Sandra III

Der Tag dämmerte dahin und ich war völlig orientierungslos. Man hätte mich in einen Käfig sperren können, es hätte mir nichts ausgemacht. Ich kam mir klein und nackt vor und hätte mich am liebsten in irgendeinem Kleiderschrank verkrochen.

Ob meine Mutter sich so gefühlt hat, als ich sie im Kleiderschrank gesehen habe? Weiß sie eigentlich von Schwester Sabine?

Ich ließ meine Arme baumeln, sie schleiften neben mir über den Bürgersteig. Hunde bepinkelten mich, Fahrradfahrer fuhren über meine Finger, ich ging geradeaus, immer geradeaus und wusste nicht, wohin. Ich war mir sicher gewesen, Sandra wiederzusehen, aber wer da auf der Bühne im Zitrus stand, hatte nicht im Geringsten mit Sandra zu tun.

Ich hätte jetzt gern einen Telefon-Joker zur Verfügung gehabt. Um jemanden anzurufen, den ich kannte. Aber je länger ich darüber nachdachte, wen ich hätte anrufen können, umso mehr wurde mir bewusst, dass ich niemanden wirklich kannte. Nicht mal meine Eltern. Nicht mal mich selbst hätte ich anrufen wollen, so fremd war ich mir geworden.

Außerdem dämmerte mir, dass ich Sandra I nicht retten konnte, selbst wenn ich sie im Zitrus getroffen hätte. Machen wir uns doch nichts vor, Leute: Hätte ich etwa meine Hand zwischen sie und Pieter schieben sollen? Es war doch allein ihre Sache, wie weit sie gehen würde. Und wer weiß, ob es diese Sandra, die ich suchte, überhaupt wirklich gab. Nach der Talentshow war ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht war sie nur eine Erfindung meiner durchgeschüttelten Erinnerung? Ein Wunschbild, hervorgebracht durch Wundschmerz an Seele, Magen und Radiusköpfchen? Eine Erscheinung?

Ich hatte wirklich keine Ahnung vom Leben.

Es wurde wieder Nacht in Berlin, meine zweite Nacht, in der ich nicht zu Hause war.

Ich ging auf dem Todesstreifen spazieren, in der Nähe vom Checkpoint Charlie. Wenn ich Geld gehabt hätte, hätte ich mir eine Russenmütze gekauft, denn 80 Prozent der Körpertemperatur geht über den Kopf verloren. Nicht dass mir kalt war, aber ich hatte Angst, meine Körpertemperatur zu verlieren. Außerdem hätte ich gern telefoniert. Holden, der reiche Sack, hätte sich zehn Russenmützen kaufen können, außerdem telefonierte er andauernd mit irgend jemandem. Ich weiß noch, wie er die gute Jane anrufen wollte, dann aber die gute Sally angerufen hat, obwohl er die ziemlich dumm fand. Das hat er jedoch erst später geschnallt, weil sie andauernd über Kunst und Literatur gesprochen hat und ihm unglaublich intelligent vorgekommen ist. Jedenfalls haben sie erst mal ausgiebig geknutscht. Dabei findet man natürlich auch schlecht raus, wie dumm jemand wirklich ist. Außerdem hatte Holden immer angenommen, die Mädchen, mit denen er knutscht, seien a priori intelligent. Na ja, im Unterschied zu mir kam er wenigstens zum Knutschen!

Die Schnecken, die ich vor Sandra getroffen hatte, taten auch irre intelligent und wollten erst gar nicht anfangen zu knutschen. Trotzdem habe ich mich mein halbes Leben lang lieber mit Kunst und Literatur und so was auseinandergesetzt, damit man überhaupt mal ein bisschen ins Gespräch kommt mit dem anderen Geschlecht. Ich stellte mir das bildlich vor: Treffen sich P. Immel und F. Otze. Sagt P. Immel: Hast du schon den neuen H. Hesse gelesen? Sagt F. Otze: Es gibt doch gar keinen neuen!

Echt witzig! Mir wurde fast schlecht von meinem eigenen Humor. Wahnsinn, Leute, mit zwölf hatte ich Kafka gelesen und mich mit 15 durch den guten Proust geackert, aber knutschwillige Schnecken hatte ich trotzdem nicht gefunden.

