4»Dad? Ich bin in Schwierigkeiten.« Gern hatte sie nicht zum Telefon gegriffen, aber Jill hatte sie gnadenlos unter Druck gesetzt.
»Ich weiß, Honey.« Er sprach langsam und bedächtig, seine Stimme war tiefer, als sie sie in Erinnerung hatte. »Ein Freund von mir hat den Artikel im Register gesehen und ihn mir zugefaxt.«
»Wenn nur die Universität den Zeitungen nichts gesagt hätte.«
»Ein Artikel mittlerer Länge auf der ersten Seite der Hauptstadtnachrichten, sehr sachlich und ganz ohne Spekulationen bezüglich der Todesursache. Ich finde, du bist noch glimpflich davongekommen.«
Das spontane, fachmännische Urteil war beruhigend. »Wir kennen die Todesursache tatsächlich nicht, Dad«, sagte sie vorsichtig.
»Aber ihr habt gewisse Vermutungen.« Seine Stimmewar höher geworden, sein Tonfall suchte sie aus der Reserve zu locken.
»Könntest du nicht mal runterkommen, vielleicht zum Essen?« Schluß mit dem Versteckspiel. Sie hatte ihn schließlich schon öfter und mit weit harmloseren Problemen aus heiterem Himmel überfallen.
»Wie wär’s mit heute abend?«
»Geht das denn?« Das kam aus tiefstem Herzen.
»Ich teile dir meine Ankunftszeit vom San Jose Airport aus per E-Mail mit.«
Sie hatte ihre Sprechstunde für Physik 3-B abgehalten, mit Max im Labor diskutiert, die Fragen des Sicherheitsdiensts beantwortet und so den Tag irgendwie herumgebracht. Kurz vor Einsetzen des Stoßverkehrs fuhr sie zum John Wayne Airport, um Dad abzuholen. Als er, munter seine Schultertasche schwingend, in einem flotten, grauen Anzug, der gut zu seinem braunen Gesicht paßte, aus der Ankunftshalle kam, erschien er ihr noch magerer als sonst. Die Krawatte, die er trug, hatte sie ihm vor Jahren einmal zum Geburtstag geschenkt. Ob er sie wohl absichtlich ausgesucht hatte, um ihr eine Freude zu machen? Sie würde ihn nicht danach fragen.
»Gut siehst du aus!« Er stieg auf der Beifahrerseite ein, grinste sie an und drückte ihr einen Kuß auf die Wange. Er artikulierte so überdeutlich, daß es manchmal affektiert klang. Früher hatte er gern gebildete Schwarze imitiert, die sich im Straßenslang versuchten, ›mutha‹ für Mutter sagten, und im Stil von ›livin’ large, girl‹, ›willst hoch hinaus, Kleine‹ oder ›What dey gone set bail at?‹ ›Wie hoch is’n die Kaution?‹ daherquatschten. Er war ganz anders, beherrscht, akkurat, stolz auf seinen Ruf. Als unreifes Collegegirl hatte sie noch gehofft, der Ruhm ihres Vaters würde auf sie abfärben und sozusagen die Tochter mitvergolden. Jetzt hätte sie sich eher etwas von seiner Gelassenheit gewünscht.
Zunächst drehte sich das Gespräch um Familienangelegenheiten, wer sich wo aufhielt und was tat. Sie hattelängst begriffen, daß ihr anspruchsvoller Vater den Zweig der Verwandtschaft, der nicht freiwillig lernte, sondern immer erst getreten werden mußte, als elendes Pack verachtete und mit Nichtachtung bestrafte. Der respektable Teil der Familie wurde dagegen mit lebhafter Aufmerksamkeit beobachtet und lieferte Stoff für unzählige Geschichten. Wer diesem Kreis angehörte, blieb erst dann von der Schule zu Hause, wenn ihm das Blut schon aus Augen und Ohren lief, achtete auf dezente Kleidung und eine tadellose Frisur und verlor die Siegestrophäe niemals aus den Augen – denn er war zum Sieger geboren.
