Pieters Cabriolet
Beflügelt von Sehnsucht nach Sandra – und auch nach Nüchternheit –, schlich ich mich fort von dem Punkschuppen und fing an zu wachsen, ich wuchs über die Waldorfschule hinaus, überragte das Jüdische Museum, grüßte den kleinen Scheinriesen, wurde selbst zum Riesen und taumelte durch die Straßen. Ab und zu musste ein Taxi scharf bremsen, weil es Angst hatte, gegen einen Riesen zu fahren.
Ich hörte Pferde beim Schlachter wiehern, Flugzeuge starten, die drei Sandras singen, und dann war ich an der Friedrichstraße. Vor dem Kaufhaus Lafayette fand ich eine halbe Schachtel Pommes, rot-weiß auf einem Stromkasten. Sie waren kalt und lecker, machten mich aber nur hungriger. Oder hat schon mal jemand gehört, dass ein Riese von einer halben Schachtel Pommes satt wird? Ich fischte mir noch ein Mousse au Chocolat aus einem Mülleimer – es sah jedenfalls so aus und war noch im Becher, ich musste nur ein paar Kippen rausfischen. Dann stapften meine Riesenfüße wie von selbst über parkende Autos hinweg. Ich stieg von hinten auf die Stoßstange, sprang aufs Dach und federte dort oben, bis die Beulen in der Karosserie keine Federung mehr möglich machten. Ich rutschte auf dem Hosenboden zur Stoßstange, piekste dem Seitenspiegel noch ein Auge aus und war schon auf dem nächsten Wagen.
Leute, ich steppte über die schlafende Autoschlange und schaute mir vom Dach aus die Schaufenster an – H&M, Leysieffer, Gucci, Louis Vuitton und wie sie alle hießen, dann trat ich auf was Weiches. Oh, dachte ich, ein Trampolin! Aber aus meinen Kindheitstagen kannte ich elastischere Teile. Dieses Trampolin war zäh wie Leder. Logo, weil es aus Leder war und auch kein Trampolin. Gerade als ich das herausgefunden hatte, brach ich ein.
Als ich wieder Boden unter den Füßen hatte, stand ich in einem Cabriolet. Das Erste, was mir sofort auffiel, waren die Flyer auf dem Beifahrersitz. »Sei unser Superstar!« Eine Hochglanzschnecke mit Brilli auf den Zähnen grinste mich an. »Wir entdecken dein Talent!«, las ich, und plötzlich war ich mir sicher: Ich war in Pieters Cabriolet gelandet! Leute, ich dachte, ich fass es nicht!
Ich befreite mich von dem Verdeck und brach dabei den Blinker ab. Das tat verdammt weh! Um den Schmerz auszuhalten, sprang ich auf den Zebrapolstern herum. Aber die federten auch nicht besser als das Verdeck.
Später wurde ich immer wieder gefragt, ob ich denn die Alarmanlage nicht gehört hätte? Echt, so einen Mist wollten sie wissen. Klar hatte ich was gehört, es klingelte zur Pause, aber wer noch nicht abgeben wollte, durfte ruhig noch weiterschreiben.
Ich weiß auch noch genau, wie ich aus dem Wagen geklettert bin und mit einem meiner Kieselsteine »Blöde Sau« in den Lack gekratzt habe. Dazu habe ich mich selber angefeuert: »Nieder mit den Superstars«, hörte ich mich rufen.
Und dann sah ich das Feuerzeug. Damit wollte ich auf dem Beifahrersitz die Flyer anzünden. Die Scheißdinger brannten schlecht. Trotzdem sah ich die Flammen lodern. Vielleicht, weil ich schon Sirenen hörte. Ich dachte natürlich an Feuerwehrsirenen, nicht an die Polizei.
Jedenfalls kletterte ich wieder in Pieters Auto und wollte das Feuer selber löschen, wie der gute Gulliver den Palastbrand gelöscht hat, mit seinem eigenen Strahl. Ich hatte kaum die Flammen gelöscht, da war ich umzingelt. Überall Polizisten. Einer packte mich am Arm und zog mich auf die Straße. Er warf mich auf die Kühlerhaube, ich knallte mit der Nase aufs Blech, gleichzeitig drehte er mir so stark den Arm um, dass ich heute noch Schmerzschweiß kriege, wenn ich nur daran denke. Ein anderer tastete meine Beine ab. Es ging alles ruck, zuck. Handschellen klickten und man drückte mich am Kopf ins Auto. Sie wollten meine Personalien aufnehmen, aber ich hatte keinen Ausweis dabei. Ich sagte ihnen meine Adresse. Sie checkten meine Daten im Computer. Der Typ neben mir war ein Fettsack, der mich angeekelt anglotzte. Ich glotzte angeekelt zurück.
Sie überlegten, was sie mit mir machen sollten. Einer wollte mich nach Hause bringen. Ich sagte, dass meine Eltern, Herr und Frau Doktor Doktor Dipl.-Psychologin Springborn, nicht da seien und meine Klasse auf Klassenfahrt in Auschwitz, und musste plötzlich lachen.
Ich weiß, Leute, es gab überhaupt keinen Grund dafür, mir tat alles weh, ich blutete aus dem Knie und aus der Nase. Ich dachte einen Moment lang sogar, ich hätte einen Schädelbasisbruch, weil starke Kopfschmerzen einsetzten, trotzdem musste ich lachen! Ihr kennt das bestimmt, und nicht nur vom Wichsen, the point of no return, und solange man lacht, weint man nicht, und Lachen, das weiß jedes Kind, ist gesund, bringt den Kreislauf in Schwung, die Durchblutung wird angeregt, die Immunabwehr erhöht und körpereigene Glückshormone werden freigesetzt. Davon spürte ich allerdings nicht viel, mir wurde nämlich schlecht. Da fuhren wir schon Richtung Zehlendorf.
»Ich möchte aussteigen«, sagte ich. »Ich brauche dringend frische Luft.«
Jetzt lachte der Fettsack neben mir.
»Ich kann auch zu Fuß nach Hause gehen«, schlug ich ihm vor.
Der Fettsack grinste gequält.
»Wirklich, ich möchte gern unseren Staat unterstützen«, sagte ich, so höflich, wie man mit einer blutenden Nase und einem aufgeplatzten Knie höflich sein konnte, aber diese Schurken ließen sich auf nichts ein. Wir kurvten durch die Stadt, und weil ich mich noch so gut artikulieren konnte, nahmen sie wohl meine Warnzeichen bezüglich der aufsteigenden Übelkeit nicht ernst, obwohl ich mehrere Male dringend bat, aussteigen zu dürfen. Dann brach es aus mir heraus, und ich kotzte in hohem Bogen dem Beamten neben mir aufs Bein, was sonst wirklich nicht meine Art ist!
Anstatt mir den Kopf zu halten und die Stirn zu kühlen, presste mir der Arsch seine Pranke ins Gesicht und knallte mir den Kopf ans Fenster. Da klebte ich nun, mit einer Wange und verrutschtem Augenlid an der Scheibe.
Draußen ging die Sonne auf.