7Max strahlte. »Diesem Himmel habe ich die Scheiße aus dem Leib geprügelt.«
»Hoffentlich im wahrsten Sinne des Wortes.« Alicia plazierte ihren Allerwertesten auf einer Laborbank, der einzigen Stelle im Observatorium, wo man noch sitzen konnte, seit sie und Zak weitere Detektoren aufgestellt hatten. Sie bekamen Unmengen von Daten herein, von Sternen, die aus roter Glut geboren wurden, von riesigen, brennenden Gaswolken, die eine majestätische Gavotte zu tanzen schienen, von kurzen Lichtblitzen in unendlichen, schwarzen Weiten – alles aus der Kugel, die weiterhin an Masse verlor. Zak und Alicia arbeiteten inzwischen je sechzehn Stunden täglich mit acht Stunden Überlappung, um auch wirklich jeden Augenblick der Entwicklung des Cosm auf die übereinandergestapelten Festplatten in den großen Speicherzylindern bannen zu können.
Max nickte grinsend. »Seminarschlachten, ein richtiger Grabenkrieg.«
Wenn es etwas gab, was Alicia noch mehr verabscheute als Sportvergleiche, dann waren es Kriegsmetaphern. »Wie schlimm?«
»Er ist in allen großen Institutionen – MIT, Harvard, Berkeley, Princeton – aufgetreten, und ich war ständig unmittelbar hinter ihm. Das hatte ich so eingerichtet, um seine Argumente sofort widerlegen zu können.«
»Großartig. Und …?« strahlte Alicia. Sie war unglaublich froh gewesen, ihn endlich wieder in der Labortür stehen zu sehen. Es war eine einsame Woche gewesen.
Auf seine ruhige Art platzte Max fast vor Stolz. »Die Sache läuft gut für mich. Jetzt ziehen sämtliche Größen der Teilchenphysik in die Schlacht. Warten Sie ab – in einem Monat gibt es über dieses Phänomen mehr Aufsätze, als Sie und ich jemals lesen können.«
»Mir wäre schon ein einziger zuviel«, seufzte sie.
»Auch Sie werden die Werbetrommel rühren müssen«, sagte er leise.
»Wie bitte?«
»Dieser Lutricia von CERN läuft überall herum und macht Ihre Meßverfahren schlecht.«
»Was!«
»Schon gut, schon gut. Es ist nun einmal so. Einerseits treibt ihn sein persönlicher Ehrgeiz – er ist berüchtigt dafür, daß er über Leichen geht –, aber auch die Rivalität zwischen CERN und den Vereinigten Staaten spielt eine Rolle.«
In den Naturwissenschaften konnte sich kein Klassensystem auf Dauer halten, solange es keine etablierte und anerkannte Oberschicht gab. Die Teilchenphysiker hatten sich so lange für die natürliche Elite, die unumstrittene Priesterkaste gehalten, daß sie zutiefst schockiert waren, als sie plötzlich mit dem gemeinen Pöbel um Forschungsgelder konkurrieren mußten. Das verdarb die guten Sitten.