Auf der Fahrt durch den Laguna Canyon erkundigte sie sich vorsichtig nach Maria, mit der er seit zwei Jahren verheiratet war, und bekam zur Antwort: »Es ist sicher besser, wenn ihr euch noch ein weiteres Jahr nicht seht.«
»Aber es sind doch schon zwei Jahre«, wandte sie ein. Er gab sich überrascht, und das verriet ihr, daß alles beim alten geblieben war. Sie war mit Maria schon bei der ersten Begegnung aneinandergeraten, und zu einer Aussöhnung war es nie gekommen. Maria konnte es nicht lassen, die Welt verbal so zurechtzustutzen, daß sie ihren dezidierten Wertvorstellungen entsprach; konkret bedeutete das, daß sie sehr genau – für Alicias Geschmack zu genau – wußte, wie eine schwarze Frau zu sein hatte.
»Tja, Aleix, so etwas braucht seine Zeit«, sagte er betont ruhig. Sie hatte das afrikanische Aleix abgelegt und sich Alicia genannt, als mit dem College ein neuer Lebensabschnitt für sie begann. Als sie geboren wurde, ging der Trend gerade zur Rückbesinnung auf die schwarzen Wurzeln mit allem, was dazugehörte, doch davon waren ihre Eltern schon bald wieder abgekommen. Ihr Vater hatte sich im Laufe seiner politischen Entwicklung immer weiter von dem entfernt, was er in einer seiner Kolumnen den ›Narzißmus der kleinen Unterschiede‹ nannte. So hatte es auch seine Zustimmung gefunden, daß sie das afrikaverherrlichende Aleix aufgab. Sein einziger Kommentar war gewesen, er habe zu jener Zeit eben nichts anderes im Kopf gehabt als Essen und Volksmärchen.
Sie hätte nie erwartet, daß er eine ganze Artikelserie über seinen eigenen Weg schreiben würde, über ihre Mutter, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, über seine Art, mit diesem Schicksalsschlag fertig zu werden, und eine Folge nur über sie, seine Tochter. Er befand sich damals auf dem langen Marsch weg von der ›Verpflichtung zum Schwarzsein‹, wie er es nannte, und so vertrat er zum Schluß die These, es sei reine Verlogenheit, die Trachten und die traditionelle Küche eines Landes, das man selbst noch nie gesehen habe, aus der Mottenkiste zu ziehen. Er bezog auch Stellung gegen eine Schwarzenorganisation, die unbedingt zu allen politischen Kundgebungen mit den ›Waffen ihrer Vorfahren‹ erscheinen wollte, weil diese angeblich ein hohes Kulturerbe darstellten und damit über jede Kritik erhaben seien. Tom Butterworth (von seinen Feinden natürlich als ›Onkel Tom‹ geschmäht) hielt dagegen, ein Speerverbot sei wohl kaum als Angriff gegen eine bestimmte Kultur zu werten, wenn die Träger von echten Speeren keine Ahnung hätten und allenfalls vorne und hinten auseinanderhalten könnten. Als die Serie in Buchform erschien, bekam sie den Pulitzerpreis. Seither verdiente Tom Butterworth als Vertreter der neuen, freiheitlichen Linken (ein Oxymoron, das er aber nie beanstandete) und als Gesellschaftskritiker und gelegentlich auch als Ratgeber der Mächtigen seinen Lebensunterhalt damit, daß er Urteile fällte. Und ein fachmännisches Urteil war das, was seine Tochter jetzt brauchte.
