8Kurz nachdem Alicia aus den Oststaaten nach Kalifornien gezogen war, hatte sie eines Morgens ohne besonderen Grund einen Spaziergang an den Strand gemacht, um sich den Sonnenaufgang anzusehen. Und die Sonne hatte ihr im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht aufgesteckt und ihr gezeigt, daß sie einen unendlich weiten Weg zurückgelegt hatte und nun am anderen Ende von Amerika angelangt war. Sie hatte ziemlich lange gebraucht, um ein Gespür für dieses ungezähmte Land zu entwickeln, das im unbarmherzig klaren Morgenlicht so fügsam vor ihr lag. Das weitläufige L.A. war zugleich eine Parodie und eine Kopie New Yorks und seiner himmelstürmenden Vertikalen. Beide Städte preßten die Menschen gleichermaßen unerbittlich in ihre starre Geometrie. Konstant war hier in Kalifornien nur die Geschwindigkeit, mit der das Land unter einer Betonwüste verschwand, die sich immer weiter ausdehnte. Das klassische Motto lautete: Unterteile und herrsche. Vielleicht war es kein Zufall, daß am Ende des langen Wegs nach Westen die Filmstudios ihre Tore geöffnet und sich der Phantasie und damit der Zukunft der Nation bemächtigt hatten.
Nun schlummerte die Natur unsichtbar unter dem Trubel der Zivilisation. Alicia folgte dem Freeway 5, zweigte auf die Staatsstraße 57 ab und fuhr über die Interstate 10 im Bogen auf Pasadena zu. Nicht der direkte, aber der schnellste Weg. Obwohl es erst kurz nach Mittag war, geriet sie in mehrere Staus, bis sie auf dem Abschnitt der I 10, der aussah wie ein endloser, bis zum Pazifik reichender Parkplatz, auf eine ›smart street‹ abbog, die die Verkehrsdichte überwachte und die Ampeln und die Anzeigen an den Freeway-Einfahrten entsprechend regulierte. Sie hatte in ihrem Wagen keinen elektronischen Lotsen, der sie ständig mit den neuesten Informationen über Staus auf ihrer Strecke versorgt hätte; die Hälfte aller Verkehrsbehinderungen waren auf Unfälle oder Pannen zurückzuführen. Alles gut und schön, dachte sie, aber kein Mensch hatte sich überlegt, wo all die Autos Platz finden sollten, wenn sie erst ihr Ziel erreicht hatten.
Sie stellte ihren Wagen im Parkverbot ab und ging zu Fuß ins Herz des Caltech. Spanische Arkaden säumten die lange, grasbewachsene Promenade. In der Ferne wiegten sich Pfefferbäume seufzend im heißen, trockenen Wind, der von den Wüstengebieten im Osten herüberstrich. Am Ende des Grasstreifens prallten das alte und das neue Kalifornien aufeinander. Eine Bibliothek erhob sich, stramm wie ein Ausrufungszeichen, über die Nostalgie früherer Zeiten und repräsentierte mit ihrer streng geometrischen Linienführung die Sachlichkeit der Gegenwart. Alicia betrat ein langgestrecktes Gebäude im maurischen Stil mit der Aufschrift EAST BRIDGE. Über den braunen Fußbodenfliesen setzten hohe, weiße Rundbögen das Arkadenmotiv von draußen fort. Durch eine schmiedeeiserne Gittertür, die den südländischen Charakter der Vorhalle nochmals betonte, gelangte sie in einen Raum, wo die neuesten Zeitschriften auslagen. Der Geruch nach Stuck und alten Fliesen und die tiefe Stille erinnerten an eine Kapelle. Sicher, sie war auf der Suche nach Erleuchtung, aber nicht unbedingt nach Erleuchtung im religiösen Sinn.
Physik war im Caltech gleichbedeutend mit Grundlagenforschung. Nützliche und korrekte, aber letzten Endes unspektakuläre Projekte waren verpönt. Dies war eine Hochburg der Geistesriesen; in diesen heiligen Hallen konnte man lebenden Legenden wie Richard Feynman und Murray Gell-Mann begegnen. Alicia blieb stehen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte kehrtgemacht und wäre unverrichteter Dinge in die UCI zurückgefahren. Wenn die Kugel nun doch nur ein kurioses Metallgebilde war? Vielleicht war ihr ein ganz simpler Fehler unterlaufen, und sie hatte sich die ganze Zeit nur etwas eingeredet? Wenn sie sich nun an einen Außenstehenden wandte, machte sie sich womöglich nur zum Gespött.
Reiß dich zusammen, Mädchen! Sie ging weiter.
Gleich hinter dem Gemeinschaftsraum des Fachbereichs Theoretische Astrophysik, wo eine Kaffeemaschine stand und stapelweise Vorabdrucke der neuesten Publikationen auflagen, stieß sie auf die Büros so bekannter Physiker wie Thorne, Blandford usw. Sie zögerte. Alles Leuchten der Wissenschaft, Koryphäen auf ihrem Gebiet, aber wie würden sie ihre Geschichte aufnehmen? Was sie zu erzählen hatte, klang unglaubwürdig genug, auch ohne die zwielichtige Affäre in Brookhaven … Sie hätte sich die Sache besser reiflich überlegen sollen, anstatt sich mir nichts, dir nichts in ihren Miata zu setzen und hierherzurasen.
Vielleicht wandte sie sich besser an einen nicht ganz so großen Geist? Aber ob es so jemanden am Caltech überhaupt gab?
