Z-Fisch mit Zitrone
Die Wohnung war im dritten Stock. Dunkelrote Läufer im Treppenhaus, es roch nach demselben Zitrusreiniger, den unsere Putze immer benutzte. Caro schloss auf. Das Parkett glänzte.
»Meine Alten kommen erst am Sonntag wieder«, sagte sie. »Wir können es also ruhig angehen lassen.«
Caro hatte zwei Ringe in der Nase, blau umrandete Augen, als würde sie gerade von einem Boxkampf kommen. Die Haare zottelig und blond. Sie bat uns, die Schuhe auszuziehen, obwohl meine Füße dreckiger waren als die Flip-Flops. Wir gingen in einen großen Raum. Viele Fenster, viele Blumen, an den Wänden Bleistiftzeichnungen von Ellenbogen in verschiedenen Ebenen.
»Ins Wohnzimmer kotzen is nich«, sagte Caro und guckte mich an. »Rumtaggen auch nich.« Glaubte sie etwa ernsthaft, ich würde hier die Wände vollkritzeln, oder was? Ich hob abwehrend die Hände.
Neben einer schwarzen Ledergarnitur stand eine riesige gläserne Vase mit blau gefärbtem Wasser und einem Goldfisch. Der Fisch schwänzelte in der Vase von einer Wand zur anderen.
Caro machte Musik an. White Stripes. Dann warf sie bunte Kissen ins Wohnzimmer, als wäre es Konfetti. Ich setzte mich auf ein blaues und schaute immer noch auf den Fisch. Vom Flur her Stimmen. Sandra II fragte, ob die anderen schon da wären, steckte sich eine Zigarette an und öffnete die Balkontür. Sie hatte ihr neues Kleid an. Es war mindestens vier Nummern zu groß, braungrün, algig. Andauernd rutschte ihr ein Träger von der tätowierten Schulter und legte ihren durchsichtigen BH-Träger frei. Auf dem Schlüsselbein kam ein Totenkopf zum Vorschein. Schade. Untätowierte Schnecken fand ich cooler. Aber ich wollte nicht so spießig sein und verlagerte meinen Blick von den Schultern in ihre Augen. Sie passten wunderbar zum Kleid. Trotzdem, ohne Totenkopf hätte sie besser ausgesehen.
Mein Magen sagte: Mayday mayday, bitte melden!
Ich antwortete nicht.
Mayday mayday – ist da niemand?
»Kann ich irgendwas helfen?«, fragte ich die Mädels, in der Hoffnung, dass sie ein riesiges Buffet auffuhren. Ich musste zu Hause auch den Tisch decken. Aber ich bekam keine Antwort. Dafür meldete sich mein Magen wieder. Frische Luft wehte ins Zimmer, Sommerluft, gemischt mit Abgasen und Bratenduft. Irgendwo da unten musste ein Dönerstand sein. Man sollte es nicht glauben, aber ich hätte schon wieder eins von den Scheißdingern verdrücken können.
Plötzlich stiefelten drei Typen ins Wohnzimmer. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Das waren also die anderen? Sandra II stürzte sich auf die Jungs, küsste sie links, rechts und quietschte vor Vergnügen. Ohne ihre Springerstiefel benahm sie sich alles andere als cool. Ihre Füße waren weiß wie Blumenkohl und ihre Zehennägel schwarz wie Teer.
»Hey, Holden!«, rief sie. »Komm, ich will dir meine Kumpels vorstellen.« Ich schaute von ihren Füßen auf ihre Kumpels. – Muss ich erwähnen, was der schönere Anblick war?
Der eine hieß Bolt, der andere Norman und der dritte Saphir. Saphir hatte grüne Augen, dunkle Haut und schulterlange, glatte schwarze Haare. Norman war köterblond und der andere Typ eine Mischung von Norman und Saphir. Wahrscheinlich beim Klonen verunglückt, der Gute.
Wir schüttelten uns die Hände. Das macht man im Osten so.