Solche Gedanken verdüsterten Alicias Stimmung, bis sie unweit ihrer Wohnung einen Strandspaziergang machten. Dieses herrliche Stück Erde machte es einem schwer, sich zu konzentrieren. Die vielen faul herumliegenden Sonnenanbeter täuschten, die idyllischen Buchten waren ein einziges Schlachtfeld. Unermüdlich schweiften die Blicke und stellten Vergleiche zwischen schmalen Hüften, schwellenden Brüsten und Waschbrettbäuchen an. Nackte Körper schrien nach Beachtung. Überall räkelten sich die eifrigen Jünger jenes neuen Narzißmus, für den Gesundheit ein buntverpacktes Konsumgut war, das sich jeder kaufen konnte: Schönheitschirurgie und Diät gegen die lästigen Runzeln und Falten; Laser zur Wiederherstellung der Sehschärfe; Unmengen von Tabletten gegen Schmerzen und Energielosigkeit; raffinierte Genmanipulationen zur Beseitigung chronischer Krankheiten und zur Erzeugung perfekter Kinder. Wer schlank bleibt und gesund lebt, ist unsterblich. Und ihr ging das verunstaltete Gesicht auf dem Boden ihres Labors nicht aus dem Kopf …
Sie holte ein paarmal tief Luft, dann griff sie nach der Hand ihres Vaters und stammelte in abgerissenen Sätzen die ganze, unglückselige Geschichte hervor. Er nickte verständnisvoll und murmelte gelegentlich etwas vor sich hin, aber das war auch alles. Sie hatte erwartet, daß er sofort auf den zentralen Punkt, das Universum in der Hutschachtel, anspringen würde, aber das schluckte er seelenruhig, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hätte ihn am liebsten geschüttelt.
Inzwischen hatten sie den Hauptstrand hinter sich gelassen und stiegen den Abhang zum Heisler Park hinauf, um an den tief ausgewaschenen Felsbögen entlangzuschlendern. Dad hatte den Kopf in den Nacken gelegt und freute sich an den Palmen und den wechselnden Ausblicken, während Alicia unverwandt zu Boden schaute, als fürchte sie zu stolpern. Unten rasten einige Surfer im weißen Gischt auf die Felsen zu, er zuckte zusammen, als er sah, wie sie herumgeschleudert wurden, dann sagte er ruhig: »Du brauchst Bernie Ross.«
»Wer ist das?«
»Ein Anwalt, guter Mann, kennt sich aus mit solchen Sachen.«
»Und was sind ›solche Sachen‹?«
»Umgang mit den Medien. Wenn das, was du über dieses Ding sagst, auch nur zu zehn Prozent stimmt …« – er hob die Hand und lächelte, daß seine blendend weißen Zähne aufblitzten – »das soll nicht heißen, daß ich deine Qualifikation in Zweifel ziehe, mein Kind –, dann kannst du es nicht geheimhalten.«
»Natürlich kann ich das. Solange wir nicht mehr darüber wissen, muß man uns die Chance zu einer gründlicheren …«
»Du bekommst keine Chance.«
»Ich denke nicht daran, etwas zu veröffentlichen oder auch nur ein Referat zu halten, bis …«
»Zwei Wochen – bestenfalls.«
Seine Art reizte sie plötzlich so sehr, daß sie ihre Zunge nur mit Mühe beherrschen konnte. »Das ist mein Projekt. Niemand, weder Brookhaven, noch die UCI, noch …«
»Die UCI wirst du informieren müssen, und die wird nicht schweigen.«
»Einem Sonderausschuß mit Schweigepflicht würde ich vielleicht Rede und Antwort stehen. Aber niemandem sonst.«
»Erinnerst du dich noch an den Eizellenskandal an der UCI vor zehn Jahren? Wie lange hat man den vertraulich behandelt?«
»Okay, aber wenn ich mich nicht irre, war das ein echter Skandal.«
»Und diesmal gibt es bereits einen Toten.«
»Ein Unfall«, sagte sie, aber ihre Stimme schwankte.
