2Alicia kam erst spät nachts aus den Bergen zurück. Am nächsten Morgen ging sie ins Espresso Yourself an der Forest Avenue, trank einen Kaffee und blätterte in der Los Angeles Times. Obwohl sie die üblichen Skandal-, Klatsch- und Politikspalten nur überflog, stellte sie fest, daß sie sich kaum noch voneinander unterschieden. Die Schlagzeile, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, stand erst auf der unteren Hälfte der Titelseite. Wohl nicht wichtig genug für einen Aufmacher.

 

EXPLOSION IN PHYSIKLABOR AUF LONG ISLAND

(AP) Das Brookhaven National Laboratory, das neueste, staatliche Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Hochenergiephysik, wurde durch eine schwere Explosion erheblich beschädigt. Der Unfall ereignete sich während eines Experiments, bei dem Urankerne mit hoher Energie bewegt wurden. Obwohl an der Unfallstelle keine Radioaktivität gemessen wurde, haben verschiedene Umweltschutzgruppen, wie von offizieller Seite gemeldet, die Forderung erhoben, eigene Teams in das Labor schicken zu dürfen.

Ein ganzer Abschnitt des ringförmigen Teilchenbeschleunigers scheint aufgerissen zu sein. Aus Hubschraubern konnte zwischen den aufgebogenen Masten und Trägern des zerstörten Rings eine ›glänzende Masse‹ beobachtet werden. Die Unfallstelle wird derzeit noch abgesucht, ein Angestellter des Labors wird vermißt.

Die Ursache dieses verheerenden Unfalls – die Reparaturkosten werden bereits auf mehrere zehn Millionen Dollar geschätzt – ist offenbar unbekannt …

 

Sie stand auf, ließ die dampfenden Pfannkuchen, die man ihr soeben serviert hatte, unbeachtet stehen und lief aus den Lokal.

 

Ein warmer Sommerregen fiel auf die glänzende Silberkuppel. Es war früh am Abend. Im Licht der Bogenlampen schlängelten sich kleine Rinnsale, vom böigen Seewind immer wieder aus der Bahn gedrängt, über die glatte Wölbung. Alicia hatte sich nur rasch eine Schultertasche und einen Windbreaker aus ihrer Wohnung geholt, dann war sie sofort zum John Wayne-Flughafen gerast und hatte den ersten Flug zum JFK genommen. Doch auf diesen Anblick war sie trotz der fieberhaften Unruhe, die sie unterwegs befallen hatte, nicht gefaßt.

»Ist jemand verletzt?« fragte sie.

»Ein Techniker hat tödliche Schädelverletzungen erlitten«, sagte Dave Rucker, der neben ihr stand. »Wir hatten verdammtes Glück, daß es nicht mehr Opfer gab. Hier ist verdammt viel Stahl durch die Luft geflogen.«

Alicias Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Zuerst Brad und jetzt noch ein Menschenleben … »Ich will mir das aus der Nähe ansehen.« Sie ging auf die Böschung des RHIC-Rings zu.

»Äh … die Sicherheit möchte nicht, daß irgend jemand …«

»Ich unterschreibe auch eine Haftungsausschlußerklärung.«

Die Anlage war mit feinem Maschendraht umzäunt und von Wachposten umstellt, doch als Dave ihnen zunickte, durfte sie passieren. Man mußte höllisch aufpassen, um nicht im Schlamm auszurutschen. Die Chromkuppel ragte, umrahmt von Betonbrocken und verbogenen Stahlträgern, aus dem geborstenen Beschleunigerring hervor.