»Er behauptet ganz offen, ich hätte unrecht?«
Max nahm ihre Hand. Bei Alicia erzeugte die Berührung ein wohliges Kribbeln und zugleich beklemmende Angstgefühle. »Er unterstellt, Sie hätten vielleicht der Publicity zuliebe ein bißchen manipuliert …«
»Was?«
Sie zwang sich, bis zehn zu zählen, ein uralter Trick den ihr Vater ihr beigebracht hatte, als sie acht Jahre alt war, der aber immer noch funktionierte. Wer als Wissenschaftler integer bleiben wollte, hatte sich an gewisse Regeln zu halten. So durfte er seinen Geldgebern, was die zu erwartenden Ergebnisse seiner Forschungen anging, nicht das Blaue vom Himmel versprechen, er mußte auch Daten veröffentlichen, die seiner Lieblingstheorie widersprachen, und er war verpflichtet, der Regierung Ratschläge zu geben, die sie vielleicht gar nicht hören wollte – ganz alltägliche Dinge. Mit am wichtigsten war, sich selbst sehr kritisch zu fragen, ob man sein Experiment so angelegt hatte, daß es auch wirklich zu eindeutigen Ergebnissen führte. Den Zweifel an den Anfang stellen, nicht den Beweis, lautete die Maxime. Ehrlichkeit gegen sich selbst lernte man nicht im Studium; diese Eigenschaft hatte ein künftiger Physiker sozusagen durch Osmose in sich aufzunehmen. Aber so etwas …
»Dieser Drecks…«
»Er macht es sehr dezent. Hier und da eine Andeutung, ein Hinweis auf Ihre Medienpräsenz, das ist alles.«
Sie stöhnte. »Das kann er nicht machen!«
»Er macht es doch schon.«
»Ich arbeite ehrlich, mit äußerster Gewissenhaftigkeit …«
»Ich weiß das ja. Aber Sie müssen schon selbst in den Ring treten und sich mit ihm schlagen. Und nicht nur mit ihm. Es gibt eine Menge Skeptiker.«
»Warum?«
»Nun, was Sie behaupten, ist mehr als phantastisch. Und Sie haben bisher niemandem erlaubt, hierherzukommen und sich das Ding anzusehen.«
»Wir waren zu beschäftigt …«
»Natürlich.« Beschwichtigende Handbewegung, aufmunterndes Lächeln. »Aber die Leute fragen sich, warum Sie sich auf ihrem Hügel vergraben wie ein Einsiedler.«
»Die Sicherheitsabteilung …«
»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem, es macht keinen guten Eindruck.«
»Ich kann hier drin keine Besucher gebrauchen.« Sie wies mit weitausholender Geste auf die überfüllte Observatoriumskuppel. »Sehen Sie sich um. Wie viele Leute passen Ihrer Meinung nach in diesen Raum?«
»Sie haben natürlich recht. Aber …«
»Diplomatie ist nun einmal nicht meine Stärke.«
»Äh … richtig.«
»Verdammt, Sie hätten mir wenigstens widersprechen können.«
Sie mußten beide lachen, und das löste die Spannung.
Er hatte natürlich recht. Sie war nicht gerade berühmt für ihre taktvolle Zurückhaltung. Wie hatte ihre Therapeutin noch gesagt? »Ich würde Sie nicht unbedingt als klassischen Monomanen bezeichnen, aber …«
»Und was soll ich nun mit diesem CERN-Typ anfangen?«
Nur starke, lebenstüchtige Persönlichkeiten fühlten sich zur physikalischen Grundlagenforschung hingezogen; sanftere Gemüter, die sich leicht verunsichern ließen, gaben bald auf. Aber starke Persönlichkeiten betrachteten die Physik natürlich mit anderen Augen und hatten keine Hemmungen, das auch auszusprechen. In fünfzig Jahren stetig härter werdenden Konkurrenzkampfes – insbesondere seit Beginn der Etatkürzungen – hatte die Physikergemeinde eine Grunderfahrung gemacht: wenn das Essen knapp wird, verwahrlosen die Tischmanieren. Die Teilchenphysiker hatten eineeigene Methode entwickelt, Konflikte zwischen zwei starken Persönlichkeiten auf friedlichem Wege beizulegen: das Rededuell.
Bevor man in ein solches Duell ging, durchsuchte man die Bibliotheken, spürte alles auf, was zu dem betreffenden Thema je geschrieben worden war, und bog es so zurecht, daß es die eigene Theorie stützte. Man bereitete Folien und Dias vor, natürlich keine altmodischen Tortengraphiken und Flußdiagramme, sondern 3-D Explosionszeichnungen und Überlagerungsdiagramme. Und man übte seinen Vortrag sorgfältig ein. In der Diskussion zeigte man dem Publikum Aspekte auf, die es bisher übersehen hatte, und ging dabei bis ins letzte Detail. Auf gehässige Fragen kam man schnell und entschieden zurück. Zweifler machte man nach Möglichkeit lächerlich, ohne sie jedoch in irgendeiner Weise zu verspotten. Man blieb stets nüchtern und sachlich und vermied jedes Pathos. Ein routinierter Referent schaffte es, sein Publikum auch mit einer völlig objektiven und mit todernster Miene vorgebrachten Antwort zum Lachen zu bringen.
