Kaninchen im Rollstuhl
Sie tauchte wieder auf. Alles taucht irgendwann wieder auf. Das ist so was Ähnliches wie ein physikalisches Gesetz. Ihr Kopf ragte aus dem Wasser. Ihr langer, sehniger Hals erinnerte mich an einen verdammten Schwan. Sie drehte noch ein paar Runden, kam ans Ufer und entstieg dem Wasser wie Phoenix der Asche. Die Sonne stand hinter ihr und beleuchtete ihre Konturen. Ich musste die Augen zukneifen, so sehr blendete sie mich.
Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich, dass sie etwas in der Hand hielt, eine andere Hand, klein und patschig, zu einem Kind gehörend, irgend so einem Hosenscheißer mit Windel. Ich überlegte, ob es wohl ihr Kind sein könnte. Das wäre biologisch möglich gewesen, aber das traute ich ihr nicht zu. Sie war nicht viel älter als ich, vielleicht 17, allerhöchstens 18.
Aus ihren hochgesteckten Haaren und dem Bikini tropfte das Wasser auf den Kleinen. Er gluckste fröhlich über diesen Regen. Sie säuselte ihm Zärtlichkeiten zu, als wäre sie seine verdammte Mutter.
Sie war es zum Glück nicht! Das bekam ich ziemlich schnell heraus, obwohl ich mir gerade vorstellen wollte, dass es doch ihr Kind war und ich sein Vater. Echt, Leute, manchmal bin ich kaum zu halten. Im Nu hab ich eine Familie am Hals. Ich kann mich ganz schnell in etwas reinsteigern und schon wird es Realität.
Lehrer stehen auf so was nicht. Lehrer brauchen Fakten wie andere Leute Nikotin. Aber mir tut das Abdriften gut. Leider hält mein Glück nie lange, denn kaum betrachte ich etwas näher, kommen mir auch schon erste Zweifel, so wie jetzt. Ich fragte mich: Würde ich überhaupt ein Kind zeugen können, mit Ohren, Rippen, Beinen, allem Drum und Dran? Meine Mutter behauptet nämlich, ich könnte es nicht. Wegen meinem Handy. Ich sollte mein Handy nicht in die Hosentasche stecken. So ein Scheißding würde strahlen und Männer unfruchtbar machen, weil die Strahlungen auf die Hoden einwirkten; sie wies mich fast täglich auf diese potenzielle Gefahr hin.
»Na«, sagte sie dann immer und schmunzelte überlegen, wenn ich gerade mit meinem Handy das Haus verlassen wollte. »Läufst du wieder mit deinem Eierkocher durch die Gegend?«
Ehrlich, es geht doch nichts über Mütter mit Humor!
Als Sandra triefend vor mir stand – in dem Moment wusste ich noch nicht, dass sie Sandra hieß –, beobachtete ich die Wassertropfen, die an ihren Wölbungen entlangliefen, und die Gänsehaut, die ihre Härchen erigierte, schaute auf die Brustwarzen, die sich brombeerfarben durch den grünen Stoff drückten, und legte mich auf den Bauch. Ich hatte meinen Eierkocher nicht dabei, war also voll zeugungsfähig, obwohl ich damals noch Jungfrau war, potenziell unschuldig, und es noch genau 43 Stunden lang bleiben sollte.
Sandra trocknete sich ab und der kleine Hosenscheißer watschelte neben ihr her wie eine besoffene Ente. Als er sah, dass Sandra mir zulächelte, nahm er das sofort als Aufforderung, mit mir Bekanntschaft zu machen.
Nun muss ich sagen, dass ich nicht gerade der größte Kinderfan aller Zeiten bin. Ich habe auch nichts gegen sie. Kinder muss es ja geben, heute mehr denn je, denn nur Kinder können die Welt noch retten. Sie sind die Hoffnungsträger, wie unsere Politiker es gerne ausdrücken. Ich habe also nichts gegen unsere Hoffnungsträger, aber ich kann wunderbar leben, wenn sie mir nicht zu nahe kommen mit ihren Marmeladenpfoten und Scheißwindeln und ihrem ewigen Gebrabbel.