»Mann, Alter, hast du ein geiles T-Shirt an«, sagte Bolt und fragte, was für ein Stoff das sei. Er trug ein schwarzes Batikteil mit Kapuzenjacke. Die anderen beiden trugen auch Kapuzenjacken.
»Irgend so was, woraus man Frauennachthemden macht«, sagte ich.
»Extrem«, sagte Bolt und starrte immer noch auf mein Shirt.
Ich fand es immer schon bescheuert, wenn jemand »extrem« sagte, besonders wenn dieses Wort 50 Prozent einer Konversation ausmachte.
Saphir reichte mir einen Joint. Das hatte ich befürchtet, als ich ihn das Ding drehen sah. Die drei versicherten sich gegenseitig, wie extrem das Zeug sei. Ich nahm den Joint und gab ihn weiter.
»Ey, was soll’n das?«, sagte Bolt. »Willste keinen Hit?«
»Hab schon einen«, sagte ich.
Die drei grinsten, zogen wie Bekloppte an der Tüte, gaben sie an mich weiter. Als ich sie das zweite Mal hatte, war sie schon ziemlich heiß.
Ich hielt den Joint zwischen Zeigefinger und Daumen, legte den Kopf schräg, um es dem guten alten Jimi Hendrix nachzutun, nahm einen tiefen Zug und gab ihn weiter. Dabei unterdrückte ich ein Husten. Beim ersten Mal merkt man eh nichts, hat Sascha Schellenberg immer behauptet. Da kann man mal sehen, wie gute Freunde sich irren können.
In meinem Magen fing es an zu wirbeln wie in einer Waschmaschine, aber ich hatte nicht mal zwei Socken intus, nur Flusen. Außerdem bereute ich schmerzlichst, dass ich nicht »Jimi Hendrix« auf mein T-Shirt geschrieben hatte. Wie konnte das passieren? Wo ich doch vor Jahren schon meine Abba-verseuchten Eltern mit dem guten alten Jim zur Weißglut gebracht habe.
Der Typ glotzte immer noch auf mein T-Shirt.
»Wie heißt du noch mal?«, fragte ich.
»Bolt«, sagte er, »wie Colt, nur mit B.«
»Was ist das denn für ein Name?«
»Ein isländischer. Meine Mutter heißt Björk.«
»Sehr witzig«, sagte ich. Caro kicherte. Sandra sagte: »Das stimmt, seine Mutter nennt sich Björk. Und sie macht mit bei ›Sei unser Superstar!‹. Ist schon in der zweiten Runde.«
»Was heißt’n das?« Ich guckte so eine Kacke nicht.
»Einmal schon nicht ausgeschieden«, sagte Caro. »Es gibt auch Fan-Bilder von ihr. Zeig doch mal eins her.«
Bolt kramte in seinen Jackentaschen. Durch seine Ellenbogenbeuge hindurch sah ich den Fisch in der Vase.
Er zog ein verknittertes rundes Foto heraus. Seine Mutter sah darauf jünger aus als er.
»Kannste aufkleben«, sagte er und pappte mir das Bild auf die Brust. Als wenn sich die Mutter sträubte, auf einem fremden Sohn zu kleben, bog sich das Bild an den Rändern und fiel von mir ab. »Aufkleber kriegt man eigentlich erst, wenn man in die dritte Runde kommt«, sagte Bolt und hob das Foto wieder auf. »Aber meine Mutter hat mit Pieter Mohl gebumst. Das ist der Veranstalter von diesen Shows. Deswegen hat sie die Dinger schon in der zweiten Runde gekriegt.«
Saphir und Norman bogen sich vor Lachen. Ich ging zum Sofa und ließ mich plumpsen. Der Joint vernebelte mir ganz schön mein altes Loser-Hirn und mein Magen lief jetzt im Schleudergang. Die Flusen klebten an der Gastritis. Ich konzentrierte mich voll auf das Wort: Gastritis – Besucherkrankheit – etwas kommt und nervt und geht nicht wieder. Immerhin lenkten mich die Gedanken vom Schleudergang im Magen und den wackligen Beinen ab. Als Kind hatte ich mal eine Gastritis – Magenschleimhautentzündung. Damit ist nicht zu spaßen, es kann bleibende Schäden hinterlassen. Ellenbogenjucken zum Beispiel. Ich kenne Leute, die haben sich schon beide Ellenbogen blutig gekratzt, auch ohne Gastritis. Ein Ehepaar kommt dreimal die Woche zu meiner Mutter in die Praxis. Nette Leute. Ich treff sie manchmal im Wartezimmer. Wenn ich was von meiner Mutter will, muss ich auch durchs Wartezimmer. Ich ziehe eine Nummer vorn am Tresen und im Wartezimmer ertönt dann die Stimme meiner Mutter aus dem Lautsprecher. Sie kann sich – im Gegensatz zu meinem Vater – keine Helferinnen leisten. Und die Idee mit dem Nummernsystem hat sie von der Schweizer Post. Seelisch Kranke lungern ja manchmal schon Stunden vor ihrem Termin im Wartezimmer herum. Mit dem Schweizer System, meint meine Mutter, werde wenigstens die Anonymität gewahrt.
