3Der folgende Tag war die reine Hölle, nur hätte sie sich die Hölle niemals so vorgestellt.
Schon durch die Physikvorlesung kämpfte sie sich wie durch zähen Schlamm. Dann wollte sich der Sicherheitsausschuß des Campus ihr Labor ansehen. Anschließend wurde sie von weiteren Abordnungen verschiedener Auswüchse der Universitätsbürokratie mit Fragen gelöchert, auf die sie nur kläglich wenige Antworten hatte. Jede Gruppe verlangte Kopien von Laborbuchseiten, Computerdateien, Ausdrucken; der Drang zu dokumentieren, Unterlagen anzuhäufen, zu beweisen, daß man konkrete Schritte unternommen hatte, war offenbar überwältigend stark.
Als nächstes stand ein Treffen mit dem Fachbereichsvorsitzenden Onell und dem stellvertretenden Vizekanzler Ms. Lattimer auf dem Programm, bei dem sich beide so benahmen, als spielten sie ihre eigenen Titel.
Und die ganze Zeit über bemühte sich Alicia verzweifelt, das Geschehen zu rekonstruieren. Immer wieder starrte sie die bunten Graphen auf dem Flachbildschirm ihres Computers an. Ausgerechnet in der Stunde, die sie in Ms. Lattimers Büro verbracht hatte, war die Intensität des von der Kugel abgestrahlten Lichts rapide angestiegen.
Das war Brad sicher nicht entgangen. Die Lichtemission bewegte sich zwar im hochfrequenten Bereich und war daher nicht sichtbar, aber es gab auch eine schwache Strahlung im sichtbaren hellen Blau. Brad hatte die Kugel beobachtet, und als sie plötzlich aufleuchtete, war er neugierig geworden und näher herangegangen …
Dann war der Blitz gekommen. Den Spektren war zu entnehmen, daß die Emissionen bis in den Röntgenbereich hinaufreichten. Die Röntgenstrahlen wären allein schon tödlich gewesen, aber es war auch genügend Ultraviolettstrahlung vorhanden.
Dann fielen die Emissionen ab. Sie ließ die Zeitabhängigkeit graphisch darstellen.
Exponentiell. Die Frequenz der Wasserstoffrekombinationslinie wurde geringer, und die Temperatur des Gesamtspektrums sank.
Sie zog die Lichtschutzhaube beiseite und trat in den engen, schwarzen Raum. Die Leute vom Sicherheitsteam hatten die Haube um einige Schichten verstärkt, um sicherzugehen, daß weitere, starke Strahlungsstöße von feuersicherem Material gedämpft würden. Es war bereits die Rede davon, das ganze Objekt mit Wänden aus Bleibeton zu umgeben.
Im Dunkeln war die Kugel unsichtbar. Die Lichtintensität fiel stetig ab und war bereits außerhalb des sichtbaren Bereichs gewesen, als sie, etwa dreißig Minuten nach dem Blitz, ins Labor kam und Brad fand. Sie steckte den Kopf in den U-Magneten und schnupperte. Auch kein Ozon mehr.
Sie ließ sich Max’ Ideen durch den Kopf gehen. – Jede Menge Unbekannte, aber keine gesicherten Antworten.
Am nächsten Tag kam Max herunter, um ihr bei Brads Begräbnis zur Seite zu stehen. Auch Jill hatte ihre Begleitung angeboten, aber Alicia wollte sich keine zusätzlichen Komplikationen aufhalsen. Der Tag würde schwierig genug werden.
Brad Douglas stammte aus einer Kleinstadt, die bei der Osterweiterung von Riverside geschluckt worden war und seither nur noch als Autobahnausfahrt existierte. Seine Eltern sahen müde aus und hüllten sich in Schweigen. Alicia fand keinen Zugang zu ihnen. Sie begegneten ihr mit steifer Höflichkeit und stellten keinerlei Fragen. Seltsamerweise übertrafen sie damit ihre schlimmsten Befürchtungen.