»Wie groß?«

»Etwa sechzehn Meter im Durchmesser. Soweit wir bisher feststellen konnten, hat sie alles beiseite gedrückt – die Ringröhre, die BRAHMS-Detektoren, einfach alles.«

»Aber sie hat nichts absorbiert, was im Labor war?«

»Offenbar nicht.« Dave seufzte. »Nur alles weggeschleudert – Wamm! Hat sich angehört wie eine Bombe.«

»Sieht genauso aus wie die unsere, nur größer.«

»Ich bin froh, daß Sie sofort gekommen sind. Als Sie nicht angerufen haben …«

»Ich war noch gar nicht in der UCI«, sagte sie zerstreut. Der Regen war stärker geworden, und sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Ist es eine vollkommene Kugel?«

»Scheint so. Ein Team war im Tunnel und hat berichtet, es sähe ganz danach aus.«

»Schalten Sie die Scheinwerfer aus.«

»Warum?«

»Tun Sie’s einfach.«

»Ich muß aber wissen, warum.«

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Es ist nur so eine Idee.« Sie wartete einen Moment, dann sagte sie: »Bitte.«

Während Dave zu einigen rasch aufgestellten Zelten lief, um sich bei den Männern, die in gelben Regenjacken danebenstanden, die Erlaubnis zu holen, ging Alicia, ohne lange zu fragen, auf die Kugel zu. Die Regentropfen verdampften nicht, wenn sie auftrafen. Sie strich über die harte Außenhülle – nicht wärmer als der Boden. In diesem Moment erloschen die Scheinwerfer, und sie wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheitgewöhnt hatten. Die Kugel war nicht heller als die Nacht. Die Stimmen von unten waren verstummt, sie hörte nur den Regen, der auf die Bäume und auf ihre Kapuze prasselte. Alles schien den Atem anzuhalten.

Dann kam Dave mit schmatzenden Schritten hinter ihr den Abhang herauf. »Geht klar, aber nur für eine Minute.«

»Sehen Sie was?«

»Äh … nein. Sollte ich das?«

»Sie gibt kein sichtbares Licht ab. Haben Sie UV-Detektoren hier?«

»Wir bauen gerade eine ganze Batterie von Diagnostiken auf. Anweisung des Forschungsdirektors. Keine Radioaktivität, soviel ist sicher. Das haben wir als erstes kontrolliert.«

»Wann haben Sie gemessen?«

»Binnen einer Stunde nach der Explosion.«

»In der Frühphase des Universums liefen viele Kernreaktionen ab. Ich hätte nicht ausgeschlossen, daß einige Teilchen nach außen dringen und eine Restmenge zerfallender Kerne zurücklassen würden, induzierte Radioaktivität.«

»Wir haben nichts gefunden«, drang Daves Stimme besorgt durch Nässe und Dunkelheit.

»Das wird die Umweltschützer gnädig stimmen.«

Dave lachte bitter. »Schon möglich.«

»Wie lange war der Versuch gelaufen, als es passierte?«

»Zwei Tage.«

»Gute Uranfluenz?«

»Ja, ein schöner Versuch.«

»Sie hatten Glück«, sagte sie und strich im Dunkeln mit beiden Händen über die glatte Oberfläche. »Ich weiß nicht, wodurch die Größe dieses Dings, seine Erscheinungsform in unserer Raumzeit bestimmt wird, aber es scheint ziemlich empfindlich zu sein. Es hätte noch größer ausfallen können.«

»Was, zum Teufel, ist es denn eigentlich?«

Wahrscheinlich hatte er bisher auf Fragen verzichtet, weil er nicht wußte, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Natürlich war sie im Labor nicht gut angeschrieben, aber jetzt war sie die Spezialistin, und Brookhaven stand ziemlich dumm da.

»Ein Universum, glaube ich.«

»Wie bitte?«

»Das genaue Erscheinungsbild in unserer Raumzeit hängt natürlich ganz entscheidend von den Bedingungen im Quark-Gluon-Stadium ab«, flüsterte sie vor sich hin. »Einzelheiten wie etwa die Größe innerhalb unseres Bezugssystems. Vielleicht auch die Zeitverschiebung …«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Unsere Kugel ist zehn Wochen älter, aber man kann vermutlich nicht davon ausgehen, daß die Evolution hier genauso schnell voranschreitet.«

