70% weniger Hornhaut

Mir ging es immerhin nicht so schlecht wie dem echten Holden. Ich saß mit Sandra II am Alex in der Sonne und rauchte. Allerdings sehnte ich mich nach Sandra I, weil ich sie viel bezaubernder als Sandra II fand. Das lag wahrscheinlich daran, weil Sandra I einen grünen Bikini trug. Und wenn ich auf den Neptunbrunnen schaute, wie das Wasser den Fischen nur so aus den Mäulern spritzte und die Tropfen in der Sonne glitzerten, sah ich die Wassertropfen von Sandra I aus ihren Haaren rinnen und über das Schlüsselbein perlen. Bei Sandra II perlte nichts. Sie trug Springerstiefel. Dafür hatte sie dreieckige Knie. Eine Rarität! Für meinen Alten wäre das die blaue Mauritius aller Knie und Knickser!

Natürlich weiß ich, dass man Frauen nie miteinander vergleichen sollte. Das hat mich ja in Filmen schon immer fast gar nicht gestört, wenn sich zwei Typen in einer Bar über ihre Bräute unterhalten und der eine den anderen fragt:

»Na, und wie war sie im Bett?«

Und der andere sagt: »Bin nicht gerade eingeschlafen, aber Moni war schärfer.«

Oberpeinlich! Obwohl Frauen diesbezüglich ja noch viel schlimmer sind. Meine Mutter redet mit ihren Patientinnen andauernd über guten Sex und schlechten Sex und wie schlechter Sex noch besser werden kann. Echt, Leute, das könnt ihr euch vielleicht nicht vorstellen, dass die eigene Mutter so drauf ist – aus rein beruflichen Gründen natürlich, but it’s true, so wahr ich hier neben Sandra II saß und an Sandra I dachte und trotzdem hoffte, dass sich zwischen uns was anbahnen würde, denn von der Seite sah sie gar nicht mal schlecht aus. Enlarge your penis up to 4 inches or 20 centimeter.

Der wahre Holden war zu der Zeit gerade von einer Prostituierten aufgesucht worden. Der schmierige Fahrstuhltyp mit dem behaarten Bauch hatte ihm eine aufs Zimmer geschickt, und Holden wollte es gleich hinter sich bringen, war nämlich, genau wie ich, noch Jungfrau. Aber wie das manchmal so ist im Leben, es läuft nicht alles so, wie man es sich vorgestellt hat, und plötzlich will er es nicht mehr mit ihr treiben, obwohl sie schon ihr Kleid ausgezogen hat und sich auf seinen Schoß setzt und alles, aber er hat überhaupt keinen Bock mehr, fühlt sich irgendwie nicht gut, schiebt eine knapp überlebte Operation vor, will nur noch seine Ruhe haben, der Gute. Stattdessen kriegt er in der Nacht auch noch welche aufs Maul. Da konnte ich doch nur jubeln! Zu der Zeit ahnte ich ja nicht die Bohne, dass mir bald die Bullen fleißig die Arme umdrehen würden. Ahnungslos saß ich mit Sandra II am Alex, sie von der Seite betrachtend, eine Zigarette nach der anderen rauchend, während der Wind durch die Häuserschluchten fegte und das Raucherkarzinom immer näher kroch, da wurde mir klar, dass ich nicht mehr nach Hause zurückgehen konnte. Es gab kein Zurück mehr, Leute. Und noch eins wurde mir klar: Es ging um Sex. Das war nicht nur eine Fantasie, ausnahmsweise redete auch mal keiner drüber, sondern ich persönlich hatte was damit zu tun! Es lag ganz real in der Luft und ich spürte es deutlich an meinem linken Oberschenkel.

