende absolvierte, weil er ohne mich seinen üblichen Alltag bewältigen musste.

Die Campingreise führte uns zuerst nach Boston, dann in die Städte und Dörfer von Vermont und Maine und schließlich wieder zurück nach Massachusetts. Am Ende schlugen wir unser Lager am Strand von Cape Cod auf, braun gebrannt und staubig von der Reise, bereit, die Grills anzuzünden und uns auf das Essen zu stürzen. Hier, am sich ständig verändernden Saum des tiefblauen Meeres, am Rand der einst Neuen Welt, veränderte sich auch in mir etwas.

Ich atmete tief ein, umgeben von einem Globus aus Meer und Himmel und kleinen weißen Holzhäusern, aus schneeweißem Leuchtturm und Möwen, die über mir im Wind tanzten, aus Ewigkeit, die sich um mich herum in hundert verschiedenen Blau- und Grautönen erstreckte.

Die steifer werdende Brise brachte auch das Wispern einer köstlichen Ungewissheit mit sich, die mich nicht mehr nervös machte, vor der ich keine Angst mehr hatte. Der Wind schmeckte nach Salz und Seetang, ein bisschen wie Blut. Ich hatte das Gefühl, meine Füße könnten sich jeden Moment aus dem feuchten Sand lösen, weil mein Körper mit unsichtbaren Schwingen gen Himmel flog, hinein in die Abendsonne.

In diesem Moment war die Versuchung groß, bei meinen Reisebegleitern zu bleiben und für mehrere Wochen oder sogar Jahre, vielleicht für Jahrzehnte, vor allem davonzulaufen. Ich konnte in den Weiten Amerikas untertauchen, konnte verschwinden wie die Leute, die manchmal im Fernsehen gesucht werden, konnte von Stadt zu Stadt ziehen und in Bars oder Imbisslokalen arbeiten, Menschen kennenlernen, die ich sonst nie getroffen hätte, und mich auf feuchtfröhliche, abenteuerliche Road Trips begeben, auf den Spuren Jack Kerouacs. Das alles natürlich in dem Wissen, dass ich jederzeit zurückkehren und wieder ein bürgerliches Leben führen konnte, wenn die Sehnsucht nach einem festen Wohnort und einer sicheren Liebe zu groß wurde.

Aber dann holte mich der Gedanke an Dan ein und ich wurde jäh in die Realität zurückkatapultiert. Bereits hier, am Strand von Cape Cod, hörte ich das gleichförmige Ticken unserer gemeinsamen Tage, das am Ende meiner rasant kürzer werdenden Auszeit auf mich wartete. Von jetzt an würde mich meine Reise nur noch zurück nach Boston und dann die 12000 Kilometer zurück nach Großbritannien führen, zurück ins Vergessen. Als ich dort am langsam anschwellenden Meer stand, in dem sich die Lichtreflexe der surrenden und vibrierenden Sonne von Massachusetts spiegelten, stieg zum ersten Mal Groll in mir auf, Groll gegen den Mann, den ich eigentlich liebte.

Während ich an dem kleinen silbernen Herzanhänger herumfummelte, den mir Dan vor meiner Abreise geschenkt hatte, Dan, der so sicher war, dass ich unverändert und unverdorben zu ihm zurückkommen würde, wusste ich tief in meinem Inneren, dass ich nicht weglaufen konnte. Ich brachte nicht den Mut auf, ihm zu sagen, dass ich ihn nicht liebte. Zumal es nicht stimmte. Ich liebte ihn. Zumindest was das betraf, hatte er recht.

Nachdem ich seine Umarmungen und Küsse am Flughafen hinter mich gebracht hatte, fuhren Dan und ich in seinem kleinen roten Auto nach Hause, und in mir brannte das Gefühl, etwas verloren zu haben. Ich hatte einen Teil von mir an jenem Strand zurückgelassen, der bereits in weite Ferne gerückt war, hatte ihn gegen einen Stein eingetauscht, der unterhalb meines Herzens in meiner Brust lag und mich erdete und an meinem Platz hielt. Mit diesem Stein gingen Erinnerungen an Licht und Verheißung einher, die zwar immer mehr verblassten, aber noch mindestens zehn Jahre lang die Frage aufwerfen würden: »Was wäre gewesen, wenn …?«

Ich war wieder zu Hause, und wir sahen uns Häuser an, fanden den »Übergangsjob« bei der Polizei für mich, und damit war das Ende jedes »studentenmäßigen« – also unverantwortlichen – Verhaltens gekommen.

Die Zeit der Vernunft war angebrochen.

Ich schlug den Weg des geringsten Widerstands ein und tauschte meinen Jack Daniel’s gegen Wein ein, erklärte mich zu Urlaubsreisen bereit, die Dan Spaß machten, und beschwerte mich nicht mehr, wenn ich lieber einen anderen Radiosender hören wollte. Diese kleinen, ja geradezu winzigen Zugeständnisse kamen mir nicht wie ein Opfer vor, sie passierten einfach, ein ständiges Tröpfeln in das Gefäß der täglichen Kompromisse. Was ich eigentlich dachte, behielt ich für mich. Was brachte es, sich über etwas aufzuregen, was sich ohnehin nie ändern würde?