»Was war mit Ihrem Studenten …?«

»Ganz richtig. Sie sollten das Gelände räumen lassen.«

»Sie meinen …?«

»Ich weiß es nicht. Auf der anderen Seite – verdammt, das ist nicht der richtige Ausdruck, ich sage wohl besser, am anderen Ende – befindet sich ein heißes Elementarteilchenplasma, das im Moment expandiert und sich abkühlt. Das Zeug ist verdammt gefährlich. Im Laufe der Evolution kann jederzeit etwas davon durchkommen.«

»Jeder…?«

»Es hat etwas mit der Rekombinationsphase zu tun, dem Zeitraum, in dem sich die Atome bilden, aber warum, wissen wir nicht.«

»Sie glauben, das Ding könnte hochgehen?«

»Nur eine Vermutung. Trotzdem sollten wir zusehen, daß wir von hier wegkommen.«

Sie stieg rasch die Böschung hinunter, und dabeirutschte sie im Schlamm aus und setzte sich ziemlich hart auf ihr Hinterteil. Die riesige Silberkugel in ihrem Rücken kam ihr vor wie eine Waffe, die auf sie gerichtet war.

 

Sie blieb noch einen Tag in Brookhaven, um vor einer Gruppe von Physikern und Verwaltungsleuten zu sprechen – ohne Presse und ohne Medien. Soviel war sie dem Labor schuldig, aber sie wollte nicht Orakel spielen. Und sie wollte sich auch nicht den giftigen Blicken und den gehässigen Bemerkungen von Leuten aussetzen, die sie nicht einmal persönlich kannten, aber offensichtlich jede Menge Gerüchte über sie gehört hatten.

Nun denn. Teilchenphysiker betrachteten sich weniger als Elite denn als Angehörige einer Priesterschaft. Der Direktor beschränkte sich bei der Vorstellung auf das Allernötigste und erwähnte nur ihre Verbindung über die UCI zu BRAHMS. »Vielleicht kann Dr. Butterworth etwas Licht in das Dunkel unseres Unfalls bringen«, sagte er und setzte sich. Die Geschworenen mögen Platz nehmen.

Sie trat vor die Menge – der größte Hörsaal des Labors war zum Bersten gefüllt – und begann in knappen, klaren Worten mit ihrem Bericht. Sie erzählte, wie alles angefangen hatte, beschrieb, ohne irgend etwas zu beschönigen, wie sie die Kugel aus Brookhaven fortgeschafft hatte, wie sie zu den ersten, vagen Einsichten gelangt war, und so weiter.

Die Menge begann zu murren und zu schimpfen, aber sie ließ sich nicht beirren, sondern ging über zu den ersten Experimenten und listete die rätselhaften Eigenschaften auf, die sie damals, vor einer ganzen Ewigkeit, für Zak an die Tafel geschrieben hatte. Von da an lauschte ihr das Publikum so gebannt wie einem Pilger aus einem fernen, unbekannten Land.

Allerdings war sie so plötzlich in den Lichtkegel dieses unbegreiflichen Ereignisses, dieser völlig unerwarteten Revolution getreten, daß viele Zuhörer nicht wußten, ob sie ihr zujubeln oder sie mit Verachtung strafen sollten. Vermutlich wäre sie an ihrer Stelle genauso unschlüssig gewesen.

Als sie zum Schwarzkörperspektrum und zur Rekombinationsstrahlung kam, lag tiefe Stille über dem Hörsaal. Brads Tod war nur ein weiterer Punkt auf der Kurve. Die Zeitverschiebung hielt sie inzwischen für mehr oder weniger gesichert, also mußte sie sich als nächstes in die Arena der Theoretiker wagen und Max’ Ideen über das Wesen der Kugeln zusammenfassen. Sie beschränkte sich jedoch auf ein paar spärliche Informationskrümel und betonte mehrmals, dies sei nicht ihr Spezialgebiet. Mit der anhaltend raschen Abkühlung und der Infrarotemission hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen, und so beschloß sie damit ihren Vortrag. Ihre Kugel war jetzt ziemlich genau zehn Millionen Jahre alt.