»Kennst du den alten Spruch: Informationen streben nach Freiheit? Ein Körnchen Wahrheit steckt immer noch darin, er ist nur veraltet. Wir leben nicht mehr in einer Informationsgesellschaft – wir ertrinken in Informationen – wir leben in einer Aufmerksamkeitsgesellschaft. Darum tobt heute der Konkurrenzkampf. Ich habe einen Zipfel der öffentlichen Aufmerksamkeit erwischt, meine Artikel werden gelesen. Das heißt, ich kenne den Laden. Und sobald nur einer meiner geschätzten Kollegen wittert, was du entdeckt hast, fallen sie alle über dich her.«
»Ich will gar keine Aufmerksamkeit.«
»Du nicht, aber sie. Du bist nur Mittel zum Zweck.«
»Jetzt übertreibst du.«
»Ich möchte, daß du einen guten Anwalt hast. Ich würde nämlich nicht ausschließen, daß die UCI dich haftbar macht. Mit den Ärzten im Eizellenskandal ist man genauso verfahren, obwohl ihnen letztlich niemand etwas nachweisen konnte.«
Jetzt war ihr alles klar; er überfiel sie nach klassischer Männerart mit einer Lösung, bevor sie überhaupt wußte, was sie wollte. »Okay, sag diesem Mr. Ross, er soll mich anrufen.« Ein probater Spruch, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Er nickte zufrieden. »Danach können wir uns darüber unterhalten, was das alles zu bedeuten hat. Und wie mein kleines Mädchen aus dem Schlamassel wieder rauskommt.«
»Das machen wir«, sagte sie strahlend, und er lächelte und gab ihr einen Kuß. Sie machten kehrt und gingen nach Süden zurück. Ihr Vater bewunderte die goldene Küste, die irgendwo im blauen Dunst verschwand, und schwärmte von der unbeschwerten Schönheit des Südens, doch sie sah bereits neues Unheil nahen. Max kam ihnen, eifrig winkend und ohne die Reize der Landschaft auch nur eines Blickes zu würdigen, über den betonierten Fußweg entgegengeeilt.
»Hallo, ich möchte nicht stören«, rief er schon von ferne. »Ich wollte mir die alten Aufzeichnungen noch einmal ansehen, habe Sie aber in der UCI nicht mehr angetroffen. Und Ihr Hausverwalter sagte, Sie seien spazierengegangen. «
»Haben Sie in den Laborbüchern nachgesehen?« fragte sie. Sein plötzliches Auftauchen hatte sie aus dem Konzept gebracht.
»Ich habe nur wenige gefunden. Und in denen steht, soweit ich sehen konnte, nicht allzu viel über Ihre Arbeit.«
»Die anderen habe ich mit in meine Wohnung genommen«, erklärte sie. »Ach, Dad, das ist Max Jalon.«
»Ich bin Tom.« Sie schüttelten sich etwas zu förmlich die Hand und murmelten die üblichen Floskeln, während sie sich gegenseitig taxierten. Max bewunderte Toms Anzug und ließ damit zum ersten Mal erkennen, daß er so etwas wie Modebewußtsein besaß, und Tom quittierte das Kompliment, indem er skeptisch den Mund verzog. Wollte Max sich etwa einschmeicheln? Beeindruckte ihn Toms bescheidene Berühmtheit? Eine verwirrende Vorstellung.
Auch auf dem Rückweg in die Stadt war Max bemüht, mit freundlichen Bemerkungen das Gespräch in Gang zu halten. Während über ihnen die Möwen den prachtvollen Sonnenuntergang bekreischten, blieben sie stehen, bis sich die Sonnenscheibe zu einem orangeroten Oval zusammengeschoben hatte. Max redete ununterbrochen. Nun erklärte er in ermüdender Ausführlichkeit, wie er es geschafft habe, das Labor zu durchsuchen, obwohl der Sicherheitsdienst der UCI dabei gewesen sei, irgendwelche Messungen vorzunehmen.
»Was denn für Messungen? Mir hat man gesagt, der Raum würde lediglich versiegelt.«
»Ich durfte erst hinein, als der Boss vorbeikam und sein Okay gab. Und dann hatte ich den Eindruck, als würden sie auf die Festplatten Ihrer Diagnostikcomputer zugreifen.«
»Um sich meine Daten zu holen!«
»Allem Anschein nach ja. Ich habe auch nachgefragt, aber keine Antwort bekommen. Man hat mich kurz abgefertigt und an eine Stelle auf der anderen Campus-Seite verwiesen. Da bin ich lieber zu Ihnen gekommen.«
Alicia nickte verlegen. Sie war einfach weggegangen, ohne daran zu denken, daß Max noch in der Bibliothek saß und arbeitete. Ihr Vater mischte sich mit fast schon verletzender Höflichkeit ein: »Mr. Jalon, dürfte ich erfahren, welche Rolle Sie in dieser Sache spielen?«
»Ich bin mit Ihrer Tochter befreundet.«
»Inwiefern befreundet?«
»Wir sind Kollegen.« Max war sichtlich überrascht.