Der Kleine war inzwischen aber sehr nah.
»Hallo«, sagte ich. »Ich bin Hannes. Aber du kannst auch Ritschi zu mir sagen.«
Er schleuderte mir seinen Schnuller entgegen, so ein abgelutschtes Ding mit aufgedruckten Enten drauf, und ließ sich auf die Windel plumpsen. Dann schleuderte er einen Schokoladenkeks hinterher und fing an, Gras auszureißen und mir auf die Beine zu legen. Ich sah nur den Schokoladenkeks. So ein runder Prinz mit Füllung. Mir schoss das Wasser in den Mund, in die Nase, selbst die Augen tränten wie verrückt.
»Luka!«, sagte Sandra, als sie endlich mit Abtrocknen fertig war und, in Handtücher geschlungen, sich vor mich kniete und den kleinen Speckarsch zu sich heranzog. »Nicht den Onkel ärgern, hörst du!«
Da war mir klar, dass sie keine Französin sein konnte. Eine echte Französin würde doch niemals Onkel zu so einem sympathischen jungen Mann wie mir sagen! Da musste etwas Osteuropäisches mit im Spiel sein.
»Du kannst mich ruhig duzen«, sagte ich und fragte sie, wo sie herkam. Reden tat gut und lenkte von Schokokeksen ab.
»Aus der Ukraine«, sagte sie. »Ich heiße Sandra.« Ihr nasser Pony klebte an der Stirn. Sie hatte honigbraune Augen, völlig ungeschminkt.
Das haute mich fast gar nicht vom Hocker, und ich grübelte mir die Birne wund, wann ich das letzte Mal ein ungeschminktes Mädchen gesehen hatte.
In unserer Klasse gibt es nur jede Menge Kajalfratzen, müsst ihr wissen, mit Lipgloss, so dick aufgetragen, dass man Angst kriegt, man könnte beim Küssen kleben bleiben. Und dann hat man plötzlich einen siamesischen Zwilling, ob man will oder nicht. Oder noch schlimmer: Der Kuss hört nie mehr auf und die Küsser müssen von einer neutralen Kussentfernungsstelle getrennt werden. Das macht man heutzutage natürlich mit Laserstrahlen, damit niemand ernsthaft verletzt wird. Trotzdem vergeht einem dabei die Lust auf Küssen. Deshalb bin ich so einer Lipgloss-Schnecke auch noch nie nähergekommen.
Glaubt’s mir, Leute, ich hatte mich schon längst damit abgefunden, dass mein Leben völlig kusslos verlaufen würde, bis zu dem Morgen, an dem ich Sandra kennenlernte.
Sie war Au-pair-Mädchen und wollte Sängerin werden und wohnte schon seit einem halben Jahr an der Kaiserstuhlstraße, gleich bei mir um die Ecke. Sie sagte, sie hätte mich schon öfter gesehen, wüsste, wo ich wohne, deswegen hatte sie ja mich gefragt, ob ich auf ihre Sachen aufpasse, und nicht diese zwei anderen Penner, die nun auch auf der Wiese lagen und den Tagesspiegel lasen.
Ich setzte mich hin, ihr gegenüber, und ließ mich von Luka mit Gras bewerfen. Nebenbei hörte ich Sandra zu. Es war, als sängen die Sirenen. Sie sang leise, mit ukrainischem Akzent. Sie sagte, sie würde jeden Morgen im Schlachtensee baden, wenn das Wetter schön sei, dann sei sie frisch für den ganzen Tag. Sie müsste viel arbeiten. Außer Luka hätte sie noch ein Kind zu betreuen, ein Mädchen, dreieinhalb, das bringe sie morgens um neun zum Kindergarten. Wenn sie danach gleich nach Hause ginge, bügelte sie erst die Wäsche, putzte ein bisschen und machte Luka Brei. Und dann hätte sie zwei, drei Stunden Pause, weil der Kleine schliefe und sie das Mädchen erst um vier vom Kindergarten abholen müsste. In der Pause würde sie singen üben, denn bald hätte sie einen großen Auftritt in einer Talentshow. Vielleicht würde sie sogar ins Fernsehen kommen.
