5Als Onell sie am nächsten Tag in sein Büro im vierten Stock rufen ließ, wußte sie gleich, daß es Ärger geben würde. Vom Refugium des Fachbereichsvorsitzenden hatte man einen weiten Blick über den inneren Park, wo jetzt im Spätfrühling alles grünte und blühte. Da die UCI ihr Abwasser wiederaufbereitete, brauchte sie bei der Bewässerung ihrer Grünanlagen nicht zu sparen; ringsum färbten sich die Hügel bereits braun, aber der Campus würde den ganzen Sommer über grün sein.

Onell trug zu seinem grauen Anzug ein braunes Hemd und eine schlammbraune Krawatte, eine nicht gerade umwerfende Kombination. Während er Thema Eins abhandelte, machte er ein gequältes Gesicht und spielte nervös mit seinem Füller. Der Sicherheitsausschuß der UCI habe seine Empfehlungen abgegeben, er selbst habe natürlich auch eine Unterredung mit Vizekanzler Lattimer geführt, und nun herrsche allenthalben Einigkeit darüber, daß gründliche Sicherheitsvorkehrungen unerläßlich seien »Wir gehen davon aus, daß besonders Sie dafür Verständnis haben, und rechnen bei den notwendigen Maßnahmen mit Ihrer Unterstützung.«

Ein kleiner Kobold bewog sie, auf Onells mürrischen Ton mit einem munteren: »Klar doch. Worum geht’s denn?« zu antworten.

»Die Sicherheit – das heißt, die Abteilung für Umweltschutz und Sicherheit – ist der Meinung, daß Ihr Labor isoliert werden sollte, solange Brads Todesursache nicht völlig geklärt ist.«

Darauf war sie natürlich gefaßt. »Ich bin ziemlich sicher, daß die Kugel die Ursache war. Wenn unsereÜberlegungen richtig sind, besteht inzwischen keine Gefahr mehr.«

»Ich werde zur Begutachtung der physikalischen Aspekte des Falls ein eigenes Fachbereichskomitee ernennen müssen«, erklärte er feierlich. »Doch in erster Linie müssen wir den Sicherheitsausschuß davon überzeugen, daß das Labor keine Bedrohung darstellt.«

»Und was hat sich der Ausschuß unter angemessenen Sicherheitsvorkehrungen‹ vorgestellt?«

»Eine Betonmauer um die Kugel …«

»Sinnlos.«

»… solange die Ursache nicht zweifelsfrei festgestellt ist.«

»Außerdem sehr zeit- und arbeitsaufwendig.«

»Zeit spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, ein weiteres Unglück zu verhindern.«

»Hören Sie, Brads Tod geht uns allen sehr nahe. Aber ich muß meinem wissenschaftlichen Instinkt folgen und dieses exotische Objekt …«

»Das Sie bisher nicht in den Griff bekommen konnten. Und dessen Herkunft, gelinde gesagt, problematisch ist.«

Die häufige Verwendung des Wortes ›problematisch‹ in Akademikerkreisen hatte sie schon immer amüsiert, doch diesmal steckte offenbar mehr dahinter. »Sie haben mit Brookhaven gesprochen?«

Onells maskenhaft starres Gesicht veränderte sich nicht, aber der Füller in seiner Hand drehte sich noch hektischer. »Brookhaven hat von dem Unfall gehört; er wurde in New York in den Nachrichten erwähnt.«

»Und dann hat man zwei und zwei zusammengezählt.«

»Vizekanzler Lattimer sagt, die dortige Verwaltung hält die Kugel für ihr Eigentum und will sie auf dem Rechtsweg zurückfordern.«

»Wird sich die UCI vor mich stellen?«

»Das bleibt abzuwarten. Zuerst müssen wir auf die Forderungen des Sicherheitsausschusses eingehen.«

»Ich hasse die Betonbunkermethode. Wie lange würde das dauern?«

»Vielleicht einen Monat. Zeit spielt keine …«

»Rolle. Ich habe es gehört. Aber ich bin nicht dieser Meinung.«

Onell blinzelte überrascht. »Wieso?«

»Die Kugel verändert sich. Wir wissen nicht, warum, aber es ist so. Was Brad zugestoßen ist, wird sich nicht wiederholen, wenn unsere Überlegungen richtig sind, aber dafür könnten andere Dinge geschehen.« Onell zog die Augenbrauen hoch, und sie hob die Hand. »Nichts Gefährliches, glauben Sie mir.«

