13Martin Onell sei in seinem Büro, und er habe auch Zeit, versicherte die Führungsassistentin und führte Alicia hinein. Onell trug den üblichen dreiteiligen Anzug, heute in Braun, dazu ein sonnengelbes Button-Down-Hemd und eine Krawatte in dezentem Rot.
»Alicia! Ich warte schon seit langem, daß Sie sich wegen des Programms zur Förderung von Minderheiten mit mir in Verbindung setzen.«
»Äh … ich bin etwas im Rückstand …«
»Der Vizekanzler schickt mir jeden Tag eine E-Mail mit der Bitte, ich möchte Sie doch in die Ausschußsitzungen schicken.« Er stand auf und kam, einem Stapel Physikzeitschriften vorsichtig ausweichend, um seinen großen Schreibtisch herum.
»Diese Sitzungen sind endlos. Ich finde sie unerträglich. Und die Vorsitzende des Ausschusses für Gleichberechtigungsfragen ist eine so sterbenslangweilige Person …«
»Aber es handelt sich um eine Verpflichtung, die uns alle betrifft, soweit stimmen Sie mir doch wohl zu.« Er lächelte herzlich und setzte sein ›Laß uns doch vernünftig miteinander reden‹-Gesicht mit den freundlichen Augenfältchen auf. Sie machte der Sache wohl besser ein Ende, bevor er noch deutlicher wurde. »Wenn auch nicht alle in gleichem Maße.«
Da war er schon, der kleine Standardvertrag zum Thema Verpflichtung gegenüber ›Minderheiten‹, besonders für sie, die gleich zwei Minderheiten in einem repräsentierte. (Manchmal hatte sie den Verdacht, sie hätte der Verwaltung den größten Gefallen getan, wenn sie sich auch noch als Lesbierin herausgestellt hätte. Drei Minderheiten in einem, eine wahre Goldgrube!) Sie mußte irgendwie erreichen, daß dieses Gespräch die ausgefahrenen Gleise verließ.
Ein tiefer Atemzug, ein stählerner Blick. »An sich wollte ich Sie fragen, warum Sie meine Arbeit von einem Untersuchungsausschuß überprüfen lassen, ohne mir ein Wort davon zu sagen?«
Die Herzlichkeit verschwand, sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Natürlich, weil ich mußte.«
»Wieso ›natürlich‹?«
»Der Vizekanzler für den Bereich Forschung befürchtete, es könnten, nun, beträchtliche Schadenersatzforderungen auf die UCI zukommen. Wenn Sie sich tatsächlich des Diebstahls wertvoller …«
»Diebstahl? – Ich habe …«
»… genau so und nicht anders wurde es von Brookhaven dargestellt, das können Sie nicht bestreiten. Und als ich das hörte, da hielt ich es für keine schlechte Idee, ganz inoffiziell die Meinung einiger Ihrer Kollegen aus dem Bereich Elementarteilchenphysik darüber einzuholen, wie in solchen Streitigkeiten zu verfahren sei.«
»Ich mag es nicht, wenn man hinter meinem Rücken agiert.«
Er nestelte an seiner Krawatte herum. »Ich muß den Fachbereich schützen.«
Mitte der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hatte es in der UCI einen ungeheuren Skandal gegeben. In der Fertilisationsabteilung der Universitätsklinik war mit den Eizellen einer Frau gepfuscht worden. Was anfangs nur ein kleines, bürokratisches Problem gewesen war, hatte sich in den Händen der Anwälte zu astronomischen Schadenersatzzahlungen auch an Personen ausgewachsen, die im Grunde nur ›seelische Schäden‹ davongetragen hatten. Seither ging jeder leitende Verwaltungsangestellte unwillkürlich auf Zehenspitzen, wenn auch nur die leiseste Gefahr eines Rechtsstreits drohte. Daran dachte Alicia, während sie beobachtete, wie sich das Mißtrauen in Onells Zügen in väterliche Besorgnis verwandelte. Eigentlich hatte sie ihn gründlich in die Mangel nehmen wollen, aber plötzlich war ihr die Lust auf weitere Konfrontationen vergangen. »Ich … verstehe«, sagte sie lahm.
»Es wird sicher alles wieder gut«, tröstete er.
Wenn er sich erst in Gemeinplätze flüchtete, war nichts mehr von ihm zu erwarten. Er pflegte einen defensiven Führungsstil und verschanzte sich normalerweise hinter einem Berg von Papier; was nicht schriftlich niedergelegt war, das war auch nicht passiert, zumindest würde jedes Untersuchungsgremium so entscheiden. Berechenbarkeit war eine gute, wenn auch eher langweilige Eigenschaft.
»Ich melde mich wieder«, sagte sie wie immer, wenn sie sich einen reibungslosen Abgang verschaffen wollte, und verließ das Büro des Fachbereichsvorsitzenden. Erstaunlicherweise hielt sich ihre Verärgerung in Grenzen. Gott helfe mir, dachte sie, am Ende gewöhne ich mich noch an solche Szenen.
Als Alicia endlich ins Labor kam, waren alle Lichter gelöscht. Draußen dämmerte es bereits, und durch die Seitentür fiel nur ein matter Lichtstreifen auf den Betonboden. Ich schalte die Beleuchtung besser nicht ein, dachte sie; wahrscheinlich sammelte Brad immer noch optische Daten.
