Sandra II
Nicht, dass es was Besonderes gewesen wäre, S-Bahn zu fahren, ich fahre täglich mindestens zwei Mal mit der BVG, aber jetzt kam es mir so vor, als säße ich gar nicht in der S-Bahn. Im Flugzeug saß ich auch nicht, das war klar, und irgend so ein Spaceshuttle konnte es auch nicht sein, dafür waren wir zu langsam. Ich kam mir eher vor wie in einer Pferdekutsche, und wenn ich die Augen schloss, sah ich Sandra vor mir. Sie saß mit weißen Handschuhen und schwarzem Hut vor mir, hatte einen Schleier über den Augen, der nur den Mund frei ließ. Sie redete mit mir, aber ich konnte sie nicht hören. Ich schaute diesen ungeschminkten Mund an, wie er fröhlich in ihrem Gesicht herumhüpfte. Dann verwandelte er sich in einen Schmetterling und flog davon.
Die S-Bahn bremste. Schöneberg. Mir gegenüber saßen ein Typ und eine Frau mit BZ. Ich holte meinen Tagesspiegel aus dem Klammerbeutel und blätterte die Seite Auslandspolitik auf. Nicht dass ich ernsthaft Zeitung lesen wollte, aber es war mein Schutzschild gegen die BZ-Leser. Ich schielte seitlich neben dem Tagesspiegel hervor und las eine interessante Meldung in der BZ:
ENDE EINER TRAUMEHE – REICHTUM MACHT EBEN DOCH NICHT GLÜCKLICH
Ich beugte mich vor, damit ich den Artikel lesen konnte:
Nach zwei Monaten Ehe will sich die aus Bayern stammende Adlige Hatice Nawaz alias Roswitha von Miesburg von ihrem Kamil Al-Shahrani trennen. Die ehemalige Prinzessin habe darunter gelitten, dass sich der 27 Jahre ältere Multimilliardär Al-Shahrani schon bald nach der pompösen Hochzeitsreise seinen teuren Hobbys wie Jachten, Flugzeugen und Frauen wieder mehr gewidmet habe als der Familie. Shahranis Anhänger, etwa 12 Millionen an der Zahl, sehen in ihm den Nachfahren des Propheten Mohammed und spenden an die Gemeinschaftskasse des Religionsfürsten ein Zehntel ihres Einkommens.
Der vermeintliche Mohammed war abgebildet und seine blonde, 27 Jahre jüngere Frau auch. Leute, es war ein widerlicher alter Sack, aber die Idee, sich für einen Nachfahren von Mohammed auszugeben, hätte von mir sein können. Mann, der Typ musste nicht den kleinsten Finger rühren und alle gläubigen Idioten spendeten rund um die Uhr für ihn! Ich stellte mir vor, wie 12 Millionen je einen Euro spendeten, an mich natürlich. 50 Cent würden schon reichen. Ihr könnt mir glauben, da läuteten alle Glocken von Jericho, und ich hätte echt überhaupt keine Probleme, mit der Kohle umzugehen. Meine Oma-Hamburg sagt zwar auch immer, so viel Geld macht doch nicht glücklich, und dass sie froh sei, noch nie den Jackpot geknackt zu haben, denn damit fängt alles Unglück an. Trotzdem spielt sie regelmäßig Lotto. Leute, ich würde nur noch auf dem Badeschiff rumchillen, während die Gläubigen fleißig für meinen Lebensunterhalt aufkämen und für meine Luxusbedürfnisse. Ich würde natürlich ein eigenes Badeschiff besitzen und in London und New York eine Villa haben mit ’nem Fuhrpark vor der Tür. Jaguar, Ferrari, Bentley, Porsche, Maserati – 1000 Butler wuselten um mich herum, hielten aber die Klappe und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab. Ich wandelte nur noch durch die Gegend, verkündete aus jeder Pore Weisheiten, die ich mir aus dem Internet oder aus dem Apothekenkalender gefischt hätte.
Und einmal im Jahr pilgerten alle zu einer Stätte, wo ich mal hingekotzt habe. Natürlich hätte ich auch eine 27 Jahre jüngere Frau – falls ich Lust hätte, so lange auf sie zu warten und mich nicht mit 100 Jungfrauen im Diesseits zu vergnügen, denn meine 27 Jahre jüngere Frau wäre jetzt erst minus elf Jahre alt.
Vor mir wurde die BZ zusammengefaltet. Die Frau räusperte sich und stieg aus. Der Typ blieb sitzen. Er hatte einen Pferdeschwanz, wahrscheinlich auch so um die 16, dem üppigen Bartwuchs nach zu urteilen. Haha!
Er grinste mich an, gar nicht mal abschätzend, eher interessiert. So ein Pferdeschwanz würde gut zu meinem Outfit passen, aber dafür waren meine Haare noch ein bisschen zu kurz.
