Der Schattendes Scheinriesen
Die Sonne schien, aber sie erreichte mich nicht. Mein Herz lag im Schatten. Die Rippen drückten; meine Haut war zu eng. Ich kam mir vor, als hätte man mich in einen zu kleinen Pariser gesteckt, wenn ihr wisst, was ich meine.
Ich ging. Oder vielmehr: Ich ließ mich gehen. Im wahrsten Sinne des Wortes! Meine Beine gingen voraus und ich floss hinterher.
Alles fließt, habe ich mal im Philosophieunterricht gehört, also warum ich nicht auch?
Ich floss durch die Straßen, durch die U-Bahn, ich floss aus mir heraus und verdunstete in einem schönen Sommertag. Bye, bye, Leute, das war’s. Ich ward nie mehr gesehen. Ich hatte meinen eigenen Grabstein vor Augen: Johannes Holden Ephraim Springborn – hier endet seine tragische Geschichte.
Wenn es doch nur so einfach wäre im Leben. Sogar wenn man das Leben selbst in die Hand nimmt, ist es nicht leicht zu verduften. Erstens passt so ein verdammtes Leben gar nicht in die eigene Hand und zweitens verduftet man nicht. Man verdunstet auch nicht, obwohl wir zu 80 Prozent aus Wasser bestehen. Wir verstinken, verrotten, verpesten das Grundwasser, von dem andere noch trinken müssen, wir, die Krönung der Schöpfung. Deswegen bleibt man doch lieber so lange wie möglich am Leben, auch wenn einen das manchmal zum Verzweifeln bringen kann. In einer Minute denkt man, man kommt irgendwie durch, in der anderen Minute ist schon wieder alles Neese, wie der Berliner sagt. Ich bin Berliner, aber ich darf so was nicht sagen, ich gehöre zur gebildeten Schicht. Man hat mich gebildet, wie sich Eisblumen an den Fenstern bilden, einfach weil es zu kalt wird. Und deshalb war ich jetzt hier, auf der Straße, und die Autos hupten nicht mal.
Ich floss dahin und fragte mich, wie es wohl mit dem guten Holden weiterging und wo wohl Sandras Buch geblieben war und welcher Arsch gerade darin las.
Ich hatte die Schnauze voll und wollte nach Hause, in mein Bett, zu meinem Computer, mir stapelweise Pastrami-Stullen schmieren, auch wenn man nie genau weiß, was in Pastrami drin ist. Ja, ich wollte meinen Computer hochfahren. Was hätte ich darum gegeben, den Begrüßungssound zu hören, das kleine fröhliche Glucksen, nachdem er angesprungen ist. Meine Fingerspitzen lechzten nach der Tastatur, meine rechte Hand nach der Maus. – Ein paar nette Doppelklicks hier und da und nichts wie ab ins Internet, ein bisschen surfen, chillen, mal gucken, was es Neues auf der Kaninchenseite gab.
Aber ich war ohne Computer, ohne Eltern, ohne Zuhause und, was mich am meisten störte: ohne eigenen Willen. Er musste mir irgendwo abhanden gekommen sein. Große Männer verlieren manchmal Eigenschaften oder ihren Schatten, aber dass man den eigenen Willen verliert, davon hatte ich noch nie gehört. Ich konnte auch nicht mehr grübeln. Mein Ellenbogen tat weh. Ich überlegte, ob ich einen Orthopäden aufsuchen sollte, einen Kollegen von meinem Vater. Die ganze verdammte Stadt war voller Kollegen, aber ich hatte meine Chipkarte nicht dabei. Leute, ich sage euch, geht nie ohne Chipkarte aus dem Haus!
Der Schmerz wurde stärker, ich konnte kaum noch den Arm gerade halten. Ich streckte meine Hand aus. Eine Hand für Mama, eine Hand für Papa und dann »eins, zwei, drei – hopp!«. Das haben wir früher gespielt, am Schlachtensee, sonntags, wenn wir spazieren gegangen sind. Echt, Leute, es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als eine Hand in Mamas Hand und die andere in Papas zu legen und sich bei »drei« fliegen zu lassen. Sicher und geborgen, denn deine Eltern lassen dich niemals los … bis ich mir dabei das Radiusköpfchen ausgerenkt habe. Schaut in eurem Autoatlas nach, wo das Radiusköpfchen liegt, und fragt euren Arzt oder Apotheker, was es heißt, wenn man es sich auskugelt. Fragt mich, wenn ihr wissen wollt, wie weh das tut. Man sieht Sterne. Echte Sterne. Das ganze Sonnensystem flirrt an einem vorbei, auch wenn man erst drei ist. Die meisten Astronomen sind nur Astronomen geworden, weil sie sich als Kind das Radiusköpfchen ausgekugelt haben; aber nur, wenn sie keinen Orthopäden als Vater hatten. Der renkt einem nämlich im Nu das Radiusköpfchen wieder ein, mitten auf der Straße – oder am Schlachtensee. Man sieht nicht lange genug Sterne, um Astronom zu werden. Man atmet den Schweiß seines eigenen Vaters und gibt ihm nie wieder die Hand, und die Mutter traut sich nicht mehr, »eins, zwei, drei – hopp!« zu spielen. Und schon ist’s vorbei, das Leben im Geborgenen.