»Ich verstehe.« Alicia kannte diese feine Ironie; Tom Butterworth pflegte sie in öffentlichen Diskussionen als Waffe einzusetzen. »Dann begreifen Sie sicher, daß über diese Dinge möglichst wenig gesprochen werden sollte.«
»Aber klar doch. Ich muß nur wissen …«
»Ist es nicht ganz allein ihre Sache, wem sie ihre Ergebnisse zeigt?« bemerkte Tom sehr kühl.
Alicia griff ein. »Natürlich, Dad, aber Max ist einer meiner wenigen Vertrauten.«
Wie hatte sich die Situation nur so schnell zuspitzen können? Sie überlegte angestrengt, während sie mit den beiden über eine Abkürzung am Kunstmuseum vorbei und über den Coast Highway ihrer Wohnung zustrebte. Das tägliche Verkehrschaos begann sich gerade erst zu entwickeln, aber schon kribbelten ihr die Abgase in der Nase. Sie beobachtete die Miene ihres Vaters, und als sie den Lower Cliff Drive erreichten, wußte sie Bescheid: er hielt Max für ihren Liebhaber. Eigentlich war es lächerlich, aber sie hätte trotzdem gern gewußt, was ihn auf diese Idee gebracht hatte. Oder störte er sich gar daran, daß der Liebhaber ein Weißer war? Sie überlegte, ja, tatsächlich – mit Anfang Zwanzig war sie zwar mit etwa einem halben Dutzend Weißen oder Asiaten ausgegangen, aber davon hatte ihr Vater nichts gewußt. Sie hatten sich damals nur gestritten und deshalb Abstand voneinander gehalten; und dann kam Maria. Der letztepotentielle Liebhaber, den er kennengelernt hatte, war ein Schwarzer gewesen – reiner Zufall, keine Taktik – und das war sechs Jahre her. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Man stelle sich vor!
Als sie ihre Wohnung betraten, sah Dad sich sichtlich befremdet um. Er war ein Ordnungsfanatiker, während sie alles herumliegen ließ; wieder einmal hatte die Vererbung nicht funktioniert. Alicia ging in die Küche, öffnete ihren im Stil von 1960 gehaltenen Backofen und holte sechs dicke Laborbücher mit eingeklebten Ausdrucken heraus. »Im Backofen?« fragte Dad.
»Backen und Kochen sind nicht unbedingt meine Stärke.«
»Aber da würde man ziemlich schnell nachsehen«, warnte Tom Butterworth.
»Wer ist ›man‹?«
Er verzog keine Miene. »Die Leute von der UCI, sobald sie die richterliche Genehmigung bekommen, in deiner Wohnung nach Unterlagen zu suchen, die du ihnen vorenthalten hast.«
»Das würde die UCI niemals tun«, protestierte sie und ließ sich auf die Wohnzimmercouch fallen.
»Behördenanwälte sollte man nicht unterschätzen«, sagte Tom.
»Äh … kann ich die über Nacht behalten?« fragte Max so leise, als ginge er auf Zehenspitzen.
»Ich gebe sie nur ungern aus der Hand«, sagte Alicia.
»Ich möchte alle Spektren zurückverfolgen, die Sie gemessen haben – und den genauen Beobachtungszeitpunkt feststellen.« Max setzte sich und stapelte die klobigen Notizbücher auf ihren dänischen Couchtisch. Drei fielen prompt auf den Teppich, der seiner Empörung mit einer Staubwolke Ausdruck verlieh.
»Wozu?« fragte sie.
»Mir ist etwas eingefallen, und jetzt möchte ich auf Datenjagd gehen.«
»Das können Sie auch hier tun«, sagte sie.