Ich stellte mir vor, wie ich die Pause mit ihr gemeinsam verbringen würde, sah zu, wie sie die Kinder ins Bett brachte und mir dann vorsang. Ich schaute auf ihr braunes Haar, aus dem es in die Kuhle über ihrem Schlüsselbein tropfte, beobachtete, wie sich vier, fünf Tropfen zu einem kleinen See sammelten und dann über ihre Brust rannen. Ich hätte gern die Tropfen mit meinen Lippen aufgefangen. Aber sie tropften ins Gras.
»Die Familie ist sehr, sehr nett«, sagte sie. »Und Deutschland ist ein sehr, sehr schöner Land.«
»Zehlendorf ist nicht Deutschland«, sagte ich und überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass es »schönes Land« heißt. Aber dann stellte sich heraus, dass sie in dem halben Jahr, wo sie hier war, noch nicht über Zehlendorf hinausgekommen war, weil sie jeden Abend nach der Arbeit in der Matterhornstraße Deutsch lernte, nebenan von dem gefährlichen Dobermann, und den Rest der Nacht versang.
»Ich weiß«, sagte sie. »Zehlendorf ist nur eine kleine Teil von Deutschland. Aber mir gefällt sehr. Alles so sauber, gibt Mikrowelle und Wäschetrockner und Flachbildfernseher …« – Das Wort »Flachbildfernseher« konnte sie einwandfrei aussprechen.
»… und Rollstühle für Kaninchen«, sagte ich.
»Was ist das?« Sie riss ihre honigbraunen Augen weit auf.
Zum Glück bahnte sich gerade am Ufer eine Frau mit einem Mann im Rollstuhl einen Weg durch die Jogger. Jetzt musste ich ihr nur noch »Kaninchen« erklären.
Zum Glück hatte sie einen Stift dabei. Auch ein Buch. Ich schlug es auf und malte ihr auf Seite 45 ein Kaninchen, vorsichtshalber noch einen Rollstuhl dazu. Sandra lachte.
»Rollstuhl für Kaninchen? – Nein, nein«, sagte sie und kriegte sich gar nicht wieder ein.
»Doch, doch«, sagte ich und schaute ihr beim Lachen zu.
Mein Kumpel Sascha, der mir die Kinokarten abgestaubt hatte, mit dem hatte ich mal beim Surfen im Internet eine Versandfirma für Kaninchenrollstühle entdeckt. Es gab auch Rollstühle für Hunde und Frettchen. Es gab sogar Bonsai-Kätzchen, die man als Babys in eine eckige Flasche stopfte und erst wieder rausließ, wenn ihre Wirbelsäule die Form der Flasche angenommen hatte. So ein Psychopath in New York züchtete sie.
Sandra schüttelte immer noch den Kopf.
»Eigentlich gibt es das gar nicht in Deutschland«, sagte ich, »sondern im Internet.«
»Oh ja«, sagte sie. »Ich habe Arbeit aus Internet. In Internet gibt alles.« Sie machte eine ausladende Handbewegung, die »alles« bedeutete.
Ich überlegte, ob ich ihr sagen sollte, dass es »im Internet« heißt und das »es« gefehlt hat. Aber ich hielt meine Klappe.
Wir schauten ein Weilchen auf den See. Enten schwammen vorbei. Am Horizont ein Schwanenpärchen. Sie steckten die Hälse zusammen, herzförmig, wie auf diesen bekloppten Kitschpostkarten.
Luka steckte mir Gras zwischen die Zehen. Ich hob den Keks auf und schluckte literweise Spucke runter, hielt ihm den Keks hin, in der Hoffnung, er würde höflich ablehnen. Aber falls ihr es noch nicht wusstet, Kinder sind so was von gierig und egoistisch! Im Nu hatte der kleine Mistkerl den Keks im Mund und nuckelte ihn genüsslich weg.
Sandra sagte, sie müsse jetzt gehen. Sie ließ ihren nassen Bikini an und zog ein moosgrünes Trägerkleid über. Es ging ihr bis an die Knie. Sie hatte perfekte Knie, keine Knicksknie, das sah ich als Sohn eines Orthopäden sofort.