Ich hatte die Nummern, die ich in meinem Leben schon gezogen habe, aufgehoben und an meine Zimmertür geklebt, von innen natürlich; von außen durfte ich nichts ankleben. Das Ehepaar mit den blutigen Ellenbogen sammelt seine Nummern in einem Einweckglas. Einmal die Woche ziehen sie sechs Zettel aus dem Glas und spielen Lotto damit. Bis jetzt haben sie aber noch nicht gewonnen. Trotzdem sind sie total locker drauf. Wie gesagt, echt nette Leute.
Auf dem schwarzen Ledersofa kam ich mir fast vor wie im Wartezimmer meiner Mutter, nur gab es hier Fische, genauer gesagt, einen Fisch, orange im blauen Meer. Ich sah ihm zu, wie er von einer Wand zur anderen wackelte, immer hin und her, nie weiter. »Mensch Alter, das ist ja wie in Zehlendorf«, flüsterte ich ihm zu. »Nur ist dort das Wasser nicht so schön blau. Aber ich hab dich erkannt: Du bist ein Z-Fisch, genau wie ich.«
Ich war mir nicht sicher, ob das über seinen Horizont ging, wahrscheinlich hatte der Goldfisch noch nie was von Zehlendorf gehört, geschweige denn, dass er lateinische Buchstaben kannte. Ich wollte ihn nicht überfordern, auch wenn wir Ähnliches im Leben durchgemacht haben. Gerade wollte ich ihn in Ruhe lassen, da strömten plötzlich aus allen Türen Leute rein und raus, ich wurde mitgezogen und landete in der Küche.
Dort drückte mir jemand ein blaues Getränk in die Hand. Es schmeckte nach Pfefferminz und Fisch. Die Küche sah aus wie ein Spacelab und alle Schranktüren standen offen. Caro holte paketeweise Toastbrot heraus und verteilte Vitaminpillen. Butter, Käse, Nutella standen schon da. Die Brotscheiben sprangen von selbst aus dem Toaster auf den Tisch.
»Hat lange gedauert, bis er das konnte«, sagte Caro und streichelte den Toaster, da flogen auch schon die nächsten Scheiben auf den Tisch. Ich quetschte mich mit auf die Eckbank, hielt Ausschau nach Sandra II, als wäre ich schon 25 Jahre mit ihr verheiratet. Meine Nachbarin, eine süße dicke Schnecke mit Brille, bestrich eine Scheibe mit Nutella. Ich beobachtete ihre Finger, wie sie den Toast hielten, und lauschte, wie das Messer über die leicht verbrannte Oberfläche kratzte.
»Da!«, sagte sie und hielt mir den Toast hin.
»Für mich?«
So gut hatte mir das Zeug noch nie geschmeckt. Sie strich mir noch zwei Scheiben. Ihre Augen hinter der Brille glänzten fischig. Dann war das Nutella-Glas leer.
»Tja«, sagte sie.
»Schade«, sagte ich.