»Sieht aber nach einer Menge Arbeit aus«, gab er zu bedenken. »Mit ein oder zwei Stunden ist es sicher nicht getan.«
»Dann bleiben Sie eben über Nacht.« Sie wollte ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen, vielleicht kam ja etwas dabei heraus. »Dann können sie morgen hier weitermachen. Ich will die Bücher nämlich noch nicht in die UCI zurückbringen.«
Sie sah ihren Vater an und war überrascht. Seine Züge hatten sich verhärtet, und seine Augen waren schmal geworden. »Wie kannst du einen Außenstehenden in möglicherweise illegale Machenschaften verwickeln?«
»Illegal?«
»Zumindest Grund für eine Entlassung.«
»Was? Die können mich nicht rauswerfen …«
»Und ob sie das können! Glaubst du vielleicht, ein Professor wird nur wegen Unzucht mit Studenten gefeuert?«
»In den Geisteswissenschaften nicht einmal dafür«, sagte sie, um die gereizte Atmosphäre ein wenig zu entschärfen.
»Noch bist du nicht fest angestellt, Honey.«
»Nein, aber …«
Max stand auf. »Hören Sie, ich kann auch morgen wiederkommen …«
»Nein, bleiben Sie nur.« Alicia stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Als das Schweigen unerträglich wurde, trat sie ans Fenster, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die Autoströme auf dem Coast Highway. Nach einer Weile drehte sie sich um, ging auf die Küche zu, fuhr plötzlich zu ihrem Vater herum und sagte: »Du willst also nicht, daß er hier übernachtet?«
»Nein, nein, es ist doch nur …«
»Es ist genau das! Und ich bin einunddreißig Jahre alt.«
»Wahrhaftig nicht, ich darf doch bitten.« Das klang sehr förmlich, der Diskussionsredner kam wieder zumVorschein. »Ich finde nur, du solltest die rechtliche Seite nicht außer acht lassen. Wenn die UCI den Verdacht hat, daß du, und sei es nur aus Fahrlässigkeit, Unterlagen zurückhältst, die für Ermittlungen in einem Fall mit eventuell kriminellen Aspekten von Bedeutung sind, dann darfst du niemand anderen belasten …«
»Du meinst also, ich hätte fahrlässig gehandelt?«
»Ich gebe nur die Möglichkeit zu bedenken. Du solltest das Ganze einmal aus der Perspektive des Staatsanwalts betrachten …«
»Du solltest das Ganze einmal aus meiner Perspektive betrachten!«
Max meldete sich schüchtern zu Wort. »Hören Sie, ich kann wirklich morgen wiederkommen …«
»Sie bleiben«, fauchte sie, und hielt ihn mit der flachen Hand zurück, bevor er einen Schritt machen konnte. »Dad, du hast nichts als Juristenscheiße im Kopf!«
Tom zuckte die Achseln. »Das ist mein Beruf.«
»Aber die Sache ist … von ungeheurer Tragweite!«
»Vieles erscheint wichtig, wenn man es aus nächster Nähe betrachtet, Honey, aber …«
»Aber das ist wirklich wichtig.«
Er reckte das Kinn vor und warf ihr einen Blick voll väterlicher Nachsicht zu, der bei ihr alle Alarmglocken schrillen ließ. Sie zwang sich, ein paarmal tief Luft zu holen. Mit einem Mal fiel ihr wieder ein, wie sie einmal als Teenager in ihr Zimmer gestürmt war und die Tür so heftig hinter sich zugeworfen hatte, daß das ganze Haus erzitterte. Ihr Vater hatte kein Wort gesagt, sondern nur einen Schraubenzieher geholt und die Tür ausgebaut. Ein paar Tage lang hatte sie es durchgehalten, ohne Privatsphäre zu leben, dann war ihr die Situation so unerträglich geworden, daß sie sich entschuldigte. Ihr Vater hatte nur genickt, hatte ihr einen Kuß gegeben und die Tür wieder eingesetzt.