Die Trauerfeier fand fünf Straßen vom Freeway 55 entfernt im Bestattungsinstitut Gremlich statt. Alicia fand das zunächst merkwürdig, doch als sie Mrs. Douglas später beim Empfang in der Küche half, bemerkte sie den Kalender an der Wand. »Ach ja«, sagte Mrs. Douglas, »so einen schicken sie uns jedes Jahr.«
Der Kalender kam vom Bestattungsinstitut; letzten Endes hatten sich die vielen Werbegeschenke für Mr. Gremlich doch ausgezahlt.
Und er verstand sein Geschäft. Die Trauergemeinde wurde direkt am Sarg vorbeigeführt, damit jedermann Gremlichs Kunstfertigkeit aus nächster Nähe bewundern konnte. Alicia durchlebte einen Moment des Grauens, als sie sich ausmalte, wie Brad nach der ›operativen Wiederherstellung‹ ausgesehen hätte, von der der Arzt im Krankenhaus gesprochen hatte. Doch als sie, ohne es eigentlich zu wollen, wie aus großer Höhe auf ihn hinabschaute, sah sie nur die Mammutausgabe einer jener Puppen aus gedörrten Äpfeln …
Mit einem Mal kam ihr zu Bewußtsein, daß sie schon viel zu lange hier gestanden hatte. Der blaue Sarg erinnerte sie plötzlich absurderweise an einen Mercury Baujahr 1950. Sie wandte sich ab.
Dann hielt ein Geistlicher eine – wie es ihr vorkam – endlos lange Rede. Er begann mit einer Lobeshymne auf den Toten und ging dann auf den tieferen Sinn, die weitreichenden Folgen des Geschehens ein. Die moralische Tragweite, die Orientierungshilfen für das eigene Leben, die Lehren, die daraus zu ziehen seien. Besonders schlimm fand Alicia seine Manie, alle paar Sätze einmal zu lächeln. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Der Tod war offenbar eine der wenigen, biologischen Funktionen, die von solchen Religionen nicht mißbilligt wurden.
Sie versuchte, sich den lebenden Brad in Erinnerung zu rufen, aber sie sah immer nur den ehrgeizigen Studenten vor sich. So sehr sie es bedauerte, wirklich gekannt hatte sie ihn nicht. Vielleicht hätte sie sonst gespürt, wie sehr er Zak als Rivalen empfand, vielleicht hätte sie geahnt, daß er Informationen zurückhalten würde, wäre in seiner Nähe gewesen, als der blaue Blitz aufzuckte, hätte ihn im letzte Moment noch zurückreißen können …
Wenn man dem Geistlichen glauben konnte, hatte der Junge tatsächlich einige, wenn auch nicht allzu aufregende Vorzüge besessen, doch die verblaßten für Alicia im grellen Licht ihrer Schuld zur Bedeutungslosigkeit. Brad war tot. Und sie war schuld daran.
Nach der Trauerfeier wußten weder Alicia noch Max, was sie mit sich anfangen sollten. So fuhren sie über den Freeway 55 zurück und landeten wie von selbst vor dem Laborkomplex der UCI, ohne daß einer ein Wort gesagt hätte. Was jetzt kam, war beiden klar. Max holte seine Aktenmappe aus dem Kofferraum, eine richtige Reisetasche, in die er jede Menge Papier und seinen Laptop gestopft hatte.
Alicia erklärte ihm, was sie inzwischen herausgefunden hatte. Er kratzte sich zerstreut das Kinn und ließ sie reden, aber sie sah, daß er mit seinen Gedanken weit weg war. Er war ein gutaussehender, ziemlich kräftiger Mann mit markanten Gesichtszügen, doch falls er auf seinem bisherigen Lebensweg größere Schicksalsschläge hatte hinnehmen müssen, so hatten sie keine Spuren hinterlassen. Passionierte Theoretiker wirkten oft wie Kinder, die sich ausschließlich in das Spiel mit komplizierten Ideen vertieften und es ablehnten, von der rauhen Wirklichkeit Notiz zu nehmen.