Stille. Ein paar Zuhörer begannen zaghaft zu klatschen, andere fielen ein, schließlich applaudierte der ganze Saal, und damit war die Sache entschieden. Ein berühmter Mann hatte einmal bemerkt, Applaus sei nur das Echo einer Banalität, aber das stimmte nicht, dieser Applaus war echt, und er tat ihr gut.

Dann kamen die Fragen.

Warum das nur bei Uranversuchen passiert sei und nicht bei Gold?

»Vielleicht liegt es am größeren Gesamtimpuls, vielleicht auch an der ellipsoiden Form der Urankerne, an den gelegentlichen Frontalkollisionen entlang der verlängerten Achsen.«

Wieso solche Kugeln nicht durch die kosmischen Strahlen entstanden seien, die doch im All andauernd aufeinanderprallten? Auch an der kosmischen Strahlung seien schließlich Urankerne beteiligt.

»Erstens, woher wollen wir wissen, daß sie nicht entstanden sind? Aber vielleicht wurden unsere Kugelndurch die Bedingungen im RHIC, durch die besondere Ausrichtung der Urankerne stabilisiert. Bei zufälligen Kollisionen im interstellaren Raum könnten durchaus instabile Kugeln entstehen, aber die würden sich nicht halten.«

Von hinten rief jemand, auch stabile Kugeln könnten zwischen den Sternen umherfliegen, wir würden es nur niemals erfahren. Und falls tatsächlich eine in unsere Atmosphäre stürzen sollte, würde sie den Aufprall mit 10 km/sek wahrscheinlich nicht überstehen. Alicia nickte und fügte hinzu: »Aber die Partie müßte in einem anderen Stadion ausgetragen werden.« Alles lächelte; sie mußte öfter daran denken, Wendungen aus der Sportsprache zu verwenden.

Ob sie allen Ernstes glaube, das Ding sei ein Tor in eine andere Raumzeit?

»An sich ja. Aber ich bin auch für andere Ideen offen. Bis morgen früh fällt den Theoretikern sicher eine Menge dazu ein.« Das bescherte ihr einen Lacher.

Okay, angenommen, die Kugel sei tatsächlich ein Durchgang, in welche Art von Universum führe sie dann? Einstein-de Sitter? Minkowski?

Sie hatte keine Ahnung. »Dr. Jalon sprach davon, die erste Kugel zu modellieren und dabei vorauszusetzen, daß sie nahe an die kritische Dichte herankomme. Dann würde sie mit der Zeit aufhören zu expandieren und sich wieder zusammenziehen. Wenn ich mich nicht irre, wäre das ein Modell der Einstein-de Sitter-Kategorie.«

Damit gab sich der Fragesteller vorerst zufrieden. Ihre Kosmologiekenntnisse bedurften wirklich dringend einer Auffrischung. Nun stand ein bekannter Theoretiker auf und ließ sich des langen und breiten darüber aus, daß eine echte Raumzeit-Deformation wie ein Schwarzes Loch aussehen und sofort wieder verschwinden würde. Demzufolge müßten diese Kugeln etwas anderes sein.

»Ich habe einiges über die Theorie der Wurmlöchernachgelesen, und ich denke, Sie lassen die Möglichkeit außer acht, daß ein Raumzeit-Schlund durch exotisches Material offengehalten werden könnte.« Max hatte darauf bestanden, daß sie die Aufsätze las, obwohl sie dabei fast eingeschlafen wäre; jetzt war sie ihm dankbar. »Matt Visser hat sogar ein Buch darüber geschrieben.« Mit einem Literaturhinweis zu schließen, war immer gut, denn damit unterstellte man, daß die Gegenpartei weniger gut informiert war als man selbst.

Alicia wurde allmählich müde und nervös. Doch als sie bei der nächsten Wortmeldung gebeten wurde, die genauen Eigenschaften ihrer Kugel zu beschreiben, seufzte sie erleichtert auf. Endlich durfte sie einfach über ihre Meßverfahren und deren Ergebnisse sprechen, ohne auf Schritt und Tritt von der Theorie behindert zu werden. Leider hatte sie nicht daran gedacht, ein paar Folien für den Overhead-Projektor anzufertigen. Aber sie hatte jeden einzelnen Schritt und jede Zahl im Kopf und schrieb alles auf eine große, grüne Tafel. Dann skizzierte sie mit raschen Strichen die Veränderung der UV-Temperaturen in Abhängigkeit von der Zeit und zeichnete die Rekombinationsphase ein. Es war ein Genuß, nicht mehr im luftleeren Raum der Interpretation zu schweben, sondern sich wieder auf dem festen Boden der Tatsachen zu bewegen.