Mit Trotz kam sie nicht weiter. Sie stieß einen tiefenSeufzer aus. »Was wir geschaffen haben«, sagte sie, »ist nicht nur neu, es kann einem auch Angst machen.«
Tom nickte zögernd. »Ich konnte dir da nicht ganz folgen. Aber wie sich die UCI verhält, ist schließlich sehr viel wichtiger als der Umstand, daß du irgendein neues Elementarteilchen …«
»Irgendein neues Elementarteilchen? Es ist ein absolut unbegreifliches Phänomen.«
»Ich kann ja verstehen, daß es viel für dich bedeutet …«
»Nicht nur für sie, sondern für die ganze Welt«, sagte Max leise. »Falls wir recht haben.«
Tom warf ihm einen spöttischen Blick zu, zog aber zugleich die Stirn in Falten. »Ist es wirklich so wichtig?«
Der jähe Umschwung verriet Alicia, daß ihr Vater zwar zugehört hatte, als sie ihm von der Kugel – dem Cosm, wie sie sie inzwischen nannte – erzählte, aber über alles, was mit Physik zusammenhing, auch über die Auswirkungen, einfach hinweggegangen war. Er hatte sich nur auf die bürokratischen, die politischen Aspekte gestürzt. Typisch Dad; wenn Probleme auftauchen, ist das Wichtigste ein Hammer, die passenden Nägel werden sich schon finden.
»Es könnte eine fundamentale Entdeckung sein. Ein Fenster in ein anderes Universum«, sagte Max.
»Ich dachte, es gibt nur ein Universum.«
Max setzte sich wieder und versuchte, ihrem Vater zu erklären, worum es eigentlich ging. Er fing das sehr viel geschickter an als sie, und so setzte sie sich ans andere Ende der Couch, auf der auch ihr Vater saß, und überlegte, warum sie eigentlich so empört war. Was ging es ihren Vater an, ob Max bei ihr übernachtete? Es war doch nichts zwischen ihnen. Lag es womöglich doch daran, daß Max ein Weißer war? Unglaublich.
Aber warum hatte sie sich provozieren lassen? Sie fand sich im Nebel ihrer eigenen Emotionen nicht mehr zurecht und schlug sich die ganze Sache schließlich ausdem Kopf. In der kühlen, abstrakten Welt der Physik fühlte sie sich doch sehr viel mehr zu Hause.
»Und solche Wurmlöcher könnten verschiedene Teile unseres Universums miteinander verbinden«, sagte Max eifrig und warf eine Skizze auf einen gelben Block, »sie könnten aber auch in ein ganz anderes Universum führen.«
Tom betrachtete den Block mit skeptischem Blick, und plötzlich spürte Alicia eine tiefe Zuneigung zu diesem Gesicht mit den tiefen Furchen. Den ratlos-besorgten Ausdruck kannte sie noch aus ihrer stürmischen Teenagerzeit, als er Mama und Papa zugleich gewesen war, einmal fürsorglich und liebevoll, und im nächsten Moment der strenge Erzieher, der die Grenzen setzte. Schwierig war es geworden, als sie aufs College ging, um in Bereiche vorzudringen, die er nie verstanden hatte. Hatten sie jemals eine unbeschwerte Zeit miteinander erlebt? Wenn ja, dann konnte sie sich nicht daran erinnern. Maria war nur ein weiteres Schlagloch auf einer ohnehin holprigen Straße gewesen.
»Nun hat es den Anschein, als würde die Entwicklung in diesem anderen Universum schneller verlaufen. Jedenfalls kühlt es schneller ab als das unsere.«
»Wie schnell?« Es war eine von Toms berühmten Diskussionsstrategien, plötzlich mit irgendeiner Detailfrage dazwischen zu schießen, auch wenn er bei weitem nicht alles verstanden hatte. Auf diese Weise, hatte er ihr einmal erklärt, erwecke man den Eindruck, dem Gespräch größtenteils gefolgt zu sein, ohne das ausdrücklich sagen zu müssen.
»Millionenmal schneller, wie es scheint.«
»Und woran, in aller Welt, könnte das liegen?« Typisch Tom, jetzt fing er auch noch an zu bohren.
»Äh … das weiß ich nicht.«
»Hmhmmm.« Höfliches Stirnrunzeln. »Woher wissen Sie dann so genau, daß keine Gefahr mehr besteht?«
»Weil es abkühlt.«
»Aha. Aber Sie sagen doch auch, daß es wächst.«
»Es expandiert in seinem Raum, nicht in unserem. Die Kugel in Alicias Labor wird nicht aufschwellen und alles verschlingen – sonst hätte sie das schon getan. Aber dieses andere Universum, das wir durch die Kugel hindurch beobachten können, das wird sich entwickeln – und zwar schneller als das unsere.«
»Wieso?« fragte Tom.