Ich musste mich ein bisschen von meinem Elend ablenken, damit ich mich nicht bei der nächsten Gelegenheit in die Spree stürzte. Gehen war gut. Ich ging auf dem Ex-Todesstreifen, immer geradeaus. Wir hatten in der Neunten den Todesstreifen in Geschichte durchgenommen, die Grenze zwischen Ost und West, als es die Mauer noch gab, mit bissigen Hunden und Minen und Soldaten. Betty the Frog taten die Hunde leid, besonders die, die ihr ganzes Leben nur zwischen zwei Zäunen hin- und herrennen konnten, in der Hoffnung, in einen flüchtenden Knickser zu beißen. Wie ihr vielleicht wisst, gibt es ja den Todesstreifen nicht mehr, aber ich war mir trotzdem sicher, auf dem Todesstreifen zu gehen, denn es fühlte sich so schön tot an unter meinen grünen Flip-Flops, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr konnte ich sogar die Mauer spüren. Ja, sie wuchs und wuchs und ich machte die Augen zu und balancierte zwischen Ost und West dahin und wünschte mir die Erhöhung der Berliner Mauer um zwei Meter – dann kam ich an eine Baustelle. Der Bretterzaun war undicht, ganze Latten waren herausgebrochen, aufgeweichte Werbetafeln lagen auf dem Boden. Pure Reinheit und herrliche Frische – so rein und frisch wie ein Tag am Meer.

Ob hier heute Nacht die Events stattfanden, von der die Zitrusschnecke erzählt hatte?

Ich quetschte mich durch den Lattenspalt und war in einer Bauwüste gelandet. Paletten lagen herum, Plastikplanen wisperten im Wind, am Horizont zwei Kräne, einer noch größer als der andere. Jede Menge Steine; es roch nach Zement. Ansonsten war es sehr sandig, fast beachy. Unkraut und Gestrüpp kroch über die Sandhügel. Ich ging weiter, der Verkehr verstummte, es war ein riesiges Areal mit Bauruinen.

Dann fiel ich in ein Loch. Es war kein großes Loch, nur eine ausgebuddelte Pfütze, sandig, weich und warm mit einer platt getretenen Zigarettenpackung darin. Route 66, Palenie zabija.

Ich schaute mich um, aber es war niemand zu sehen, ich zog meine Flip-Flops aus und wärmte mir die Füße im Sand. Und wie das so ist, wenn man sich die Füße wärmt, kommen einem Ahnungen. Ganze Gedichte sind über solche Ahnungen schon geschrieben worden. Der gute alte Mörike könnte ein Lied davon singen, mit Glockenton und allem Drum und Dran. So was kriegt man nur mit sandwarmen Füßen hin. Ich hatte eine Ahnung, dass jemand kommen würde.

Die Gestalt sah im Zwielicht des Abends aus wie ein weiblicher Minotaurus. Ihr Anblick rammte mich wie einen Pflock in den Sand. Ich stand da und konnte mich nicht mehr rühren. Horchte. Von fern ein leises Hufgetrappel.

Der Schweif des Pferdes wehte seitlich an dem Tier vorbei. Mähne und die Haare des Mädchens auf dem Pferd wehten ebenfalls Richtung Ost.

Dann haben wir also Westwind, ging es mir durch den Kopf, ansonsten denkt man als eingerammter Pfahl nicht viel. Man beobachtet nur, man lauscht und spürt Vibrationen. Die Hufe kamen immer näher. Das Mädchen auf dem Pferd war barfuß. Sie ritt ohne Sattel, ohne Zaumzeug, sie hielt nur einen Strick in der rechten Hand. Ihr T-Shirt war groß und schlabberig und ihr linker Arm hing locker an ihr herab; ab und zu berührte ihre Hand die Flanke des Pferdes.

Es war ein graues Pferd, voller Nebel. Hauke Hein hätte damit über den Deich düsen können und niemand hätte ihn je gesehen. Aber heute war es nicht neblig. Die Sonnenstrahlen verschleierten gerade den Fernsehturm, als das Mädchen immer näher kam. Sie ritt genau auf mich zu. Ich, Pfahl in deinem Fleische, rührte mich nicht. Das Pferd kam vor mir zum Stehen, reckte den Kopf und prustete mir warmen Grasatem ins Gesicht. Ich hatte noch nie Angst vor Pferden.

Das Mädchen schaute von oben auf mich herab. Ihre braunen Haare wehten ihr von hinten ins Gesicht, obwohl sich der Wind nicht gedreht hatte. Dann sah ich ihre zimtbraunen Augen, den Mund, die hohen Wangenknochen, die großen Ohren und jemand stellte den Strom an. Yellow Strom natürlich. Wir geben alles!

Sie sagte nichts.