Sie war längst fertig und überlegte schon, ob sie einfach gehen sollte – vielleicht konnte sie Jill anrufen und sich irgendwo mit ihr verabreden – als Max zögernd sagte: »Ich habe mir auch ein paar Gedanken gemacht …«
»Was für eine Überraschung!« Noch mehr Theorie …
Er grinste. »Die Idee mit dem Wurmloch war Ihnen so sehr zuwider …«
»Brad dachte genauso, wissen Sie noch?«
»Stimmt. Seine Skepsis wird mir fehlen; wir werden sie noch dringend brauchen.«
»Das klingt ja ganz so, als könnte mir eine ordentliche Dosis davon nicht schaden.«
Sie rechnete es ihm hoch an, daß er auch darauf grinste, doch dann saßen sie lange im kalten, fahlen Neonlicht des großen Saales und sahen sich verwirrt an, bis er sich endlich durchringen konnte, seine Überlegungen vor ihr auszubreiten. Das Schiff der Theorie konnte zwar voller Zuversicht in See stechen und auf der Flut der höheren Mathematik auch ein Stück weit schwimmen, doch die Segel waren nur mit Fakten zu füllen. Nun hatte Max mehr Informationen über die Kugel, als er verarbeiten konnte. Und da es ihm wie den Meteorologen leichter fiel, große Klimaveränderungen zu prognostizieren, als eine Wettervorhersage für den nächsten Tag zu liefern, stützte er sich zunächst auf das, was schon vorhanden war.
»Ich habe mich nach Präzedenzfällen umgesehen«, begann er. »Dazu habe ich die Datenbanken unter den Schlagwörtern ›Makropartikel‹, ›Quark-Gluon‹ und ›Plasma‹ abgesucht – ohne etwas Brauchbares zu finden.« Er sah sie fast schuldbewußt an, ein Mundwinkel war selbstironisch nach unten gezogen, und er wirkte müde und abgespannt; aber sie selbst sah vermutlich noch schlimmer aus, dachte Alicia. »Also mußte ich auf meinen eigenen Verstand zurückgreifen, und der hat mir eine verrückte Idee geliefert.«
»Ich brauche konkrete Antworten«, sagte sie. Sie mußte irgendeine Quelle finden, die ihr neue Kraft gab. »Ist die Idee verrückt genug, um zuzutreffen?«
»Wahrscheinlich ist sie unmöglich. Genügt das?«
»Hoffentlich.« Ihr Lächeln fiel ziemlich trüb aus. »Schießen Sie los.«
»Ich denke, die Kugel ist etwas Ähnliches wie ein Wurmloch, aber sie verbindet uns nicht mit einem anderen Ort in unserer Raumzeit, sondern …«
»Ich kaufe Ihnen noch nicht einmal die Wurmlochgeschichte ab, und jetzt wollen Sie noch weitergehen …«
»… mit einer ganz neuen Raumzeit.«
»Wie?«
Max zog einen Stapel Fotokopien aus seiner Mappe. »Ich habe mir einige Aufsätze angesehen, die Alan Guth zusammen mit einigen anderen in den neunziger Jahren geschrieben hat. Seine Theorie klingt sehr ausgefallen, könnte aber passen.«
»Eine eigene Raumzeit?«
»Passen Sie auf, wir gehen jetzt zurück bis zur ersten Sekunde nach dem Urknall. Um den auszulösen, brauchte man etwa 1089 Grundbausteine – Protonen, Elektronen, Neutronen, Photonen, Neutrinos. Also eine ganze Menge. Aber noch etwas früher, bevor sich das Universum aufbläht, bevor die Sache richtig anfängt, braucht man nicht mehr als ein Scheinvakuum.«
Das Standardszenarium von der Entstehung des Universums kannte sie noch aus der Grundschule, damit hatten die Elementarteilchenphysiker schon vor Jahrzehnten die Kosmologie möbliert. Inzwischen gehörte es zur Allgemeinbildung wie die Geschichte des Rock ‘n’ Roll von der amerikanischen Popmusik über die britische Invasion und die Psychedelic-Welle bis zum langsamen Niedergang. Eine Kleinstregion wird – warum auch immer – zu einem höheren Energiezustand angeregt. Laut den eine Generation zuvor entwickelten ›Grand Unified Theories‹, die versuchten, drei der vier fundamentalen Wechselwirkungen in einem Modell zu vereinen, war dafür nur ein Körnchen Scheinvakuum mit einem Durchmesser von 10-28 cm und einem einzigen Gramm Masse erforderlich. Mit anderen Worten, so gut wie nichts. Doch die Materie wurde so stark komprimiert, bis sie 1080 mal dichter war als Wasser. Kein bekanntes, technisches Verfahren war dazu imstande.