Und wenn man lange genug geprobt hatte, dann ging man mit seinem Stück auf Tournee und führte es einen Monat lang immer und immer wieder auf.
Alicia seufzte. »Einer Großkampagne fühle ich mich nicht gewachsen.«
»Sie müssen aber etwas unternehmen.«
»Die Wahrheit drängt von selbst ans Licht. Wir sammeln weiter unsere Daten.«
»Dann tun Sie wenigstens etwas, um Sympathien zu gewinnen.«
»Was?«
»Hm … ich denke darüber nach.«
»Max, die Sache gleitet mir aus den Händen.«
»Mir ebenso. Wir stecken beide mit drin.« Er stand auf, schob sich seitwärts an den hohen Metallregalen mit den elektronischen Geräten vorbei und wäre fast über die Kabel gestolpert. Dann griff er in die Öffnung des U-Magneten und berührte die Kugel, die hinter all den Lichtleitern und den anderen Diagnostiken kaum noch zu sehen war. »Letztlich dreht sich doch alles nur um dieses verrückte, aber hochinteressante Objekt. Und ich habe noch weiter darüber nachgedacht …«
Alicia lehnte sich bereitwillig zurück, um ihm zuzuhören. In seiner Nähe war ihr warm ums Herz geworden, nun entspannte sie sich und genoß ganz einfach das Zusammensein. Seine klassisch geschnittene Hose saß wie angegossen und wies nicht einmal die ewigen Knitterfalten, das Markenzeichen des durchschnittlichen Naturwissenschaftlers auf. Für einen Theoretiker war der Mann gar nicht so übel.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie begriff, worauf er hinauswollte. »Der Cosm ist also nicht nur eine interessante ›Laune der Natur‹ – freut mich zu hören. Aber was fangen wir nun damit an?«
»Wir benützen ihn nicht etwa als Fluchtweg in ein anderes Universum, falls Sie das befürchtet hatten.«
»Gut. Ich dachte schon, Sie arbeiten für den National Enquirer.«
»Wie bitte?«
Max hatte die Blitzaktion des vierzehntägig erscheinenden Schmierblatts gar nicht mitbekommen. Als Alicia ihn nun aufklärte, schnitt er eine Grimasse. »Nein, so gewinnträchtig ist mein Vorschlag nicht.«
»Freut mich zu hören.«
»Ich meine nur, wir könnten durch die Schwächen des Standardmodells zu einem besseren Modell der Quantengravitation kommen.«
»Auf den Spuren der ›Theorie für alles‹?«
»Erfaßt. Zum Beispiel dürfte der Zerfall des Protons nach dem Standardmodell gar nicht stattfinden. Aber der Cosm ist nicht nur eine Spur – er ist der Fuß selbst, ein Artefakt der Quantengravitation hier in IhremLabor, so groß, daß man es in die Hand nehmen kann. Wir holen die physikalische Grundlagenforschung in menschliche Dimensionen zurück!«
»Bravo.« Sie freute sich über seine Begeisterung, und natürlich hatte er auch recht. Die glänzende Kugel war ein handfester Beweis für ein Universum, das immer noch Geheimnisse von ungeheurer Tragweite in sich barg, ein Beweis, der sich nicht in unendlich kleinen, für kein Auge sichtbaren Teilchen versteckte, sondern einem direkt ins Gesicht starrte.
Für die Theoretiker war die Natur ein Buch, in dem man lesen konnte. Wenn die Bibel Gottes Wort war, dann hatte er in der Natur die Beispiele dazu ausgearbeitet. Natur, das war Information im Sonntagskleid mit einem wunderschönen, mathematischen Spitzenkrägelchen. Aber unter den Händen der modernen Wissenschaft war die Realität in viele, unendlich kleine Scherben zerfallen. Wo blieb bei all den abstrusen, mathematischen Symmetrien und den Schwärmen unsichtbarer Elementarteilchen die Wirklichkeit zum Anfassen?
»Bisher hatten wir nur eine abstrakte, und mikroskopisch kleine Welt«, stieß Max mit unerwarteter Heftigkeit hervor. »Doch jetzt haben wir den Cosm.«