»Ist das dein Pferd?«, fragte ich. Einer musste ja schließlich den Anfang machen. Meine Stimme tröpfelte mir ins Gesicht wie Nieselregen. Eine Amsel sang, vielleicht war es auch schon die Nachtigall. Das Mädchen legte den Kopf schräg, als warte sie auf etwas. Ich schaute dem Pferd auf die Beine.

»Ungarisches Vollblut?«

Sie lächelte.

»Ein bisschen Araber ist bestimmt auch mit drin?«

Ihre Zähne standen ein wenig auseinander. Zwischen den Schneidezähnen war eine Lücke. Im Gesicht keine Schminke. Leute, ich fasste es nicht! Eine echte Sandra, und ein Gebiss mit Ecken und Kanten, Schiefstand und Lücken!

Ich ließ meine ganze Pferdekenntnis raus, aber sie sagte immer noch nichts. War sie stumm? Oder war das etwa ihre Therapie-Reitstunde? Pferde helfen ja bei allen Macken, man muss nur wissen, wie man mit ihnen umzugehen hat, dann fressen sie einem aus der Hand. Das habe ich mal im Wartezimmer meiner Mutter gelesen. Außerdem wollte ich früher Cowboy werden, kenn mich persönlich aus mit Pferden, hatte mal eine Zehnerkarte in der Reitschule Grunewald, aber ich bin kein Cowboy geworden und Macken habe ich auch keine.

Sie hatte einen Schnuller um den Hals, als Kettenanhänger, einen grünen, mit blauen Entchen. Ich kam mir sehr klein vor, ich stand da und schaute zu ihr hinauf, wie sie zu mir herabblickte, und ich wusste, es ist Sandra, Sandra III, Göttin der Vollkommenheit, auf einem Löwen reitend, mir Kraft und Wissen, Handeln und Weisheit für mein weiteres Leben bringend. Der Himmel hatte sie mir gesandt, im allerletzten Augenblick, bevor ich im Treibsand der ewigen Baustelle verschwinden sollte.

Das Pferd schnaubte.

»Was ist los mit dir?«

Das waren ihre ersten Worte. Zuckerwürfel sprangen aus ihrem Mund und vergruben mich. Ich wühlte mich frei, ringend nach Worten.

»Nichts«, sagte ich, meine Stimme sehr tief legend, aber die Stimme wollte nicht tief liegen. Sie wurde immer leiser, besonders als ich hinzufügte: »Das ist ja mein Problem.«

»Würde ich eher als Chance sehen«, sagte sie und stieg vom Pferd, ließ die Zügel hängen – wie ein verdammter Cowboy –, ohne dass der Gaul wegrannte. Dann flüsterte sie ihm noch was ins Ohr, der Gaul nickte und kratzte dreimal mit dem Vorderhuf. Bestimmt konnte er auch rechnen.

Ich versuchte zu grinsen, aber es ging nicht. Als ich so dastand, knietief im Sand, mit dem klugen Pferd und Sandra III vor mir, war mir alles andere als zum Lachen zumute. Ich wusste überhaupt nicht mehr weiter. Sandras Blick verzauberte mich, machte mich klein wie ein Sandfloh. Ich spürte genau, wie mir sechs Beine wuchsen. Ich wäre gern gesprungen, egal wohin, einfach damit Bewegung ins Spiel kam.

Der Wind wehte, die Sonne schien und aus der Ferne wieherte es. Irgendwo, weit hinter uns, musste es noch einen verdammten Gaul geben, der rechnen konnte. – Das dachte ich in dem Moment und war enttäuscht von mir, weil ich nicht mal grinsen konnte.

Das Pferd suchte mit den Ohren das ferne Wiehern, es blähte die Nüstern und prustete, dass die Unterlippe vibrierte. Erst da merkte ich, dass ich weinte. Leute, ich sag es nicht gern, aber mir tropften die Tränen nur so von den Wangen. Meine Mutter wäre entzückt gewesen und hätte mir alle möglichen Fragen gestellt für ihren neuen Vortrag: »Der moderne, weinende Mann«, und ich hätte jede Menge Fragebogen ausfüllen müssen, solche, in denen immer ein paar Fragen dieselben sind: Wie oft in der Woche haben Sie Geschlechtsverkehr?, Wie oft onanieren Sie am Tag? – meine Mutter würde in ihrem Kumpelton sagen: »Die Fragen kannst du überspringen«, und sich den Finger anlecken, damit sie besser umblättern kann, ohne mich dabei ansehen zu müssen.

Das Mädchen stand neben dem Pferd und legte eine Hand auf meinen Arm.