»…wenn also ein solches Scheinvakuum entsteht«, sagte Max gerade, »dann müßte sich zwischen ihm und uns sofort ein Flaschenhals bilden.«
»Ein ›Flaschenhals‹?« Sie verzog skeptisch die Lippen.
Sie konnte seiner Terminologie nur mit Mühe folgen, aber das ging ihr bei Theoretikern häufig so. Er hatte bereits einige Computerskizzen generiert und die Ausdrucke mit der Hand beschriftet. Anhand dieser Darstellungen versuchte sie sich nun vorzustellen, wie das Scheinvakuum innerhalb des Normalraums, dem achten Vakuum, in dem die Menschheit lebte, eine sogenannte ›Blasenwand‹ bildete.
»Ein Flaschenhals ist also eine Delle in unserer Raumzeit – dem ›echten Vakuum‹. Die Delle verkörpert ein Scheinvakuum und wird sehr rasch tiefer. Die Zeichnung hier ist auch geometrisch richtig. Sobald dieScheinvakuumblase« – er schraffierte die Knolle an der Unterseite des Raumzeit-Trichters – »genügend Spielraum hat, kann sie wachsen, ohne in unserer Raumzeit Platz einzunehmen.«
Sie wußte aus langer Erfahrung, daß sie eine Theorie, die sie nicht gleich begriff, am besten in kleine Teile zerlegte und auf jedem Stück so lange herumkaute, bis sie es verdaut hatte. »Wenn sich das Scheinvakuum ausdehnt, schafft es also einen neuen Raum.«
»Genau. Einen neuen Raum. Das ist sehr wichtig. Die Ausdehnung geht nämlich nicht auf unsere Kosten. «
»Und die Nabelschnur, die uns mit der Blase verbindet, ist Ihrer Meinung nach …«
»Ein Ende davon ist eine Kugel und befindet sich in unserer Raumzeit. Wurmlöcher dieser Klasse hat bisher noch niemand so richtig analysiert.«
»Warum ist sie fest?« Zurück zu den Anfangsfragen.
»Weil die eigene, stark verdichtete Raumzeit, aus der die Nabelschnur besteht, wie eine unvorstellbar harte Substanz erscheint, die nur Licht durchläßt, aber nichts sonst.«
»Etwas Ähnliches haben Sie schon einmal gesagt.« Zu Brad, dachte sie, und fragte, um sich von der Erinnerung abzulenken, rasch weiter: »Warum soll ich Ihnen jetzt glauben?«.
»Weil es die einzige Erklärung dafür ist, warum wir da vorne eine stabile Kugel haben und kein winziges, Schwarzes Loch.«
»Ich komme immer noch nicht mit. Diese neue Raumzeit schnürt sich doch immer mehr ab und müßte sich demnach immer weiter entfernen, richtig?«
»Aber sie dehnt sich auch aus. Inwieweit sich das gegenseitig aufhebt, kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Was steht denn in den alten Aufsätzen?« Sie blätterte skeptisch die Fotokopien durch und las gelegentlich eine Überschrift, ohne damit etwas anfangen zu können.