»Das weiß ich nicht.« Max lehnte sich zurück und spreizte hilflos die Hände.
»Hat es vielleicht etwas mit dieser … äh … dieser Wurmlochverbindung selbst zu tun?« Diesmal war Toms Frage eindeutig ernst gemeint. Alicia blinzelte überrascht. Wenn er mit ihr über Physik sprach, war er noch nie mit einer eigenen Idee hervorgetreten. Was nicht hieß, daß sie sich allzu häufig über Physik unterhalten hätten.
Max nickte. »Könnte sein, könnte durchaus sein. Wir haben keine Theorie, an die wir uns halten könnten, Mr. Butterworth.«
»Sie können ruhig Tom sagen. Das … das ist also wirklich wichtig.« Er schien beeindruckt und betrachtete die abfallenden Raumzeitkurven, die Max gezeichnet hatte, mit ernster Miene. »Und der Tod des Jungen war ein Unfall? So etwas kann sich nicht wiederholen?«
»Nun ja«, meinte Max verlegen. »Ganz sicher kann man nie sein …«
Tom lachte in sich hinein. »Erzählen Sie das niemals einem Richter.«
»Hören Sie …« Max ging zum Gegenangriff über, »dieses andere Universum kühlt sehr schnell ab. Es besteht keine Gefahr, daß es sich wieder aufheizt.«
Tom sah sie an. »Da hast du dir wirklich etwas aufgeladen, Aleix.«
Max wollte wissen, was es mit dem Namen auf sich habe, und Tom erzählte ihm die übliche Geschichte, die sie natürlich schon tausendmal gehört hatte. Diesmalbrachte er die komische Variante, und sie überlegte währenddessen, warum es Max gelungen war, Dads Interesse für die Kugel zu wecken, ihr dagegen nicht. Der Glaube an den Sachverständigen von außerhalb? Nicht die eigene Tochter, sondern die Koryphäe vom Caltech? Ein Mann?
Andererseits hatte dieser Dad mit den grauen Schläfen sie stets ermuntert, ihren Weg weiterzugehen, in Gebiete vorzudringen, von denen er nicht das Geringste verstand. Sie hatte immer wissen wollen, warum ein Kreisel nachdenklich nickte wie ein weiser, alter Mann, anstatt vornüberzufallen wie ein Kind. Warum Seifenblasen zitternde Kugeln bildeten, was die Sonne die ganze Zeit verbrannte (und wo war der Rauch?), warum die Kreide auf der Tafel quietschte, ob die Sterne immer weiterzogen, auch wenn sie nicht mehr zu sehen waren, warum die Wolken hoch am Himmel schwebten und nicht herunterfielen – lauter große Rätsel, die sie sehr beschäftigt hatten. Und kaum ein Erwachsener, nicht einmal ihr Dad, hatte ihr mehr als einen unbestimmten Hinweis auf die Lösung geben können. Aber Dad hatte ihr geholfen, die Antworten selbst zu finden.
Sie gab auf und fragte: »Habt ihr eigentlich gar keinen Hunger?«
Damit lag sie goldrichtig. Wenn zwei Männer endlich miteinander klarkamen, brauchte man sie nur zu füttern, und schon herrschte eitel Sonnenschein. Dann hockten sie sich ums Lagerfeuer, kauten halbverkohltes Fleisch, lachten miteinander, erzählten sich die tollsten Lügengeschichten und vergaßen ganz, daß sie sich irgendwann bekämpft hatten. Sie lud Jill zum Mitkommen ein – der Anruf bei Dad war schließlich ihre Idee gewesen – und dann gingen sie in ein Steakhaus. Es war das übliche Orange County-Lokal der gehobenen Preisklasse: ein paar raffinierte Effekte, ansonsten wie üblich Wandverkleidungen aus Edelholz, bequeme Ledersessel, Kristall und Schleiflackmöbel. Alles blitzte undblinkte und roch nach viel Geld, ohne protzig zu wirken. Es war genau die richtige Wahl.