»Komm«, sagte sie. »Wir gehen ein bisschen spazieren.«

Wir stakten durch den Sand und ich schaute auf meine nackten Füße. Der Tränenfluss war zum Glück versiegt, dafür hatte ich meine Flip-Flops vergessen, aber das Mädchen war auch barfuß. Ihre Füße waren dreckig, wie die von Oliver Twist. Immer wenn sie einen Fuß aufsetzte, spreizte sie den kleinen Zeh. Sie hatte sehnige Waden und runde Knie. Ich wischte mir mit dem Handrücken über das Gesicht.

»Ärger mit deinen Alten?« Ich spürte ihren Blick auf meinem Che-Guevara-Shirt.

Ich schüttelte den Kopf. Mann, war ich froh, dass ich wenigstens eine Jeans anhatte und nicht mehr mit Unterhose durch die Gegend lief!

»Mit den Kumpels?«

Ich schüttelte wieder den Kopf.

»Schule?«

Wer glaubt, dass ich eine anständige Verneinung herausgebracht hätte, irrt! Da brauchte es schon noch eine Frage.

»Freundin?«

»Nein!« Ich schaute ihr aufs Knie und merkte, wie ich rot wurde. Endlich hatte ich auch mal etwas Konstruktives zur Unterhaltung beigetragen. Leider konnte ich mich nicht mit dieser Aussage begnügen und sagte: »Mit meiner Freundin ist alles bestens. Sie ist Sängerin.«

Das Pferd trottete hinter uns her, am langen Zügel. Es kam mir plötzlich alt und allein vor. Man liest ja öfter solche Horrorgeschichten, dass Pferde im letzten Moment noch von einem Mädchen vor dem Schlachter gerettet werden.

Wir gingen an Paletten mit Backsteinen vorbei, an Bretterhaufen und einer zerbeulten Zementmischmaschine. Eine leere Kabeltrommel lag im Sand.

»Ich möchte auch Sängerin werden.«

»Wollen wir das nicht alle?«, sagte ich und grinste. Gleichzeitig fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, darüber keinen Witz zu machen. Sie lachte nicht mit, schaute mich nur von der Seite an.

Wir gingen nebeneinander, warfen lange Schatten; das Mädchen, das Pferd und ich. Vor uns ragte eine kleine kahle Birke aus einem Kieselsteinhaufen.

»Wie heißt du?«, fragte das Mädchen.

»Johannes«, sagte ich. »Und du?«

Sie kniff leicht die Augen zusammen.

»Sag ich nicht.«

»Ach komm!«

Wir blieben nicht stehen.

»Warum willst du mir deinen Namen nicht sagen?«

Sie lächelte aus den Augenwinkeln heraus.

»Ich habe dir meinen doch auch gesagt.«

Sie nickte, wie ein Pferd. Mir kroch mein Herzschlag in den Nacken.

»Warum machst du so ein Geheimnis aus deinem Namen?«

»Ich weiß nicht, ob ich ihn dir zumuten kann.«

»Heißt du Elvira oder Elfriede?«

»Nein.«

»Isolde oder Kriemhild?«

»Quatsch!«

»Heißt du etwa Rumpelstilzchen?«

Sie lachte laut auf.

»Ich heiße Sandra.« Sie schaute mir voll in die Augen.

Mir war, als schüttete mir jemand Milkshake in den Kragen. Sandra! Ich hatte es geahnt! Wie viel Wunder verkraftet man eigentlich?

»Das ist doch …«, stotterte ich. »Ein … sehr schöner Name.«

»Findest du?«

Das Pferd stupste sie an, als wollte es sagen, jetzt ist es aber genug.

Sandra band das Pferd an einen Pfeiler und berührte mich am Ellenbogen, genau am Radiusköpfchen, aber es tat überhaupt nicht mehr weh. Ihre Hand war eine kleine Höhle und mein Ellenbogen passte genau hinein. Sie schob mich ein bisschen vorwärts, dann ließ sie mich los. Ich hielt meinen Arm angewinkelt, damit ich die Berührung nicht verlor. Sie ging an mir vorbei, ihr Rock wehte um ihre Knie; dann drehte sie sich zu mir und traf mich voll mit ihrem Blick. Ich bekam einen Flashback nach dem anderen, sah Sandra I, wie sie dem Schlachtensee entstieg, und spürte mein Bein, wo ich mit Sandra II zusammenwachsen wollte. Aber vor mir stand Sandra III und die matte Abendsonne ließ ihre leicht gebräunte Haut schimmern und legte ihr ein gelbes Licht auf die Haare wie einen Heiligenschein. Irgendwo brüllte ein Löwe.