Max spielte mit seiner Kreide herum, ein deutliches Zeichen, daß er sich seiner Sache nicht sicher war. »Durch eine einfache Rechnung läßt sich ermitteln, daß die Abschnürung in etwa 10-37 Sekunden erfolgen müßte, also ziemlich schnell.«
Anstatt ihm ins Gesicht zu lachen, schaute sie auf ihre Armbanduhr.
»Müssen Sie weg?« fragte Max.
»Nein, ich sehe nur nach, ob die 10-37 Sekunden schon vorbei sind.«
Er lachte schallend, aber sie sah ihm an, daß ihm seine Theorie selbst nicht geheuer war, und daß es ihm am Herzen lag, sie zu überzeugen. Das war an sich rührend, aber sie hielt sich lieber an die Physik. »Wie würde Ihre Raumzeit denn in dieser Zeit, in Ihren 10-37 Sekunden aussehen, bevor sie verschwände?«
Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und befingerte immer noch das Kreidestück. »Nach der Standardrechnung müßte sich ein unendlich kleines Schwarzes Loch bilden, das seine Energie mittels Hawking-Strahlung in etwa 10-23 Sekunden abgeben würde. Das entspräche einer Explosion im Megatonnenbereich.«
»Wusch! Mann, ihr Theoretiker kennt wirklich nichts Schöneres, als mit Unmöglichkeiten um euch zu werfen.«
Alicia mußte lächeln. Selbst wenn Gott jemals auf diese Weise ein Universum erschaffen hätte, wäre es laut Max’ Theorie in 10-37 Sekunden auf Nimmerwiedersehen den Abfluß hinuntergespült worden. Eine Zeile aus einem alten Woody Allen-Film fiel ihr ein, wonach Gott, falls es IHN denn überhaupt gab, zumindest nicht böse war. Schlimmstenfalls konnte man IHM Unfähigkeit vorwerfen.
Max ließ sich nicht beirren. »Es gibt allerdings ein Aber! Das Ergebnis berücksichtigt nicht die Möglichkeit sogenannter ›miracle struts‹ oder Wunderstreben, jenerRegionen mit negativer Energiedichte, von denen ich Ihnen schon einmal erzählt habe. Wenn sie sich an der richtigen Stelle befinden, verhindern sie die Entstehung des Schwarzen Loches. Statt dessen bekommen wir eine neue Art von Wurmloch, das von der Spannung in diesen Streben aus negativer Energiedichte offengehalten wird.«
»Warum nicht gleich von Engeln?«
Er nickte seufzend. »Ich weiß, das klingt wie heiße Luft. Aber wir haben hier ein reales Objekt, das in einem Quark-Gluon-Plasma entstanden ist. Bisher konnte niemand beweisen, daß eine Zone negativer Energiedichte in der richtigen Größe – so groß wie die Kugel da drüben – unmöglich ist.«
»Wie konnten die Urankollisionen im RHIC dazu führen?« fragte sie.
»Tunneleffekt«, antwortete Max.
Sie blinzelte überrascht. Ein Quantensystem war imstande, von einem Zustand in eine völlig andere Konfiguration zu springen, auch wenn das dem klassischen Energieerhaltungssatz widersprach. Im Studium hatte man ihr dazu eine Standardaufgabe gestellt: Berechnen Sie, wie oft ein Gefangener gegen eine Wand anrennen müßte, um einen quantenmechanischen ›Tunnel‹ zu schaffen und so zu entkommen. Daher hatte die Tagespresse den Ausdruck Quantensprung, den sie nun – wie üblich – ohne Sinn und Verstand verwendete.
