6Winselnd rollte der Laufkran über dieschweren Schienen an der Decke. »Etwas weiter nach hinten«, rief Alicia.

Zak fuhr den Kran langsam zurück, bis sich die Laufkatze mit dem Dauermagneten genau über der seltsamen Chromkugel befand. »Okay!« sagte sie.

»Meinen Sie nicht …?« rief Zak von der Kransteuerung herüber.

»In ein paar Minuten kommen die anderen vom Essen zurück. Bis dahin müssen wir das Ding rausgeholt haben.«

»Aber wenn nun …«

»Los jetzt!« Sie sprach nicht laut, aber bestimmt. Sie war überreizt und ließ Dampf ab, indem sie ihn herumkommandierte. Das hierarchische Verhältnis zwischen Professor und Postdoc war eigentlich nicht nach ihremGeschmack, aber bisweilen doch ganz nützlich. Trotzdem … »Äh – bitte.«

Sie hatte die Kugel mit einer Holzlatte angestoßen, aber sie hatte sich nicht bewegt. Eine Stahlstange wäre an den Magnetpolen hängengeblieben. Erst danach war ihr aufgefallen, daß die Kugel die Verkleidung der Röhre nicht berührte, sondern in einem Millimeter Abstand scheinbar frei in der Luft schwebte.

Dafür gab es nur eine Erklärung. Sie wurde von den Magnetfeldern zur Fokussierung der Teilchenströme mitten im Detektorkomplex festgehalten. Der Fokus wurde von zwei gekühlten, supraleitenden Magneten eingerahmt. In einem Fach lagen als Reserve zwei kleinere U-Magneten aus dauermagnetisiertem Stahl.

Wenn sie den U-Magneten genau über die Kugel brachte und dann einen Stromstoß durch die Magnetspulenkonfiguration schickte, würde die Kugel wie an einem unsichtbaren Gummiband nach oben schnellen und hoffentlich im Feld des Dauermagneten hängenbleiben.

»Okay, jetzt kommt das Spiel mit der Stromregulierung«, sagte sie.

Die Magnetspulen um die Kugel ließen sich über das Keyboard steuern, das sie in der Hand hielt. Mit ein paar Tastenkombinationen hatte sie die starken Felder im Umkreis der Bruchstelle heruntergeregelt. Hatte die Kugel eben gezuckt wie von unsichtbaren Kräften bewegt?

Sie hatte es aus Sicherheitsgründen vermieden, das Ding mit der Hand zu berühren. Wenn man es mit der Latte anstieß, fühlte es sich massiv an. Doch das schillernde Fleckenmuster, das alle Spiegelbilder überzog, war verwirrend. Laserstrahlen zeigten diese merkwürdige Eigenschaft. Wenn sich das Licht der Wellenlänge anpaßte, entstanden abwechselnd helle und dunkle Stellen. Aber wieso war die Kugel dazu fähig?

Sie mußte leitfähig sein, sonst hätten die starkenMagnetfelder sie nicht in der Ringröhre festhalten können. Ein Stein wäre etwa einfach durchgefallen. Diese Erkenntnis hatte Alicia auf eine Idee gebracht.

»Jetzt ganz vorsichtig … runter mit dem Dauermagneten …«

Sie behielt das große U scharf im Auge, als sich die beiden Pole der Kugel näherten. Wenn sie den Stromstoß genau im richtigen Moment durch die Spulen jagte, mußte die Kugel im Netz des stärkeren Dauermagneten hängenbleiben.

»Tiefer … ganz wenig nur …«

Wieder erbebte die Kugel. Mit weiteren Computerbefehlen regulierte sie die Fokussierungsfelder. Träge, wie gegen einen elastischen Widerstand schwebte die Kugel nach oben, auf die Magnetpole zu.

»Wieviel wiegt das Ding eigentlich?« rief Zak.

»Eine ganze Menge.« Sie hatte die Felder so weit wie möglich verstärkt, trotzdem rührte sich das Objekt kaum von der Stelle.

Noch eine leichte Variierung der oberen Felder. Die Kugel hüpfte zwischen die Pole des Dauermagneten – und blieb hängen.