Zumindest machten mir meine Zugeständnisse nicht viel aus, solange ich zu wissen glaubte, wer Dan war, solange er der solide, zuverlässige Partner war, der wie ein Kompass immer in dieselbe Richtung zeigte. Solange ich noch wusste, wo wir standen und wofür wir standen und dass es weit schlimmere Orte gab als den an seiner Seite.

Und dann kam dieser Anruf – von dieser Frau. Sophie. Und plötzlich war Dan nicht mehr der Mann, für den ich ihn bis dato gehalten hatte. Er war nicht mehr der standhafte und verlässliche Dan – ehrlich und wahrhaftig, ein Fels in der Brandung. Der Boden unter meinen Füßen hatte angefangen zu beben.

Durch den Riss, der in meinem Herzen entstand, sprangen alle meine einstigen Hoffnungen und Wünsche heraus, die ich tief in mir verschlossen hatte, und allem voran stürmten die Fragen auf mich ein: Warum heiraten wir überhaupt? Warum sind wir ein Paar? Liebe ich ihn überhaupt genug? Muss ich mich damit zufriedengeben?

Während diese Fragen wie unheilverkündende Geier über meinem Kopf gekreist hatten, war ich ins Auto gestiegen und mit meinem Robert-Frost-Gedichtband zum Watch-House gefahren. Ich erinnerte mich noch genau an den Geruch nach Holzfeuer und salziger Meeresluft, der mich dort erwartet hatte, an die schiefen kleinen Fenster, hinter denen das Kaminfeuer leuchtete.

Dan sagte etwas über Zakynthos und schreckte mich damit aus meinen dunklen Gedanken. Während er die Tagliatelle abgoss und sie dann nach viel zu kurzer Abtropfzeit auf die Teller häufte, schwärmte er von Lagunen und Parasailing.

Ich starrte auf den Katalog und die paradiesischen Fotos vor mir auf dem Tisch. Er wartete auf eine Antwort von mir, eine Meinung. Griechenland ist vielleicht ganz okay, wenn wir uns den richtigen Ort aussuchen, dachte ich. In Griechenland gibt es Tempel, dieses Land war gut genug für Homer und Virgil.

»Müssen wir das jetzt entscheiden, Dan?«, seufzte ich, während mich ein ganzes Zeitalter antiker Erschöpfung auf den Stuhl niederdrückte. »Ich bin heute einfach zu müde.«

Unbeirrt nahm er den Katalog und zeigte auf das moderne Fünfsternehotel.

»Natürlich musst du dich nicht jetzt gleich entscheiden, Liebling«, beschwichtigte er, »aber guck es dir wenigstens mal an. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit für die Planung, zumal immer noch so viele Entscheidungen für die Hochzeit ausstehen. Deine Mutter klang wirklich gestresst am Telefon.«

»Ach, sie klang gestresst?«, ging ich sofort in die Defensive.

»Ich meinte doch nur, dass wir irgendwann mal eine Entscheidung treffen müssen. Wir haben schon Februar.«

»Das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Aber mein Job ist genauso anstrengend wie deiner, und ich habe wirklich keine Zeit, mich ständig um diesen ganzen Hochzeitskram zu kümmern.«

Er stellte mir mit verletztem Gesicht einen Teller Nudeln vor die Nase. Ich kam mir sofort wie eine furchtbare Zicke vor. Dieser enttäuschte Ausdruck in seinen Augen gefiel mir gar nicht. Es war nicht seine Schuld, dass ich mich nicht auf die Hochzeit freute, sondern ganz allein meine. Er wusste, was er wollte, im Gegensatz zu mir.

»Danke, dass du gekocht hast, Dan«, sagte ich. »Das war wirklich eine schöne Überraschung.« Ich probierte eine Gabel voll Nudeln und stellte überrascht fest, dass sie gut schmeckten. »Echt lecker.«

»Ich dachte, ich nehme dir das heute ab, damit du dich auch mal einfach an den Tisch setzen kannst«, murmelte er und stocherte niedergeschlagen in seinem Teller herum.

Ich hatte es mal wieder geschafft. Ich hatte seine Vision von häuslicher Idylle und gemeinsamem Glück zerstört, seinen Plan, mich mit einem Abendessen zu überraschen. Dabei hatte er es nur gut gemeint.

»Ich schaue mir die Kataloge dieses Wochenende an, versprochen, Schatz. Und meine Mutter rufe ich gleich nach dem Essen zurück.«

»Ich liebe dich, Jen«, sagte er.

»Ich liebe dich auch«, antwortete ich.

»Morgen habe ich frei. Ich könnte zu dir auf die Wache kommen und dich zum Mittagessen abholen. Du gönnst dir sonst nie eine richtige Mittagspause, ich weiß, aber die können mal eine halbe Stunde ohne dich zurechtkommen.«

»Tut mir leid, Süßer, aber morgen schaffe ich es nicht, ich ersticke in Arbeit«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber das machen wir ein anderes Mal, versprochen.«

Dabei tanzte vor meinem inneren Auge die Landkarte von Westwales und Gower, die in meiner Handtasche steckte.