In allen Räumen standen riesige Computeranlagen. Jedes Fach hatte inzwischen seine Spezialisten, die sich im digitalen Dschungel zurechtfanden und ihren heillos überforderten Kollegen als Führer dienen konnten. ›Crossover‹, Grenzüberschreitung hieß derzeit das Modewort. Computerhacker beschäftigten sich in Zusammenarbeit mit organischen Chemikern mit Molekularstrukturen. Mediziner und Elektroingenieure entwarfen gemeinsam Neuralnetzwerke, die ähnlich arbeiteten wie das Gehirn. Durch die neuen Techniken wurden die Grenzen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen verwischt.
Vom Korridor aus hörte sie die Leute in individuellem Kauderwelsch mit ihren Computern reden. Im Idealfall konsumierte die neue Technik komplizierte Fragestellungen und spuckte einfache Lösungen aus. Anrufbeantworter waren inzwischen so ›intelligent‹ und vielfältig programmierbar, daß nicht mehr die Technik die Form der Ansage bestimmte, sondern das Auftreten des Anrufers. So sprach man einmal mit einem unerschütterlich höflichen, englischen Butler, dann wieder mit einer kessen Sekretärin, die einem schnippische Fragen stellte – oder tatsächlich mit einem Roboter.
Alicia bog um ein paar Ecken und gelangte in Thornes Einflußbereich. Zwei Postdocs steckten neugierig die Köpfe aus ihrem gemeinsamen Büro. Vermutlich fragten sie sich, was ein schwarzes Gesicht hier verloren hatte. Das nächste Büro, Zimmer 146, gehörte einem Assistenzprofessor mit Namen Max Jalon.
Vorsichtig spähte sie durch die offene Tür. Ein großer, schlanker Mann in stahlgrauer Hose und blauem Button-Down-Hemd, mit einer Nickelbrille auf der schmalen Nase, schrieb auf einen gelben Block und strich sich dabei immer wieder mechanisch das lange, braune Haar aus der hohen Stirn. Das Büro erstickte nicht wie die übliche Theoretikerhöhle in Bergen von Papier. Die Skripten waren in ordentlich etikettierten Stehsammlern mit Aufschriften wie SUPERSTRG, MATH. GRDL. und BEOB. untergebracht.
Immerhin, das verriet ein gewisses Stilgefühl. Alicia bewunderte Männer, die ordentlicher waren als sie selbst, auch wenn dazu nicht viel gehörte. Sie hatte sich aus der UCI noch rasch das Vorlesungsverzeichnis des Caltech mitgenommen und darin waren ›Gravitationswellen, Kosmologie und Astrophysik‹ als Jalons Spezialgebiete angegeben. BEOB. bedeutete wahrscheinlich Beobachtungen, und das ließ den Schluß zu, daß er keiner von den völlig abstrakten Mathematikern war. Okay, genug gezaudert. Du wagst jetzt den Sprung.
»Ah … Dr. Jalon?«
Er hob nicht einmal den Kopf. »Verschwinden Sie.«
»Ich hätte etwas, das Sie interessieren könnte.«
»Zehn Minuten.« Als sie über die Schwelle trat, ergänzte er, ohne aufzublicken oder auch nur beim Schreiben innezuhalten: »Dann sprechen wir darüber.«
Sie schlug die zehn Minuten tot, indem sie nervös durch die Gänge schlich, eine Runde durch die Zeitschriftenbibliothek drehte und sich dem zweifelhaften Vergnügen hingab, die neuesten Forschungsberichte auf den grauen Stahlregalen durchzublättern. Als sie zurückkam, kochte sie vor Wut, fragte aber nur trocken: »Zehn Minuten für zehn Minuten?«
Als er endlich den Kopf hob, sah er gleich zweimal hin. War der Anblick einer schwarzen Frau wirklich so überraschend? Dann verzog er den Mund zu einem halben Lächeln. »Sind Sie Studentin?«
»Vielen Dank für das unbewußte Kompliment. Nein, ich bin Professorin an der UCI.«
Die Phase der gegenseitigen Beschnüffelung dauerte nur wenige Minuten. Auf ihre hektische Eröffnung: »Können Sie ein Geheimnis bewahren?« antwortete er mit einer Gegenfrage: »Können sie ein Versprechen halten? Ich will alles hören.«
Sie hatte sich entschieden, das Ganze wie einen Krimi aufzuziehen. Also zeigte sie ihm zunächst Bilder der Kugel, listete dann die Eigenschaften auf, die bereits inder UCI an der Tafel standen, und eröffnete ihm schließlich, woher das Objekt stammte. Er saß die ganze Zeit reglos da, die Füße in den Doc Martens auf dem Schreibtisch, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und unterbrach sie kein einziges Mal, bis sie zu den Urankollisionen kam. Dann zog er ihr mit ein paar knappen Fragen alle relevanten Fakten und Hypothesen aus der Nase. Endlich sagte er lächelnd: »Und Sie haben das Ding mitgenommen, ohne jemandem ein Wort zu sagen?«
»Ich dachte, es ist nur eine Metallblase, eine Kuriosität …«
»Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«
»Wie bitte?«
»Sie hatten Blut geleckt und das Ding gemopst. Nun geben Sie’s schon zu.«
»Das ist eine Behauptung ohne jede …«
»Sie brauchen nur zu sagen, daß es nicht stimmt, dann entschuldige ich mich sofort.«
Sie mußte unwillkürlich lachen. »Mein Gott, Sie sind schrecklich.«
Die Doc Martens plumpsten auf den Fliesenboden, er sprang mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf und sah belustigt, eine Augenbraue spöttisch hochgezogen, auf sie herab. »Das genügt mir. Kommen Sie, wir gehen rüber in den Schnellimbiß und trinken einen Kaffee, und dann sehen wir uns das gute Stück einmal an.«