»So was passiert im Leben.« Sie zog die Schultern hoch. Dann wurde sie von einem Athleten angesprochen, mir schräg gegenüber. Ich saß da und fühlte mich, als hätte ich gerade das Sprechzimmer meiner Mutter verlassen.
»Gibt es sonst noch was, Hänschen?«
»Nö«, sagte ich und verließ die Praxis. Meistens ging ich danach einkaufen. Ananas oder Pfirsiche oder eine Mango. Darüber freute sich Mama sehr, wenn sie abends nach Hause kam, und dann machte sie daraus Milkshakes. Als wenn das die Anstrengungen des Tages wegwischen könnte, nur weil es ein paar Schlucke lang süß ist.
Alle quatschten, außer mir. Dazu Musik aus mehreren Zimmern. Ein wirrer Sound umspülte mich. Mir war, als säße ich auf einem großen brummenden Tier, wie Sindbad, der Seefahrer, als er auf dem Wal aufwachte und dachte, es wäre eine Insel. Aber ich war in einer Küche und auf der Anrichte lag eine Zitronenkette aus 17 Zitronen. Es war mir bis dahin nicht klar gewesen, dass man mit Obst so eine Stimmung erzeugen konnte. Die Zitronen gefielen mir und es hätten ruhig noch mehr sein dürfen. Von mir aus hätten Zitronenketten auch von der Decke baumeln können oder wir hätten uns damit beworfen, als wären es gelbe Schneebälle. Je mehr blaues Zeugs ich trank, desto gelber sah ich, sogar wenn ich die Augen schloss, waren sie da, und dieser verdammte Z-Fisch tauchte auch wieder auf und schwamm durch ein Zitronenmeer. Leute, mit mir ging’s bergab.
Ich saß da und schaute zu, wie sich die anderen unterhielten, dachte an den Fisch und an das Wasser, das ihm und mir bis zum Halse stand, und zauberte der kleinen Schnecke mit der Brille eine Zitrone ins Haar. Caro zwei in die Bluse und Sandra II eine auf den Mund, mit orangen Flossen, bis sie sich plötzlich in Sandra I verwandelte. Leute, ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Küche kam, aber irgendwann saß ich wieder auf der Ledercouch im Wohnzimmer und die Bude war rappelvoll. Sie latschten sich schon gegenseitig auf die nackten Füße.
Bolt, Saphir und der andere standen lässig neben einer Palme und machten einen auf Südsee. Bolt hatte sein Batikhemd bis zum Bauchnabel offen, wirklich sehr dezent. Er lachte andauernd so ein Aftershave-Lächeln und sagte: »Extrem« oder »Geil, Mann!«, und Saphir guckte wie ein Tiger durch die Blätter. Wahrscheinlich hatte er sich auf dem Klo grüne Lebensmittelfarbe in die Augen getropft oder fluoreszierende Kontaktlinsen angelegt, denn keine normale Iris kann plötzlich so funkeln. Der Dritte rauchte sich gerade zu Tode. Lässig an die Wand gelehnt, ein Bein angewinkelt, den Kopf nach unten geneigt, hundetraurige Blicke spendend, und alle Ponyliebhaberinnen fuhren auf so was ab. Leute, ich fasste es nicht! Er war die reinste Reinkarnation von James Dean, ihr wisst doch, dieser Irre, der immer mit nacktem Oberkörper und Fluppe herumlief und sich totgefahren hat. Auf den stand meine Oma-Hannover, falls das jemanden interessiert.
Dieser Dreierpack war umringt von Schnecken jeder Art: Bauchspeckschnecken, Piercingschnecken, Nacktschnecken und welche mit Brille. Wahrscheinlich hatte er sich mit einem Sexuallockstoff den Bauch bepinselt. Pheromania Mega Mann, im 50-ml-Vorratsflakon für nur 49,95 Euro. Ein oder zwei Sprühstöße auf Hals oder Handgelenk reichen, um einen Reiz im Gehirn auszulösen. Bei mir den gemeinen Brechreiz, aber die Schnecken schleimten in Scharen auf die drei zu. Es war nicht mit anzusehen. Sandra II und Caro standen auch schon Schlange. Da wurde mir das erste Mal bewusst, dass eine Misere immer an einem selber liegt. Brillant, dass mir immer im richtigen Moment das Richtige einfiel. Es hilft in so einer Situation ungemein, Selbstkritik zu üben. Meine Mutter wäre in schieres Entzücken ausgebrochen, hätte sie mich jetzt gesehen.