Alicia hatte die Aufgabe gelöst und war von der Schlichtheit des Ergebnisses fasziniert gewesen. Die Chancen verringerten sich exponentiell mit der Dicke der Mauer und waren daher unendlich gering, es sei denn, die Mauer wäre so dünn, daß der Gefangene sie auch mit dem Finger durchstoßen könnte. Doch im Prinzip konnte er, wenn er nicht aufgab, irgendwann eine Mauer jeder Dicke durchdringen. Es mochte eine Million Jahre dauern, aber im Prinzip …
»Sie müssen das so sehen«, sagte Max. »Tunneleffektbedeutet, daß ein System mittels Energie verbotene Regionen des klassischen Konfigurationsraumes ›erkunden‹ kann. Wenn erst ein noch so winziges Scheinvakuum entstanden ist, hat es die Möglichkeit, einen Tunnel in eine andere Raumzeit zu schaffen, selbst wenn diese von der unseren sehr verschieden sein sollte, immer vorausgesetzt, der Endzustand widerspricht nicht der allgemeinen Relativitätstheorie.«
»Das ist so weit hergeholt, daß ich erst solide Zahlen sehen müßte, um daran zu glauben.« Sie setzte sich auf eine Laborbank. An sich hatte sie gegen solche Spekulationen nichts einzuwenden, sie war nur ziemlich sicher, daß sie ins Leere gingen. Die alten Zweifel an Max regten sich wieder, obwohl er sich in den letzten Tagen als wahrhaft treuer Freund erwiesen hatte.
Er schüttelte so heftig den Kopf, daß seine sorgsam fixierte Tolle aus der Form geriet. »Ausgeschlossen. Dazu brauchte man eine vollständige Theorie der Quantengravitation, und die gibt es nicht. Am nächsten kommt dem noch die Arbeit von drei Typen am MIT, die ihre Hypothesen in einen Topf geworfen haben.«
Er schob ihr einen dicken Aufsatz mit dem Titel ›Is it possible to Create a Universe in the Laboratory by Quantum Tunneling?‹ von Edward Farhi, Alan Guth und Jemal Guven aus dem Jahre 1990 zu, der in der angesehenen Zeitschrift Nuclear Physics erschienen war. Ein gewichtiger Beweis, aber Alicia ließ sich von langen, theoretischen Abhandlungen nur selten beeindrucken; irgend etwas sagte ihr, daß jede wirklich gute Idee sich in schlichter, knapper Form darstellen ließ – und daß ein Theoretiker sich darum bemühen sollte, wenn er erwartete, nicht nur von Fachkollegen gelesen zu werden.
Sie runzelte die Stirn. »Sie glauben, was da steht?«
»Ich glaube, daß die Berechnung viele Möglichkeiten offenläßt. Sehen Sie sich das an …« Wieder ein Aufsatz, diesmal von Alan Guth allein. »Sehen Sie? Ich zitiere wörtlich: ›Falls ein Scheinvakuum mit einer Energie-dichte in der Nähe der Planck-Skala existiert, was nach allen bisherigen Erkenntnissen keinesfalls ausgeschlossen werden kann, läge die Wahrscheinlichkeit einer Tunnelung bei einer Größenordnung von Eins.‹ Das ist die letzte Zeile der Rechnung.«
Sie wußte, daß alle Materie in einem winzigen Zeitsplitter unmittelbar nach dem Urknall auf eine nach der Planck-Formel zu errechnende Dichte komprimiert wurde. In diesem Augenblick schlossen sich die Schwerkraft und alle anderen Kräfte zu einer einzigen, starken Metakraft zusammen, und das gab der Schöpfung freie Hand. Die Planck-Energie entsprach der chemischen Energie eines vollen Benzintanks – in einem einzigen Teilchen konzentriert. Ein solcher Quantenzustand war vermutlich möglich, aber … »Na und? Das beweist noch lange nicht, daß ein Unfall am RHIC …«
»Das vielleicht nicht, aber etwas anderes.« Er stieß sich von der Tafel ab und kam auf sie zu. »Nämlich Ihre Daten.«
»Inwiefern?«