Mein Ellenbogen schmerzte, und mir wurde erst jetzt richtig bewusst, wie allein ich war, allein unter Wichsern und Wölfen, ausgestoßen in die Welt, willenlos.
Mach was aus deinem Leben, sonst machen wir’s! – Bei diesen Preisen muss man reisen! – Mehr Erfolg pro Leben!
Ich fühlte mich klein und schrumpelig, wie eine Trockenerbse. Da traf ich diese drei Witzbolde von der Party. Bolt und Saphir und den anderen. Sie hatten riesige Sonnenbrillen auf und rannten mich fast um.
»Ey, guckt mal«, rief einer und zeigte auf mich. »Da ist doch …«
Sie hatten meinen Namen vergessen; ich konnte trotzdem nicht entkommen. Einen Moment dachte ich, ich könnte mich unter einem parkenden Auto verkriechen, dünn genug dafür war ich inzwischen.
»Extrem«, sagte einer und glotzte mich an.
Ein anderer sagte: »Gehen zwei Erbsen spazieren, sagt die eine Erbse zu der anderen Erbse: Vorsicht, da kommt eine Trep-Trep-Trep…«
Sie lachten sich kaputt. Mir kam nicht mal eine Träne. Dabei liebe ich harmlose Witze, ehrlich, ich kann gar nicht genug davon kriegen, im Gegensatz zu den peinlichen, die mein Vater immer ablässt, wenn Besuch da ist.
»Ey, Alter, kommst du mit?«
Ich war bereit mitzugehen, wohin auch immer, weil ich keinen eigenen Willen mehr hatte, abgenabelt, einsam. Also folgte ich diesen Idioten. Immerhin hatten sie auf der Party alle geschlechtsreifen Schnecken abgesahnt. Vielleicht konnte ich noch was von ihnen lernen.
Wir gingen zur Waldorfschule, eine dieser Steiner-Schulen, auf die meine Mutter mich gern geschickt hätte. Aber mein Vater hatte immer gesagt, der Junge braucht Ecken und Kanten. Und so bin ich auf eine ganz normale Schule gegangen, weil man da Ecken und Kanten kriegt und sich später selbst zurechtschleifen kann. Wenn ich meinen Vater für eine Entscheidung achte, dann für diese. Ich habe in meinem Leben schon so viele Leute kennengelernt, die sich für etwas Besseres gehalten haben, nur weil sie auf eine besondere Schule gegangen sind. Was für eine Illusion! Ich meine, man hat es doch überall zu 90 Prozent mit Idioten zu tun, oder?
Eric, der Enkel der guten Frau Larmanta, unserer Nachbarin, die nachmittags kniefrei auf dem Alex rumhopst und Jesuslieder singt, deren Enkel also war auch auf einer Waldorfschule. Er hat Rose mit »h« geschrieben und Senf mit »m« und »pf« und so einen Mist. Er stand immer am Zaun und guckte in unseren Garten, und ich habe gerufen: »Komm doch rüber, wenn du dich traust.«
»Natürlich trau ich mich!«, hat er zurückgerufen, ist aber nie rübergekommen. Was nützt einem da die Waldorfschule?
Das Gebäude ragte hoch vor mir auf. Von außen sah die Schule ganz normal aus.
»Komm doch, wenn du dich traust«, murmelte sie zwischen den Steinen hervor.
»Klar trau ich mich!«, zischte ich zwischen den Schneidezähnen zurück. Dabei wäre ich am liebsten weggerannt. Aber wohin?
Die Jungs nahmen ihre Sonnenbrillen ab. Von der Party war in ihren Gesichtern nichts übrig geblieben, sie sahen weder sonderlich müde aus noch sonderlich interessant. Sie erinnerten mich an Collagen: irgendwo mal ausgeschnitten und aufgeklebt worden. Ich konnte auch nicht erkennen, ob einer von ihnen mit Sandra II entscheidende Szenen erlebt hatte oder ob unter ihnen gar der Suzi-Mörder war. Keinerlei Anzeichen. Wir gucken uns immer nur vor die Köpfe.