Sie hatte es geschafft, während des gesamten Martyriums nicht einmal aus der Rolle der versierten Naturwissenschaftlerin zu fallen. Wie so viele andere hatte sie sich um der Karriere willen bemüht, die Eigenschaften an den Tag zu legen, die man von ihr erwartete: Kompetenz, eine gewisse Risikofreude und eine Spur Arroganz. Ein altbekannter Witz behauptete, ein Teilchenphysiker ›habe sich zu benehmen wie ein Brite und zu denken wie ein Jude, aber nicht umgekehrt. Ein intelligenter, rücksichtsloser Dreckskerl mußte man sein – oder als Frau ein ausgekochtes Miststück. Das zahlte sich aus, wenn die Fragen kamen, wenn man aus derletzten Reihe des Hörsaals mit kaum beherrschter Wut von heiseren Stimmen angegeifert wurde. Wer Kritik annehmen, wer sie von sich ablenken und besonders, wer sie austeilen konnte, erntete Bewunderung. Man mußte deutlich zeigen, daß man minderwertige Arbeit bloßstellte, von wem sie auch stammte; mit feiner Ironie kam man nicht weiter. Sie hatte schon sehr bald gelernt, ihr Licht leuchten zu lassen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Unterstützung ihrer Vorgesetzten zu gewinnen.

Nach zwei Stunden war Kaffeepause. Sie ging nicht mit in die Eingangshalle, um persönliche Konfrontationen zu vermeiden; sicher gab es noch genügend Leute, die ihr nicht verzeihen konnten, daß sie die erste Kugel einfach mitgenommen hatte. Erst jetzt fiel ihr auf, daß ihr das von keinem ihrer Zuhörer vorgehalten worden war. Nur aus Höflichkeit? Oder konnte man ihr nun, da man eine eigene Kugel hatte, wieder mit mehr Freundlichkeit begegnen?

Wobei die Freundlichkeit des Direktors reichlich unterkühlt gewesen war. Seine Offiziere hielten auch jetzt auf Abstand, drängten sich um den Kaffeekessel und ließen sie allein. Das war wohl auch ihr gutes Recht. Aber vielleicht hatten die gemeinen Soldaten mehr Verständnis für ihre Handlungsweise, vielleicht hatte sie ihnen mit ihrer Stimme, ihrem Verhalten indirekt mitgeteilt, daß sie zu ihnen gehörte.

Sie zog sich in ein Hinterzimmer zurück, um dort in Ruhe ihren Kaffee zu trinken – es war schon Mitternacht, fiel ihr plötzlich auf –, aber mit ihrer Konzentration war es vorbei. Sie konnte nur noch an Brad und an das zweite Opfer denken, das die Wissenschaft hier gefordert hatte. Anschließend wurde noch eine Weile weitergeredet, und dann ließ man sie endlich gehen. Das Apartment, in dem sie übernachtete, war um mehrere Klassen besser als die normalen Unterkünfte.

Am nächsten Morgen vor dem Abflug führte sie nochein kurzes Gespräch mit dem Direktor und seinen Getreuen. Sehr viel mehr hatte sie nicht beizutragen, und sie wollte möglichst bald weg. Inzwischen hatte sie ihren eigenen Cosm seit vier Tagen nicht mehr gesehen.

»Können Sie uns garantieren, daß die Kugel nicht weiterwächst, Dr. Butterworth?« wollte der Direktor wissen.

»Natürlich nicht. Die unsere ist ohne erkennbaren Grund gewachsen und wieder geschrumpft. Ich denke, sie reagiert auf kleinere Reize, die wir gar nicht wahrnehmen.«

»Wieviel größer könnte die Kugel hier denn noch werden?« fragte der Direktor weiter.