Mir wurde kalt auf dem schwarzen Ledersofa. Und nebelig. Auf dem Teppich hockten ein paar Typen und rauchten Shisha. Es roch nach Aprikosentabak und Marihuana, und vor mir hüpften jede Menge Mädchen durch mein Blickfeld, Mädchen bis zum Horizont, und alle barfuß.
Ich dachte schon, ich wäre explodiert wie so ein Attentäter und nun im Jenseits! Ich hätte nur die Arme ausstrecken müssen und mir eine Jungfrau nach der anderen pflücken können, aber ich saß auf dem Sofa, konnte mich nicht rühren und irgendwas zitterte in mir und dann tauchte der Z-Fisch wieder auf meinem Bildschirmschoner auf. Leute, ich saß aber nicht vor meinem Computer!
Bei längerer Betrachtung schnallte ich endlich, dass es sich um die Aquarium-Vase handelte. Mit Fisch. Die Vase war jetzt mit einem breiten Korken zugestöpselt und lag waagerecht auf einem Gerät, das sich hin- und herbewegte und künstliche Wellen erzeugte. Der Fisch war auf stürmischer See. Er hatte die gesamte Breite der Vase zur Verfügung und kämpfte sich durch die Wellen. Ich begann eine Konversation, von Fisch zu Fisch.
Na Alter, gaukelt man dir die raue See vor?
Keine Antwort.
Mich hat man mein Leben lang im seichten Wasser gehalten. Schlachtensee. Schon mal gehört? Blubb.
Ich kann dir sagen, immer nur seicht ist auch nicht angenehm.
Blubb. Blubb.
Aber wenn ich dich so anschaue, bist du auch eine ganz schön arme Sau, sonst wärst du ja nicht in dem bekloppten Glas.
Ich überlegte, wo Goldfische sonst sein könnten, wenn nicht in bekloppten Gläsern. Und ob Fische ein Gehirn haben und ob ich überhaupt ein Gehirn habe. Da kam mir der verdammte Holden wieder in den Sinn, der hat sich auch das Hirn wund gegrübelt, weil er unbedingt wissen wollte, was die Enten im Winter machen. Als wenn das irgendeine Sau interessiert!
Ich heiße Hannes, sagte ich. Aber du kannst auch Ritschi zu mir sagen.
Blubb, blubb, sagte der Fisch und der Mensch schwieg und schaute ihm auf das Knutschmaul.
So ging das eine Weile. Im Großen und Ganzen haben wir uns unwahrscheinlich gut unterhalten.
Der Drink in meiner Hand hatte dieselbe Farbe wie das Fischwasser und auf dem Glasrand klemmte eine Scheibe Zitrone. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Der säuerliche Geruch verklebte mir die Kiemen und ich starrte wieder auf den kleinen, zappelnden orangen Körper, spürte die Wellen, die ihm ums Maul klatschten, und bekam selber kaum Luft. War denn nirgendwo ein Knopf, mit dem man die Wellen ausschalten konnte? In jedem Scheißspaßbad werden Wellen nur zur vollen Stunde angestellt, für fünf bis maximal zehn Minuten, aber dieser Goldfisch hier zappelte schon den halben Abend um sein Leben!
Ich beschloss, aufs Klo zu gehen. Als ich wieder rauskam, standen Bolt, Saphir und James Dean auf dem Flur und verhandelten über Caro und Sandra II.
»Ey Alter«, sagte Bolt und fasste mir vertrauensvoll an den Ellenbogen. »Es geht hier um die Verteilung. Ich staube Sandra ab, nur zur Information.«
»Und Caro nehme ich«, sagte Saphir, »nur dass du Bescheid weißt.«
»Geht in Ordnung«, sagte ich großzügig.