»Hast du keine Schule?«, fragte sie mich, als sie ihr Handtuch zusammenfaltete.
Ich holte tief Luft und genau in dem Moment fing mein Magen an zu knurren.
»Oh, là, là«, sagte sie. »Hast du Hund verschluckt?« Sie lachte und bot mir von diesen trockenen Babykeksen an. Die Schokoplätzchen waren leider alle.
Ich nahm einen Keks und bedankte mich. Wie sich das gehört.
»Bist du morgen wieder hier?«, fragte sie und hievte Luka in den Kinderwagen.
»Ja«, sagte ich und stand auf. Sie war einen Kopf kleiner als ich.
»Vielleicht ich komme wieder«, sagte sie.
»… komme ich wieder«, verbesserte ich sie.
»Ja«, sagte sie. »Komm doch.« Und dann stöpselte sie Luka den Schnuller ein und schob mit dem Kinderwagen ab.
Die Flip-Flops schlappten ihr an die Hacken; sie ging über die Straße und drehte sich nicht mehr um.
Mannomann, da stand ich nun, mit dem trockenen Keks und immer noch in Unterhose. Dabei wäre sie meine Rettung gewesen! Sie hätte mir ein T-Shirt leihen und ein paar Spiegeleier in die Pfanne hauen und mich mit dem Schlüsseldienst telefonieren lassen können. Aber ich ließ sie gehen, ohne einen Abschiedsgruß. Ich nibbelte an dem trockenen Keks herum, als müsste ich ihn mir für eine ganze Woche einteilen. Jeder Krümel schmeckte nach Sandra, nach ihrem Blick, nach ihrer Stimme. Nach der Ukraine. Wenn sie erst mal eine berühmte Sängerin wäre, würden wir durch die Welt tingeln und in den teuersten Hotelsuiten der Welt nackig durch die Zimmer rennen.
Leute, mich hatte es voll erwischt! Ich hatte plötzlich so was in mir wie einen zweiten Motor, und dieser Motor sprang an und ich musste einfach losrennen. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich rannte in den See und ließ mich von dem Wasser streicheln, in dem sie vorhin gebadet hatte.
Erst als ich rauskam, wurde mir bewusst, dass ich kein Handtuch dabeihatte und mich nass und tropfend auf die Wiese legen musste. Ausgerechnet in dem Moment kam eine dicke Wolke angeschoben. Ich kann euch sagen, ich habe geschlottert wie noch nie, aber dann holte ich mir Sandra vor Augen und sah durch meinen Schüttelfrost in ihre ungeschminkten Augen, und sie wärmten mich und trockneten mich, und als ich mich auf den Rücken drehte, um die Sonne, die sich gerade aus der fetten Wolke gewunden hatte, voll auf meinen Bauch scheinen zu lassen, drückte mich etwas im Rücken. Es war kein Stein, keine Zigarettenschachtel, kein Zauberstab oder anderer Müll. Es war ein Buch. Es war Sandras Buch, in das ich ihr ein Kaninchen gezeichnet hatte. Und wenn ich nicht schon gesessen hätte, hätte ich mich jetzt hinsetzen müssen. Es war dieses verdammte Buch über diesen verfluchten Irren, Holden Caulfield, The Catcher in the Rye, aber auf Deutsch. Ich nahm es und wäre am liebsten gleich losgespurtet, hinter ihr her, um es ihr wiederzubringen, aber da funktionierte mein Motor plötzlich nicht mehr.
Ich sackte in mich zusammen, kraftlos und klein, musste mich am Buch festhalten, sonst wäre ich ohnmächtig geworden und zwischen den Grashalmen verschwunden. In mir kribbelte es. Wahrscheinlich hatte ich die Ameisen vorhin nicht richtig zerkaut und nun bildeten sie in meinem Magen eine Ameisenstraße. Ich fühlte, wie sie die Verletzten forttrugen und in mir nach Essbarem suchten.
Mit letzter Kraft schlug ich die Seite 45 auf, die mit dem Kaninchen im Rollstuhl, und fing an zu lesen.