Zuerst berührte mich Sandras nackter Schenkel an meinem nackten Oberschenkel, links, wie gesagt, und niemand rückte deswegen gleich weg. Im Gegenteil. Wir blieben so sitzen und merkten, wie sich langsam Schweiß an unserer Schnittstelle bildete, an uns herabrann und uns festklebte wie siamesische Zwillinge. Nun hatte ich zwar noch nie gehört, dass siamesische Zwillinge Sex zusammen haben, und ich hatte ja mit Sandra II auch gar keinen Sex, aber ich hoffte durchaus, noch welchen mit ihr zu bekommen, wenn ihr wisst, was ich meine. Ich hatte noch zwei Karten für diese bekloppte Talentparty und fragte sie, ob sie mit mir da hingehen würde, dann wären wir schon mal bis tief in die Nacht verplant. Meine Mutter hatte in der letzten Zeit immer wieder versucht, meinen Vater mit Theaterkarten zu ködern, weil sie ihm vorwarf, er verbringe zu wenig Zeit mit ihr. Aber ich frage mich, was man im Theater schon für Zeit miteinander verbringt, umringt von Zuschauern, Schauspielern und Beleuchtern, und hinterher trifft man auch noch irgendwelche Bekannte, die aus dem gleichen Grund ins Theater gegangen sind, aber dann mit meinen Eltern in irgendeiner Bar verschwinden, wo die Männer zusammensitzen und die Frauen zusammenglucken und über Moni und den Sex reden. Sex schien für Leute wie meine Eltern eine rein theoretische Angelegenheit zu sein. Ich weiß, das war nicht immer so, schließlich bin ich kein Retortenbaby, und ich bin nicht auf Anhieb zustande gekommen, das haben sie mir oft genug erzählt, wie schwierig es war, mich zu zeugen, aber jetzt war Sex Anlass intensiver und offener Diskussionen geworden, die sogar beim Abendessen stattfanden; wenn mein Vater mit seinen Knie- und Knicksthemen durch war, fing meine Mutter von Sex an. Bei ihr im Wartezimmer habe ich mal gelesen, dass Leute, die viel über Sex reden, nicht vögeln. Deswegen hielt ich lieber meine Klappe.

Der Wind fauchte durch die Häuserschluchten; Reklamescreens drehten sich auf den Hochhäusern, rechts neben Saturn stand ein blauer Bulli mit einem riesigen Schild: »Jesus lebt!«

Im Vordergrund tanzten Leute, schwenkten Fahnen an Ex-Pionier-Stangen, hüpften barfuß herum; es war auch eine grauhaarige Oma dabei, mit hoher Stimme. Leute, ihr glaubt es nicht, aber das war die gute alte Frau Larmanta, unsere Nachbarin! Sie wirbelte da herum, mit nackten Beinen bis über die Knie, sang und schaute in den Himmel – das haute mich fast gar nicht um. Unsere gute Frau Larmanta, die immer ihre Klingelbüchse ausführte wie andere Leute den Hund, tanzte auf dem Alex.

Vor dem Bulli saß ein Typ, spielte Gitarre und sang dazu. Seine fettigen langen Haare fielen ihm bei jedem Akkord ins Gesicht.

Als wenn Jesus auf so eine Musik abgefahren wäre! Leute, der Mann ist über Wasser gegangen und hat Blinde sehend gemacht. Wie kann man ihm so ein Geklimper widmen? Mozarts Requiem würde ich Jesus vorspielen, wenn ich ihn mal träfe, oder noch besser das neue Album von Camille. Ihre Stimme hätte ihn so richtig scharf gemacht. Er wäre barfuß zu einem Konzert gepilgert; sie hätte ihm eine Bühnenshow vom Feinsten geboten und ihn nachher zu sich eingeladen, backstage.

Ich war begeistert von meinen genialen Ideen! Überlegt doch mal, Leute, der ganze Scheiß mit den Religionen hätte sich positiver entwickelt, wenn Jesus mit Camille eine Nummer geschoben hätte, erst backstage, dann auf dem Wasser, sie hätten beide abgehoben und wären zum Himmel aufgeflogen vor lauter Glück und hätten der Menschheit die Liebe mitgebracht von ihrem Ritt durch die Galaxie.