»Bei der unseren hat sich der Radius um ein paar Prozent verändert. Aber wie das hier sein wird, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Ihre Kugel könnte im nächsten Moment so groß werden wie ganz Long Island.«

Alle waren wie vor den Kopf geschlagen. Alicia sagte freundlich: »Die Zahl der Möglichkeiten ist umgekehrt proportional zur Menge des Wissens.«

»Das liegt nur daran, weil wir keine Theorie der starken Gravitation haben«, klagte der Leiter der theoretischen Abteilung.

Sie lächelte schwach. »Ich würde eher sagen, es liegt daran, daß wir nicht genügend Erfahrung mit solchen Objekten haben. Sie wissen doch gar nicht, ob es sich hier in erster Linie um einen Gravitationseffekt handelt.«

»Worum denn sonst? Die Krümmung der Raumzeit …«

»Ist nur ein Modell. Ich verlasse mich lieber auf praktische Erfahrungen.«

»Genau darauf kann ich verzichten«, erklärte der Direktor eisig. »Immerhin ist einer Ihrer Studenten durch den Kontakt mit dem ersten Objekt ums Leben gekommen.«

»Und das war sehr viel kleiner«, erwiderte sie. »Wirkönnen nicht davon ausgehen, daß die Zeitkoordinaten hier im gleichen Verhältnis zu unserer Zeit stehen wie bei …« – sie zögerte, wollte schon ›bei meiner Kugel‹ sagen und entschied sich dann für – »der UCI-Kugel. Ihr Objekt könnte jederzeit einen Schwall UV- oder andere Strahlung abgeben.«

Der Direktor wirkte so, als habe er eine schlaflose Nacht hinter sich. »Dann muß ich das Gelände wohl räumen lassen.«

»Wenn nicht wenigstens ein paar Leute in der Nähe bleiben und die Kugel studieren, erfahren Sie gar nichts«, gab sie zu bedenken.

»Dazu brauchen wir Freiwillige.«

Der Mann war nicht zu beneiden. Sie hatte bisher weder Dave noch sonst jemandem gegenüber erwähnt, daß sie vor einem weiteren Uranversuch gewarnt hatte; schließlich hatte sie auch selbst keine ganz weiße Weste.

»Wir erwarten uneingeschränkten Zugang zu Ihren Daten«, sagte der Direktor steif.

»Versprochen«, sagte sie und verabschiedete sich, um zum Flughafen zu fahren. Der Sicherheitsdienst des Labors drängte die Reporter zurück, die sich in Scharen eingefunden hatten. Dank des Regens ließen sie sich einigermaßen in Schach halten. Das Labor stellte ihr einen Wagen zur Verfügung, und Dave begleitete sie. In Anbetracht der Situation war er sehr freundlich. Sie sprachen über die Vermutungen des Leiters der theoretischen Abteilung, die große Ähnlichkeit mit Max’ ersten Hypothesen aufwiesen. Man befinde sich noch ganz am Anfang, sagte sie, und das war ihre ehrliche Meinung. Die Physik hatte schon mehrfach Theorien wie die von der korpuskularen Beschaffenheit des Lichts und der Transmutabilität der Elemente verworfen, um später wieder darauf zurückzukommen und beschämt zuzugeben, daß sie doch ihre Berechtigung hätten. Die Theorie war dem Experiment, das schließlich nichts anderes war als eine kontrollierte Erfahrung, hilflos ausgeliefert.

Auf dem Weg zum Flughafen wurden sie von einem Fernsehteam überholt, das Alicia durch das Fenster der Limousine zu fotografieren versuchte. Sie wandte sich ab.

Da war er nun, der große Erfolg, das Monstrum mit den blutigen Zähnen und den scharfen Klauen. »Das hast du dir immer erträumt, Mädchen«, flüsterte sie. »Nun hast du es endlich geschafft, also fang bloß nicht an, dir selber leid zu tun.«