»Ich hab ’ne Cousine«, sagte er, »die läuft den ganzen Tag barfuß durch Dresden.« Er deutete mit dem Kinn auf meine Füße. »Haste schon Hornhaut?«
»Nein«, sagte ich. »Heilige kriegen keine Hornhaut, weil sie wandeln und den Boden nicht berühren.«
»Cool.«
»Du hast doch bestimmt schon mal von Jesus gehört. Der konnte sogar über Wasser gehen.«
»Bist du Jesus, oder was?«
»So was Ähnliches …« Ich beugte mich vor und flüsterte ihm zu: »Ich bin ein lang ersehnter Erlöser.«
»Wen erlöst du denn?«
»Die Menschheit.«
»Und wovon?«
»Vom Internet natürlich.«
Der Typ grinste. »Cool«, sagte er wieder, und: »Mach weiter so, Alter!«, stand auf und stieg Anhalter Bahnhof aus.
Okay, ich hatte kapiert: Man sollte nicht so direkt sein, eher in Rätseln sprechen, wie in der Literatur, denn je weniger man versteht, desto intellektueller die Botschaft. Dann steigen die Gläubigen nicht so schnell aus.
Die Leute, die unsere kleine Konversation mitgekriegt hatten, starrten mich finster an. Blicke durchbohrten mich wie Dolche. Mir wurde übel, ich bekam zittrige Knie, mein Herz fing an zu rasen. Was wäre, wenn jetzt so ein hirnloser Neuköllner oder islamischer Fundi in der S-Bahn säße und mir seinen Dolch zwischen die Rippen rammen wollte, just for fun oder mit einem Zettel gespickt, einer Botschaft an die nichtgläubigen Kapitalisten: »Geht nie wieder ins KadeWe oder wir löschen euch alle aus!« Ich wollte keinen Märtyrertod sterben, ich sprang auf und wollte aussteigen, aber die nächste Station war Hauptbahnhof, da steigt man nicht aus, es sei denn, man will ins Regierungsviertel oder in den Hamburger Bahnhof, Beuys’sche Fettecken angucken, aber ich wollte keine Fettecken angucken, ich wollte aufs Badeschiff, aber zum Badeschiff würde es noch eine Ewigkeit dauern. Ich musste mich an der Haltestange festhalten, sonst wäre ich ohnmächtig geworden, und stieg dann doch aus, aber nur, um zwei, drei Waggons vorzugehen und dort wieder einzusteigen. Dann ging es mir besser. Eine Schulklasse quetschte sich noch nach mir in den Waggon, irgendwelche Touristen aus Osnabrück. Sechste oder siebte Klasse. Die Mädchen sahen aus wie Avril Lavigne und Shakira, oder wollten so aussehen, dabei hatten sie X-Beine und Wabbelbäuche und ich wünschte ihnen fette Wintermäntel an den Hals.
Es war ein einziges Fratzen- und Tuscheltheater. Natürlich machten sie sich lustig über mich. Aber irgendwie fanden sie mich auch cool. Das sah man ihnen an. Ein Mädchen mit völlig verklebten Tuschwimpern setzte sich neben mich.
»Hier«, sagte sie. »Kannste haben. Eintrittskarten für eine Talentparty in Berlin Friedrichshain, für morgen. Leider sind wir nicht mehr da.«
Ich schaute auf die Karten. Jede war fünf Euro wert plus ein Freigetränk. Ich hatte sieben Karten!
»Geiles T-Shirt«, sagte das Mädchen noch. »Wo gibt’s denn so was?«
»Im KadeWe!«, rief ich ihr hinterher.
Die Schulklasse stieg aus, das Mädchen drehte sich zu mir um und zwinkerte mir zu. Die S-Bahn fuhr weiter und das Mädchen verschwand im Gedränge zur Rolltreppe.
Die Karten schienen nicht gezinkt zu sein. Wo hatte sie die nur her? Da kommt so ein Frosch für drei Tage nach Berlin und staubt einen ganzen Packen Eintrittskarten ab für das Zitrus, und ich wohne hier schon mein Leben lang und hab noch nie eine geschenkt gekriegt. Über den Club wurde immer nur getuschelt, wie geil es da sein soll und dass da die Stars von morgen geboren werden, und man war schon ein Hecht, nur wenn man reinkam.
Keine zehn Minuten später stand ich am Alex, vor dem Neptunbrunnen, und versuchte, die Karten in Geld zu verwandeln. Ich wollte sie für 4,50 verkaufen, musste aber auf vier Euro runtergehen, wurde vier Karten auf einmal los und konnte auf 20 Euro nicht rausgeben. Großzügig, wie ich war, schenkte ich der Frau noch eine und bekam 50 Cent Trinkgeld.