»Die Wasserstoffrekombinationslinie. Ihre Detektoren haben zugesehen, wie Elektronen und Protonen den Bund der Ehe schlossen und den Wasserstoff zeugten.«
»Und das bedeutet?«
»Die Kugel ist ein Fenster in ein anderes Universum – das eben erst entstanden ist.«
Alicia zog die Stirn in Falten. »Ein ganzes Universum …?«
»Mit Ihrem ›Mini-Bang‹ haben Sie eine eigene, kleine Raumzeit geschaffen, die nicht leer ist, sondern wie die unsere Masse besitzt. Deshalb haben Sie immer wieder das Spektrum eines heißen Schwarzkörpers bekommen. Das Mini-Universum expandierte und kühlte ab, aber die Strahlung wurde zunächst noch von der Materie reabsorbiert. Daher das einfache Spektrum. Erst als eine entsprechende Größe erreicht war, dünnte die Materieaus, und die Strahlung wurde schwächer. Sobald es das Klima zuließ, fanden sich Elektronen und Protonen zusammen und feierten Hochzeit. Der Photonenausbruch war die Heiratsanzeige.«
Jetzt begriff sie. »Genau das fangen wir doch heute noch an unserem Himmel auf? Die Hintergrundstrahlung, die seit der Bildung der Atome im Universum unterwegs ist.«
»Genau. Als sie abgegeben wurde, war sie ziemlich heiß: 3000 Grad. Seither hat sie sich immer weiter abgekühlt, und jetzt bevölkert sie unseren Himmel nur noch in Form von schwachen Mikrowellen. Die Wasserstoffrekombinationslinie sehen wir überhaupt nicht mehr. Sie wird von der Infrarotstrahlung aus den Staubwolken überdeckt. Aber Sie konnten beobachten, wie sie aus der Kugel kam.«
»Ich habe von der Kosmologievorlesung, die ich einmal belegt hatte, nicht viel behalten, aber ich weiß noch genau, daß sich die Materie erst lange nach dem Urknall zu Wasserstoff verbunden hat.«
Er nickte. »Bei uns schon. Sie haben ganz recht, was den Zeitpunkt der Wasserstoffentstehung betrifft; ich habe nachgeschlagen. Damals gab es eine ganze Menge sonderbarer Erscheinungen. So war etwa die Energiedichte des Lichts ungefähr gleich der Energiedichte der Materie. Dann geriet das Licht ins Hintertreffen, und die Atome konnten entstehen, und genau das könnte sich derzeit auf der anderen Seite unseres Fensters abspielen.«
Er wollte ablenken, aber Alicia ließ nicht locker. »Wann ist es passiert?«
Er gab nur widerwillig Auskunft. »Die Hintergrundstrahlung in unserem Universum geht auf ein Ereignis zurück, das etwa vierhunderttausend Jahre nach dem Urknall stattfand.«
Sie hatte noch jedesmal Lunte gerochen, wenn ein Theoretiker sich um den entscheidenden Punkt herumdrücken wollte. »Damit ist Ihre Theorie doch hinfällig? Die Kugel ist erst ein paar Wochen alt.«
»Richtig.« Er warf die Kreide auf die Ablage. »Das heißt, wir wissen noch nicht genug. Wenn die Kugel ein Guckloch in ein Universum ist, dann läuft auf der anderen Seite die Zeit erheblich schneller ab.«
Sie winkte ab, das Zeitproblem war zweitrangig; zuerst mußte sie den Hauptgedanken verarbeiten. »Ein ganzes Universum?« Sie starrte die unschuldig glänzende Kugel an. »Und das ist ein Fenster dazu?«
»Ja, ein Fenster, das durch die Spannung der negativen Energiedichte offengehalten wird. Jenseits davon wiederholt sich unsere eigene Geschichte, nur schneller.«
»Wieviel schneller?« Das ging allmählich über ihren Verstand. »Wie schnell?«
»Äh … damit muß ich mich erst noch befassen.« Er zuckte die Achseln; die Fassade der Selbstsicherheit bröckelte bereits wieder ab. Wenn eine Theorie sich in derart luftige Höhen wagte, zerfiel sie so leicht wie ein Schmetterlingsflügel und ließ sich nur mit viel gespielter Zuversicht vor dem Absturz bewahren.