Zwei der Jungs machten eine Räuberleiter. Der dritte ließ sich bis zu einer Rankhilfe für Efeu heben, stieg über Mauervorsprünge und Befestigungsringe eines Wasserrohrs auf eine Feuerleiter und stieg an fünf Stockwerken vorbei auf das Dach der Waldorfschule empor.
Die beiden anderen taten es ihm nach; dann war ich an der Reihe. Ich hatte also nichts Besseres zu tun, als mit diesen Blödmännern auf ein Schuldach zu steigen. Aber ich wollte nicht allein sein, an diesem Tag jedenfalls nicht.
Die Sonne blendete tierisch, ich eckte ein paarmal an der Waldorf-Mauer an, riss Efeu aus der biodynamischen Kletterhilfe und rutschte von Befestigungsringen, meinte ein Ächzen und Stöhnen zu hören, ein leises Reiben, als würde Mörtel bröckeln, aber ich stürzte nicht ab. Als ich auf der Feuerleiter Sprosse um Sprosse dem Dach näher kam, fühlte ich eine leichte Gipfeleuphorie in mir aufsteigen.
Leute, ich hatte etwas geschafft in meinem Leben!
Auf dem Dach rauchten wir erst mal ein paar Zigaretten. Die Luft war gut hier oben, keine Abgase oder so. Es war auch nicht laut. Der ideale Platz über den Wolken. Der Autolärm blieb irgendwo zwischen Parterre und erstem Stock kleben. Ein frisches Lüftchen wehte und der Wachmann vom Jüdischen Museum war winzig klein.
Saphir I, II und III machten blöde Witze und meine Zeit verstrich. Dort, auf dem Dach, zwischen Himmel und Erde, hatte ich wieder dieses unbestimmte Gefühl, dass bei mir eine entscheidende Lebensphase gerade drastisch zu Ende ging. Und ihr könnt mir glauben, ich spürte die Lust des Abgrunds ganz deutlich und ich wollte keinen Schritt zurück. Bei mir würde sich was tun im Leben und ich würde auf keinen Fall so schafsmäßig dahindümpeln wie die meisten um mich herum.
Der Wachmann vor dem Jüdischen Museum warf lange Schatten und sah aus wie ein Scheinriese. Klein sein und groß scheinen … Wie mein Alter und meine Mutter, wenn sie über Sex redeten. Alles diente doch nur dazu, sich scheinbar groß und klug und glücklich zu zeigen. Aber nur ich wusste, dass sie es nicht waren. Würde sonst mein Vater mit Schwester Sabine rummachen? Leute, die Welt war verlogen und ich hockte mittendrin!
Aber wer sagt einem schon, was richtig ist? Die gute Medusa versuchte es tagein, tagaus, uns das Richtige beizubringen. Geschichte, Kultur, Ethik, Philosophie. Und was haben wir davon? Anton Hellbauer, der Beste in Ethik, zieht sich in jeder Pause Pornos über sein Handy rein. Nach der Schule dann auf DVD. Ich habe einmal mitgeguckt, echt geil, aber seitdem kriege ich die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. – Perfect erection during 36 hours! Increase your sexual desire and sperm volume by 500%! Ejaculate like a porn star!
Dabei weiß ich ja, dass die nur Flüssigseife benutzen, denn kein Hecht kann so oft abspritzen. Seifenspender anstatt Samenspender, trotzdem ertrag ich es nicht. Wahrscheinlich bin ich der einzige Mann auf dieser Welt, den Pornos fertigmachen. Echt, Leute, ich mag es gar nicht sagen, aber Pornos machen mich traurig, klein und depressiv, jedenfalls hinterher.
Ich vertrage auch nicht diese netten kleinen Filmchen, wo man sehen kann, wie Entführer einem Gefangenen den Kopf abschneiden. Anton Hellbauer hat für jeden Geschmack was auf seinem Handy.
Die drei Jungs setzten sich aufs Dach und drehten einen Joint. Fehlte nur noch ein Lagerfeuer und eine Gitarre. Ich versteckte mich hinter einem Schornstein. Vielleicht würden sie mich vergessen, ihren Joint allein rauchen und mich hier oben lassen, bis die Nacht anbrach wie eine Tafel Schokolade. Und ich würde sie essen und die Sterne auf meiner Zunge zergehen lassen und die laue Luft einsaugen, als läge ich an der Mutterbrust. Aber sie fanden mich, kaum dass der Joint fertig war. Ich sollte ihn anrauchen.
»No way«, sagte ich. »Actually bin ich kein Kiffer.« Bei meinen Eltern half das manchmal: Wenn ich ein paar englische Wörter ins Gespräch einstreute, ließen sie mich in Ruhe. Als würde dadurch mein Intelligenzgrad bestätigt.