Alicia atmete so vorsichtig aus, als könnte der leiseste Lufthauch alles zerstören. »Okay, ich glaube, wir haben es geschafft.«

»Und Sie meinen, das hält?« Zak runzelte besorgt die Stirn.

»Das Feld zwischen den beiden Polen ist ein halbes Tesla stark. Damit hält man eine ganze Menge.«

Vorsichtig hob Zak den Magneten ein wenig an. Die Kugel blieb zwischen den Polen. Langsam zog er sie zur Decke empor. Alicia trat an die Steuerung.

»Ganz vorsichtig jetzt«, sagte sie und übernahm. Den schwierigsten Teil durfte sie nicht ihm überlassen. Wenn etwas schiefging, mußte sie es auf ihre Kappe nehmen.

Mit winselnden Servomotoren rollte der Kran auf seinen Schienen zurück in die Nische in der dicken Betonmauer. Der U-Magnet verschwand im Schatten.

Zak nickte. »Gute Idee, damit ist das Ding erst einmal aus dem Weg. Wo, in aller Welt, kommt es eigentlich her? Ein Teil der Mechanik?«

Er hielt das Gebilde offenbar für eine große blanke Kugellagerkugel. »Ich weiß nicht. Aber es mußte auf jeden Fall raus, sonst kann die Crew den Bruch nicht reparieren.«

»Hoffentlich können wir bald weitermachen.«

»Zak, das Core-Element ist nicht mehr zu retten.«

»Ich weiß, ich weiß, aber die anderen Detektoren …«

Er verstummte. Der Schreck saß ihm sichtlich noch in den Gliedern. War es herzlos gewesen, ihn gleich wieder an die Arbeit zu schicken, sofort die Aktion mit dem Dauermagneten zu starten? Nein – schmerzliche Enttäuschungen bewältigte man am besten, indem man einfach weitermachte.

Sie klopfte ihm tröstend auf die Schulter. »Das restliche BRAHMS liefert uns sicher jede Menge Daten.«

»Glauben Sie? Das Spektrometer für den mittleren Geschwindigkeitsbereich …«

»Klar doch, Mann.« Der dick aufgetragene Südstaatenakzent war so etwas wie ein privater Scherz zwischen ihnen beiden, damit hatte sie ihm noch immer ein Lächeln entlockt. »Jetzt aber fix.«

Als das Team vom Essen zurückkam, hatte sie das Rohr bereits provisorisch abgedichtet. Den Technikern gefiel das gar nicht; Reparaturen fielen in ihr Ressort. Aber Alicia hatte diese Reaktion bewußt provoziert, um die Aufmerksamkeit von der Plane abzulenken, mit der sie den Dauermagneten in der Wandnische zugedeckt hatte.

Vielleicht hatte Zak recht und das Ding war wirklich nur eine ungewöhnlich geformte Metallblase – aber sie glaubte nicht daran. Dieser Glitzerball war etwas ganz Besonderes, das hatte sie im Gefühl. Und so lange, bissie Gelegenheit fand, ihn genauer zu untersuchen, war es besser, wenn die RHIC-Belegschaft erst gar nichts davon erfuhr.

Was war denn nun eigentlich passiert? Ein Unfall, gewiß, aber was für ein Unfall? Aus irgendeinem Grund war im Laufe des Experiments eine Metallkugel entstanden. Hatte sich ein Stück Blech aufgebläht wie ein Luftballon? Unwahrscheinlich. Wieso sollte die Kugel eigentlich aus Metall sein? Sie war leitfähig, gewiß, sonst wäre sie von den Magnetfeldern nicht gehalten worden. Und sie glänzte – aber das Schillern war ein deutlicher Hinweis, daß hinter der Geschichte noch mehr steckte.

Sie hatte von der Müllhalde der theoretischen Physik noch einiges an Wissen über hypothetische Elementarteilchen gerettet. Einige waren tatsächlich so bizarr, daß sie nicht in normale Teilchen zerfielen und die Explosion durchaus überstanden haben konnten – aber ausgerechnet in Form einer glänzenden Bowlingkugel?