»Woran denkst du?«, fragte Sandra II, so gegen halb fünf.

»Nichts Besonderes.« Ich konnte es noch nie leiden, wenn Schnecken alle naselang fragten, woran man gerade dachte. Sie lutschte an ihrem Lippenpiercing herum und schaute wieder durch die Gegend.

»Guck mal, die Idioten da!« Sie zeigte auf den blauen Bulli und bot mir eine Zigarette an. Ich nickte. So ließ es sich ganz gut leben. Ich blies den Rauch in langen Zügen aus, blinzelte durch den Dunst, und mir war, als würden all die Leute vom Alexanderplatz durch mein Gehirn wandern. Es tat nicht weh, es war weich wie ein Wattenmeer, auch wenn sie spitze Schuhe anhatten. Aber sie traten Lawinen von Gedanken locker, und so wurde ich überrollt von Lebensweisheiten, und was blieb, war pure Erleuchtung.

Erleuchtung Nr. 1: Ich hatte keine Eile, keine Verpflichtungen und deswegen keinen Druck. Ich erkannte, dass man im Hier und Jetzt am besten leben konnte, auch wenn es auf dem verkackten Alex war.

Erleuchtung Nr. 2: Ich fühlte mich wohl, so wie ich war, mit all meinen Pickeln und Fehlern, und deswegen konnten sich andere auch in meiner Gegenwart gut fühlen.

Erleuchtung Nr. 3: Lass die Zeit kommen und gehen wie einen Windhauch, der dich streift, ohne ihn einfangen zu wollen.

Echt, Leute, andere in meinem Alter brauchen jede Menge Drogen, um so viel und so klar zu denken. Ich brauchte nur einen freien Tag, ein paar Fluppen und zwei Sandras dazu. Ich war voller Zuversicht, dass mir noch heute etwas Sexuelles zustoßen würde, schließlich hatte der verdammte Tag schon so heiß angefangen. Aber noch schien die Sonne und in meinem Alter vögelt man nicht am helllichten Tag. Wir rauchten und klebten mit den Beinen aneinander, und es tat sogar ein bisschen weh, als wir irgendwann aufstanden und gingen. Jeder hatte einen roten Streifen am Bein, der sich bei jedem Schritt verflüchtigte, wie die Kondensstreifen am Himmel.

Wir wollten zu einer Freundin von Sandra II.

»Kleine Party für den Hunger zwischendurch«, sagte sie.

Am U-Bahn-Schacht verkaufte Sandra II vier Schachteln Zigaretten an zwei Mädchen. (Wie viel Schachteln bekommt dann jede?)

»Ich bessere damit mein Taschengeld auf«, sagte sie.

Wir stiegen die Treppen zur U-Bahn hinab, U2. Ich musste an den guten Bono denken, der was für die Welt tut und nicht so raffgierig ist wie viele andere berühmte Ärsche, Beckham zum Beispiel. Der verdient am Tag mindestens 50000 Euro. Ist doch pervers so was. Und jetzt gibt es sogar noch ein Parfüm von ihm. Möchte mal wissen, wer sich das auf die Eier sprüht.

Sandras Gesicht spiegelte sich in der U-Bahn-Scheibe gegenüber. Sie guckte mich an, sah mich aber nicht, ein Blick, als würde sie gar nichts sehen. Hatte sie einen Abschalteknopf für ihre Umwelt?

Wir fuhren zum Prenzlauer Berg. Auf der Schönhauser Allee dröhnte aus jedem Laden Musik. Sandra II wollte noch schnell zu H&M, was abgreifen. Bis ich geschnallt habe, dass sie es ernst meint, hatte sie schon ein hauchdünnes Kleid unterm T-Shirt.