»Was soll’n das heißen, Alter?«
»Actually?«
Sie funkelten mich mit grünen Augen an.
»Glaubt’s oder glaubt’s nicht, aber ich bin bis gestern Morgen noch Kakaotrinker und Nichtraucher gewesen.«
Sie prusteten los. Angefeuert durch ihr Lachen, sah ich endlich meine Chance für einen Witz:
»Fallen zwei Möhren aus dem Flugzeug, sagt die eine zur anderen: Vorsicht, da kommt ein Hubschrap-schrap-schrap…«
Es ist ja so einfach, die Menschheit zu unterhalten. Je blöder ein Scherz, je dankbarer die Meute.
Einer der drei verschluckte sich sogar am Lachen. Ein anderer grölte mir Rauch ins Gesicht. Ich beschloss in dem Moment, wieder Nichtraucher zu werden, obwohl ich wusste, dass mich das auch nicht wieder zurückbringen würde, nach Zehlendorf, zu meinem Ausgangspunkt, Montagmorgen, Viertel vor acht. Eigentlich wollte ich gar nicht mehr zurück. Ich wollte auch kein willenloser Mitläufer mehr sein. Ich wollte selbst bestimmen, wie es mit mir und meinem Schicksal weiterging. Ich war froh, den Joint erfolgreich verweigert zu haben. Ich war also doch zu was fähig!
Die Jungs kicherten wie kleine Mädchen, ließen mich aber in Ruhe. Ich schaute hinab, auf den Schatten des Scheinriesen, er war jetzt winzig klein, dann wehte mir ein rundes Stück Papier vor die Füße, ein Foto. Ich hob es auf. Ein Mädchen, in durchsichtigem, grünem Top, mit hochgesteckten Haaren und honigbraunen Augen. Sie hatte ein Mikrofon in der Hand. Ich hörte sie singen: Deutschland ist ein sehr, sehr schöner Land – Deutschland ist ein sehr, sehr schöner Land …
Mir wurde ganz grün vor Augen und ich rief: »Das heißt: Deutschland ist ein sehr, sehr schönes Land!« Den Jungs fielen die Kinnladen ab; Münder öffneten sich wie Fischmäuler und schnappten nach mir.
Ich stand auf und öffnete die Arme wie Jesus, als er über das Wasser gehen wollte, und rief: »Deutschland ist ein sehr, sehr schönes Land!« Da nahm der Scheinriese dort unten sein Gewehr vom Rücken und legte an.
Im Nu hatte sich eine Menschenmenge vor dem Jüdischen Museum gebildet und alle zeigten auf mich. Mir fiel ein, dass ich irgendwo gelesen hatte, Jesus sei gar nicht auf dem Wasser gewandelt, sondern über Eis gegangen. Damals soll es nämlich besonders kalt am See Genezareth gewesen sein. Der gute See war zugefroren, hatte seinen Aggregatzustand geändert, wie jeder andere anständige See ab null Grad auch. Demnach hätte Jesus also nur so getan, als ob er über Wasser wandelte. Und wir armen Idioten glaubten seit 2000 Jahren an diesen Schwachsinn und schlachteten uns ab für unsere Götter.
Ich starrte auf das Foto in meiner Hand. Auf der Rückseite stand: Talentshow, Beginn 17 Uhr. Sei unser Superstar! Heute: wichtiger Vorentscheid, im Zitrus.
Ich konnte gerade noch die Adresse lesen – dann wurde ich zu Boden gerissen. Ein Saphir saß auf meinen Füßen, die anderen beiden drückten mir die Arme aufs Dach. Ich leistete keinen Widerstand, hielt nur das Foto von Sandra in der Hand, hielt es ganz fest.
»Bist du blöd oder was?«, sagte einer. Ein anderer zitterte. Der Dritte sagte: »Jetzt holt uns die Polizei.«
Ich dachte nur an Sandra, es gab keinen Zweifel, sie war es, meine Sängerin vom Schlachtensee. Wasserperlen rannen aus ihren Haaren, liefen über ihre Schlüsselbeine und tropften mir ins Gesicht.
Sie war also in der zweiten Runde, sonst würde es ja nicht solche Fotos von ihr geben. Um weiterzukommen, musste sie also mit Pieter Mohl bumsen.
Ich schüttelte die drei Saphirs wie lästige Fliegen von mir und rannte zur Feuerleiter, nahm drei Sprossen auf einmal, rutschte am Efeu ab, fing mich wieder, sprang auf den Boden. Von Weitem hörte ich Sirenen.
Ich lief an dem Scheinriesen vorbei, der ganz schlapp und klein war und noch immer auf das Schulhaus zielte. Ich musste sofort ins Zitrus.