Als Erstes kaufte ich mir einen Döner. Er war warm und saftig und mir klebte das Gemüse nur so an der Backe. Ich kaufte mir gleich noch einen und wollte mir gerade eine Riesenpulle Cola gönnen, da dachte ich, vielleicht schadet Cola meinem Glück, Heilige trinken auch keine Cola, und fuhr mit voller Wampe und noch Rotkohlresten zwischen den Zähnen mit der Rolltreppe durch das beknackte Kaufhaus und landete auf der Kundentoilette. Leider war da nichts mit Wassertrinken. Die Hähne funktionierten nur, wenn man die Hand darunterhielt, aber nicht den Kopf. Sobald man auch nur seine Lippen mit der Hand benetzt hatte, zog sich der Wasserstrahl sofort zurück. Und für den Reinfall sollte ich 50 Cent abdrücken?
Ich bin dann wieder runter ins Erdgeschoss und habe mir doch so eine Scheißcola gekauft, mit all den 50 Zuckerstückchen, die einem über Nacht die Zähne zerfressen; und auf dem Rückweg kanariengelbe Flip-Flops für 1,99 und eine Sonnenbrille mit blauen Gläsern für 2,98.
Ich sag euch, da ging die Post ab, als ich wieder auf dem Alex stand! Glück durchflutete mich wie Röntgenstrahlen, und alles war so schön blau, der Himmel, der Alex und ich – blau vor lauter Glück. Ich kletterte auf die Tribüne und haute mich erst mal ein Weilchen hin, um in Ruhe zu verdauen.
Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich saß ein Mädchen neben mir. Lippe gepierct, Nase gepierct und die linke Augenbraue auch; saß da, mit ’ner Fluppe in der Hand, kaute auf dem Lippenpiercing herum und wippte mit den Füßen. Sie bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie und rauchte. Rauchte, als hätte ich schon immer geraucht und nicht erst seit ein paar Stunden. Wir rauchten und schauten den weißen Kondensstreifen am Himmel hinterher, die durch meine Brille blau wurden. Es sah aus, als würde Gott auch rauchen. The more you know. Und endlich mal ein Mädchen, das nicht immerzu quasselte! Wir beobachteten die Leute, die vorübergingen, die Punks, die mit ihren Hunden bettelten, und rauchten noch eine Zigarette. Das war der reinste Stummfilm, den wir da abzogen, und mit der Zeit hätte ich doch gern das eine oder das andere gewusst, beispielsweise was sie hier am Alex tut. Normalerweise chillt man ja nicht einfach mitten auf dem Alex rum, wenn man sich nicht gerade mit jemandem zum Komasaufen verabredet hat. Aber sie schien auf niemanden zu warten. Sie saß da, völlig relaxed, abgehoben, mit den Füßen baumelnd – eine Heilige, genau wie ich. Vielleicht war sie ja die Inkarnation meiner noch nicht auf dieser Welt existierenden, 27 Jahre jüngeren Frau?
»Was grinst’n so?«
Ihre Stimme kam mir bekannt vor. Sie klang irgendwie grün, wenn ihr wisst, was ich meine. Dann bekam ich Gänsehaut im Nacken. Ich zuckte die Schultern.
Sie sagte nichts, lachte auch nicht, bot mir einfach noch eine Zigarette an. Route 66. Mit dicken schwarzen Lettern stand die Warnung des Gesundheitsministeriums darauf: Palenie zabija.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
Ich schaute sie an. Ich meinte, einen ukrainischen Akzent in ihrer Stimme zu hören. »Holden«, sagte ich. Mein Herz raste. Beinahe hätte ich Mohammed gesagt.
»Holden?«
Sie kräuselte die Stirn. »Was ist das denn für ein Name?« Ihre Augen waren honigbraun.
»Ach, das ist so ein Typ aus einem Buch. Und wie heißt du?«
Sie überhörte meine Frage und sagte: »Und was hat der Typ gemacht?«
»Der war ziemlich intelligent für sein Alter, hat die Schule boykottiert und gecheckt, wie verlogen alles ist.«
Sie guckte mich herausfordernd an. »Und sonst?«
»Er hat sein Leben selbst in die Hand genommen.«
»Das tun wir doch alle.« Sie wandte den Kopf ab und zündete sich eine Zigarette an.
Bis zu dem Zeitpunkt war mir noch gar nicht bewusst, dass ich mein Leben bereits selbst in die Hand genommen hatte. Es stimmte zwar, wie ich heute weiß, und irgendwas war anders seit diesem Morgen – aber besonders souverän fühlte ich mich nicht gerade.
Sie rauchte. Ich rauchte auch noch eine. Ich kann euch sagen, diese Scheißdinger machen einem den Hals kaputt, die Bronchien, die Lunge, alles. Ich hörte schon das Karzinom wachsen, da fragte ich noch mal nach ihrem Namen.
»Sandra«, sagte sie, so beiläufig, als spräche sie von jemand anders.
Sie musste ihren Namen noch mal sagen, weil genau in dem Moment die Uhr vom Roten Rathaus drei schlug. Aber an ihrem Namen änderte das nichts.