Sie tastete sich an einer Reihe von Vitrinen entlang. »Brad?« Keine Antwort. Vielleicht war er kurz hinausgegangen und hatte die Diagnostiken einfach weiterlaufen lassen. Die winzigen, roten Pünktchen an den Computermonitoren flimmerten wie ferne, rote Sterne.
Die Studenten, die das Core-Element zusammenbauten, hatten schon vor einer Stunde Feierabend gemacht. Sie stieß mit dem Fuß gegen ein Metallteil, das im Weg lag. Das Klirren klang überlaut. Alicia war gewöhnt, daß hier immer reger Betrieb herrschte, die Stille war ihr geradezu unheimlich. Als sie an den Vitrinen vorbei war, suchte sie nach dem Wandregal mit den Werkzeugen. Sie drang unermüdlich darauf, daß jedes Werkzeug nach Gebrauch wieder an seinen Platz gelegt wurde, und diese Marotte zahlte sich jetzt aus. Schon spürte sie eine von den Fadenstrahltaschenlampen unter den Fingern. Sie ging auf die roten Monitorlichter zu, aber Brad war nicht in der Spektroskopkabine. Sie hielt den Atem an und lauschte. Die Lichtschutzhaube war geschlossen, vielleicht befand er sich darunter, um Feineinstellungen vorzunehmen oder noch einmal den Durchmesser zu kontrollieren.
»Brad?« Keine Antwort. Aber er konnte sich so völlig auf seine Arbeit konzentrieren, daß er oft nicht reagierte, wenn man ihn ansprach. Alicia gefiel das; viele gute Experimentalphysiker besaßen diese Fähigkeit. Vorsichtig ging sie weiter durch die Dunkelheit.
Erst auf dem Rückweg durch den Park hatte sie angefangen, sich in Gedanken mit der rätselhaften Veränderung des Durchmessers zu beschäftigen. Das verdammte Objekt verhielt sich fast, als sei es lebendig. DieSache wurde immer rätselhafter, immer geheimnisvoller. Sie spürte bis in die Fingerspitzen, daß sie Zeuge eines wahrhaft außergewöhnlichen, wahrhaft bedeutsamen Geschehens wurde. Aber was ging hier vor? Sie war immer noch nicht sicher, ob Max’ Wurmlochidee irgendeinen Sinn ergab, auch wenn ihr die Messung des Gezeiteneffekts eine gewisse Glaubwürdigkeit verliehen hatte.
Der fahle Schein der Taschenlampe warf zuckende Schatten über die Regale mit den Geräten; wenn hier nicht bald Ordnung gemacht wurde, fielen sie noch über ihre eigenen Füße.
Sie zog eine Ecke der Lichtschutzhaube zurück und schlüpfte darunter. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf die Lichtleiter, die bündelweise am oberen Rand des provisorischen Stahlgerüsts befestigt waren. In dem kleinen Raum drängten sich inzwischen so viele Diagnostiken, daß man fast in Kabeln erstickte.
Es roch merkwürdig brenzlig. Alicia schnupperte. Ozon? Nein, das war etwas anderes.
Einige von den elektrischen Leitungen waren nicht da, wo sie hingehörten. Die Kugel reflektierte den Strahl der Taschenlampe in den fahlen Lichtkegel hinein. Der Geruch war stark und ätzend, als wäre ein elektronisches Bauteil durchgebrannt. Alicia wurde unruhig. Was war hier geschehen? Und wo war Brad?
Sie wollte einen Schritt nach vorne treten, aber da stieß sie mit dem rechten Fuß gegen etwas Weiches und wäre gestürzt, wenn sie nicht rasch nach einer Stahlstrebe gegriffen hätte. Dann sah sie zu Boden. Was sollte hier für ein Gerät stehen …?
Eine schwarze Maske starrte sie an. Ihr stockte der Atem. Die Lider waren weggebrannt, und die allzu weißen Augen waren reglos auf die Decke gerichtet.
Alicia taumelte, rang nach Luft. Der Oberkörper war einheitlich schwarz, bedeckt mit einer Schicht verkohlter Kleider. Aber sie erkannte die verwaschenen BlueJeans und den breiten Westerngürtel. Es war Brad. Oder was von ihm noch übrig war.
In der rechten Hand hielt er eine elektrische Meßsonde. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen und von Brandspuren gezeichnet, als sei er in die Feuerzunge eines Flammenwerfers geraten. Die Wangen sahen aus wie Kugeln aus rohem Fleisch, die Lippen wie aufgeplatzte Würstchen.
Alicia zwang sich zu atmen, obwohl die Luft mit einem Mal zäh war wie Öl und widerlich nach verbranntem Fleisch roch. Die Dunkelheit schien sich immer mehr zu verdichten, sie spürte eine dumpfe Benommenheit, die Knie wurden ihr weich. Sie konnte die Taschenlampe kaum noch halten, der Strahl zuckte unkontrolliert nach oben, wurde abermals von der Kugel reflektiert und traf Alicia wie der starre Blick eines zürnenden Auges.