»Und Suzi gehört mir«, sagte James mit einer Fluppe zwischen den Lippen.
»Suzi?«
»Der Goldfisch, du Eierkopf!«
Wir grölten erst mal eine Runde, so richtig laut mit Nach-vorne-Beugen, damit auch alle sehen, wie viel Spaß Männer untereinander haben können. Echt, Leute, ich brüllte vor Lachen, besonders wegen dem Eierkopf, wirklich witzig. Geradezu extrem! Wir beugten und beugten uns, wie mein Alter, wenn er genug Johnny Walker intus hat. Dann verschwand Caro mit Saphir, und Bolt schob tatsächlich mit Sandra II ab. Mir brannte mein linker Oberschenkel, als ich das mit ansah. Sie schaute sich nicht mal nach mir um. Da stand ich nun. Die Party war over und ich wollte ins Bett. In mein Bett, wenn ihr’s genau wissen wollt. Ich hatte genug von dem Rauch und dem Lärm hier und so viele Schnecken auf einmal müssten verboten werden!
No woman, no cry!
Die kleine Nutella-Schnecke hatte ihre Brille abgenommen und knutschte mit diesem Sportacus im Nebenzimmer. Ihre Brille lag noch im Wohnzimmer auf dem Glastisch, neben leeren Zigarettenpackungen, Tabakkrümeln und Bierpfützen. Ich nahm sie in die Hand und putzte mit meinem T-Shirt die Gläser. Die waren so klebrig, dass ich mich fragte, ob die Gute überhaupt was erkannt hat von dem Typen, den sie da gerade bearbeitete. Ich setzte die Brille auf und ging durchs Wohnzimmer. Mit dem linken Auge sah ich nur Farben, mit dem rechten Auge erkannte ich Suzi, wie sie immer noch mit den Wellen kämpfte. Ich fand ein Kabel, unterhalb der Vase. Ich tastete mich bis zum Stecker vor und zog ihn raus. Sofort beruhigte sich der Seegang und Suzi schaukelte erschöpft an der Oberfläche und ließ sich auf dem Rücken treiben.
Ich ließ mich auch treiben, mitten auf dem Teppich, Arme und Beine weit von mir gestreckt. Aus den anderen Zimmern Schmusemusik. Ich war übrig geblieben, ich, Suzi und ein paar Zitronen. Von Sandra II hörte ich nur noch ein Kichern. Es hatte sich also nichts aus unserem Oberschenkelkontakt entwickelt. Je länger ich darüber nachdachte, desto schlechter ging es mir, mit anderen Worten, ich war richtig down, am Arsch. Mein Kopf brummte von dem blauen Wasser und mein Magen knurrte wie ein alter Hund. Außerdem fror ich. Ich ging in die Küche und suchte nach meinem Klammerbeutel, der lag im Flur. Außer dem Schnuller von Luka und den drei Eintrittskarten für das Zitrus war nichts dazugekommen. Das fiel mir sofort auf und deshalb suchte ich nach einer Hose. Fand ich auch gleich im ersten Zimmer, wo vier People auf einem Bett lagen und pennten. Ich nahm eine Jeans, zog sie an und sie passte! Dann ging ich in die Küche. Außer Toastbrot und Zitronen war nichts mehr da. Ich toastete mir ein ganzes Paket, fing die Scheiben auf, bevor sie auf den Tisch sprangen, und ging damit ins Wohnzimmer.
Ich aß den ganzen Toast auf. Danach war mein Hals rau und trocken wie ein alter Turnschuh. Ich konnte meine eigene Spucke nicht mehr runterschlucken. Vor lauter Schreck darüber muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, brummte mein Schädel, klebte mir die Zunge am Gaumen und Suzi war weg. Außerdem schien schon die Sonne. Mir voll ins Gesicht. Im Wohnzimmer sah es aus wie nach einer Seeschlacht. Überall lagen Tote und schnarchten. Ich schlich in die Küche und da sah ich es schon von Weitem: Fünf Zitronen lagen in einem Kreis auf dem Tisch und in der Mitte, auf einem weißen Teller, Suzi.