Sein Blick wurde verschlagen. »Was wollen Sie? Sie haben hier eigentlich gar nichts zu fordern, die Sicherheit geht über alles. Die Universität ist durch diesen Vorfall unfreiwillig ins Rampenlicht geraten, und die Schuldfrage sowie die Frage der Haftung bedürfen noch einer eingehenden Untersuchung. Brads Eltern werden auf jeden Fall vor Gericht gehen. Wir müssen …«

»Dem Sicherheitsausschuß einen Gegenvorschlag unterbreiten. Warum schaffen wir die Kugel nicht einfach weg aus dem Labor und bringen sie an einen abgelegenen Ort?«

»Hmm, das wäre vielleicht möglich. Wohin?«

»Ins Observatorium.«

Ein spontaner Einfall, aber vielleicht gar nicht so dumm. Hauptsache, die Sicherheitszombies trampelten nicht in ihrem Labor herum und hielten sie wochenlang von der Arbeit ab.

Onells Füller kam endlich zur Ruhe. »Aber dort werden andere Forschungsprojekte durchgeführt. Wenn nun Außenstehende …«

»Das geht alles per Fernbedienung.« Die Astronomen steuerten das Observatorium über ihre Computer undbeschränkten sich bei ihren Beobachtungen bewußt auf den Infrarotbereich; der optische Bereich hatte infolge der Lichtverschmutzung in Orange County längst ausgedient. »Die beste Abschirmung ist immer noch eins durch r2

Ein alter Physikerwitz, der sich auf die Abnahme jeglicher Intensität, vom Licht bis zur Druckwelle einer Explosion, mit dem Quadrat der Entfernung bezog. Onell sah sie mißtrauisch an, ließ sich nicht einmal zu einem diplomatischen Lächeln herbei. »Ich weiß nicht, ob das reicht.«

»Schön, dann stapeln wir eben noch Sandsäcke um das Gebäude herum. Die sind rasch zu beschaffen, leicht zu transportieren und obendrein billig.«

»Wie wollen Sie eigentlich die Kugel transportieren?«

»Sie bleibt im Magneten, und wir schaffen alles zusammen auf den Berg.«

»Hmm. Ich werde mit der Sicherheit reden, aber …«

»Es wäre die schnellste Lösung. Wenn man das Risiko fürchtet, sollte man das Objekt als erstes aus dem Gefahrenbereich entfernen.«

Er verzog spöttisch den Mund. »Rasch denken können Sie wirklich.«

»Das muß ich auch. Ich möchte an dem Ding weiterarbeiten, Martin.«

»Ich verstehe. Wenn etwas Vernünftiges dabei herauskommt …«

Sie nickte nur.

Onell erhob sich, bei ihm gewöhnlich ein Zeichen, daß er das Gespräch für beendet hielt, doch dann schnippte er mit den Fingern. »Ach ja, bevor ich es vergesse – Detective Sturges hat angerufen. Brads Tod wird als Unfall behandelt.«

»Wirklich?« Sie hätte nicht erwartet, daß die Erleichterung so stark sein würde. »Was … warum hat das so lange gedauert?«

Onell zuckte die Achseln. »Es ist schon ungewöhnlich, wenn ein Mensch ohne erkennbare Ursache verbrennt. Die Polizei hat viele Angehörige des Fachbereichs befragt, sämtliche Indizien genau geprüft und lange überlegt …«

»Wofür hat man sich denn besonders interessiert?«

»Für Brad und seine Freunde, für Sie und das Labor.«

»Man hat also nach einem Mordmotiv gesucht?«

»So kraß würde ich es nicht ausdrücken. Zu mir waren die Leute sehr höflich, und ich könnte auch nicht sagen, daß die Fragen in eine bestimmte Richtung gegangen wären.«

Im Grunde hatte sie immer gewußt, daß die Polizei den Fall noch untersuchte, doch jetzt wurde ihr klar, daß sie das Thema einfach verdrängt und sich lieber auf die Physik konzentriert hatte. Es hatte funktioniert; sie hatte seit Tagen kein einziges Mal an Sturges gedacht. Das Unterbewußtsein hatte eben seine eigenen Methoden, das hatte sich wieder einmal deutlich gezeigt.