»Sollten wir uns nicht lieber vergewissern, daß wir überhaupt wissen, wovon wir reden«, fragte sie schüchtern.
Sein Grinsen fiel etwas zittrig aus. »Leider können wir keinen Experten fragen – den gibt es nämlich nicht.«
Was sein Gesicht jetzt ausdrückte, war ihr nur allzu vertraut: sie wußte, wie es war, sich mit kniffligen Problemen herumzuschlagen, so völlig darin aufzugehen, daß für die beschaulichere Welt der normalen Menschen und ihrer kleinen Freuden nichts mehr übrig blieb. Man mußte lernen, ständig in zermürbender Ungewißheit zu leben, und nicht nur, soweit es das gerade aktuelle Problem betraf; man wurde auch den Verdacht niemals los, von vornherein falsch angefangen, die falschen Fragen an die Realität gestellt zu habenund nun von Mutter Natur verdientermaßen mit Schweigen bestraft zu werden.
In der Art, wie er die Schultern zurücknahm, lag eine unbewußte Zuversicht, die ihr zu Herzen ging. War es möglich, daß er recht hatte? Todmüde, wie sie war, hätte sie wohl nach jedem Strohhalm gegriffen, aber – sie wünschte sich sehnlichst, daß seine Theorie zutreffen möge. Dann würde Brads tragischer Tod – in der Sonnenglut der Schöpfung, dachte sie zitternd – wenigstens etwas aufgewogen durch die Geburt eines ganzen, neuen …
»Kosmos … sollen wir sie so nennen?« Als sie diesmal zu der verhüllten Kugel hinübersah, spürte sie eine Mischung aus Angst und Staunen – Ehrfurcht.
»Nein, der Name gefällt mir nicht. Der Kosmos ist groß. Das Ding hier ist nur ein Spielzeug.« Auch sein Blick ruhte nun auf dem stummen Todesbringer. »Diese harte Oberfläche … Vielleicht ist sie so etwas wie ein stabiler Ereignishorizont? Der außer vereinzelten Photonen kaum etwas durchläßt. Vielleicht wurde das UV so stark gestreut, daß es durch einen winzigkleinen Transitraum schlüpfen konnte …«
Sie seufzte. »Das sind alles nur Vermutungen.«
»Nach der Promotion spricht man nicht mehr von Vermutungen, sondern von Hypothesen.«
Sie lächelte nur und betrachtete weiter den abgedeckten U-Magneten. Das Ding, das sich unter der Hülle verbarg, jagte ihr unvermittelt einen kalten Schauer über den Rücken.
Max ließ sich nicht beirren. »Da sie feste Stoffe nicht durchläßt, können wir im wahrsten Sinne des Wortes anklopfen.«
»Aber es klingt nicht hohl. Die Schallwellen werden einfach absorbiert. Vielleicht sollten wir das zu messen versuchen?«
»Klar, messen Sie, soviel Sie wollen. Alles kann wichtig sein. Vielleicht sollten wir eine Anleihe bei der Gravitationstheorie nehmen und von einer neuen Art von Ereignishorizont sprechen?«
»Ein Theoretikername.«
»Hmm, richtig.« Er folgte ihrem Blick und betrachtete die Lichtschutzhaube aus schmalen Augen. »Eine Raumzeit im Taschenformat, die aber in ihrer eigenen Geometrie die gleichen Strukturen enthält wie die unsere.«
»Trotzdem klingt ›Kosmos‹ leicht übertrieben.«
»Etwas weniger Anspruchsvolles vielleicht?« überlegte er.
»Ein Deminuitiv? Wie wäre es mit ›Cosm‹?«
»Hmmm.« Er kniff die verquollenen Lider zusammen, dann nickte er. »Besser als all die mathematischen Begriffe, mit denen ich herumgespielt habe …«
»Dann also Cosm«, sagte sie. Irgendwie paßte der Name.