»Leg das wieder weg, das ist kitschig und tüddelig!«, sagte eine Mutter hinter mir zu ihrer kleinen Tochter. Meine Knie waren weich wie Tiramisu. Als wir durch die Tür gingen, lächelte Sandra den Wachmann an und ich machte mir fast in die Hose. Aber nichts piepte, niemand lief hinter uns her. Wir standen wieder auf der Schönhauser und kniffen die Augen zusammen; Sandra mit ihrer neuen Abendgarderobe. Es roch nach Currywurst, Döner und Pennerpisse. Wir wurden angerempelt, angebettelt, jemand drückte uns Zettel vom Tierschutzverein in die Hand. Darauf war ein gerupftes Kaninchen zu sehen, dem man zu viel Lippenstift in die Augen geschmiert hatte. Sandra rannte ein Klappschild um: »70 % weniger Hornhaut in 21 Tagen!« Aus dem Computerladen an der Ecke rief eine Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür: »54-mal schneller im Internet … Hol es dir … jetzt!«

Ich tapste neben Sandra her und verstand nicht mehr, was ich mir holen musste, damit ich 54-mal schneller ins Internet kam, ich versuchte auszurechnen, wie schnell ich jetzt ins Internet komme und wie schnell ich im Internet wäre, wenn ich 54-mal schneller wäre. Wahrscheinlich schneller als ein versauter Gedanke. Will man das überhaupt?

Die Frage beschäftigte mich bis zur nächsten roten Ampel. Ich kam zu dem Entschluss, dass man das Wesentliche im Leben eh auf die altmodische, langsame Art herausfinden musste, nämlich durch eigene Erfahrung. Und damit man die wesentlichen Erfahrungen im Leben auch machen konnte, brauchte man andere Leute dazu. In meinem Fall weibliche, wenn ihr versteht, was ich meine.

Als ich da auf der Schönhauser langschlenderte, wurde mir klar, dass ich 16 Jahre lang in Zehlendorf wie unter Cellophan gelebt hatte, inmitten von süßen Milkshakes, blühenden Vorgärten und Fünf-Minuten-früher-Nachrichten. Meine Eltern hörten diesen bekloppten Sender zum Frühstück, der fünf Minuten früher informiert. Aber was hat ihnen das genützt?

So viele verschiedene Leute, wie mir auf der Schönhauser in fünf Minuten entgegenkamen, hatte ich in Zehlendorf mein Lebtag nicht gesehen, alles Leute, die bestimmt nicht die CDU wählten. Die Penner in den Hausecken wählten gar nichts mehr, die verkauften nicht mal mehr Obdachlosenzeitungen. Sie waren ausverkauft. Einer saß mit dem Rücken an einem Pfeiler, Füße ausgestreckt, mit blauen und grünen Beulen an den Knöcheln, schwarzen Zehen und eingerissener Fußsohle. Ein Fall für »70 % weniger Hornhaut in 21 Tagen«, und ich fragte mich, ob der Kerl schon unter die Rubrik »arme Sau« fiel, denn mein Alter sagte immer, er kaufe keine Obdachlosenzeitungen, lieber gäbe er mal einer richtig armen Sau ein paar Euro.

Sandra schlurfte mit ihren Springerstiefeln über den Asphalt; ich wäre beinahe stehen geblieben, nur weil die Ampel noch rot war. Ich tapste mit meinen kanariengelben Flip-Flops hinter ihr her, durch den donnernden Verkehr. Mamma mia, das Leben war bunt! Und meine Klassenkameraden saßen jetzt in diesem Schwarz-Weiß-Bus und verpennten wahrscheinlich die ganze Fahrt, während mir ein Licht nach dem anderen aufging. Auch wenn ich zu dem Zeitpunkt noch nicht alles verdauen konnte.

Dafür bin ich ja jetzt hier, in meiner Einraumwohnung, in Kreuzburg 36, mit einem warmen Kieselstein in der Hand.