10
Dawson erschien die zweite Hälfte des Hurrikans nicht so schlimm wie die erste, aber vielleicht war das, weil es wenig regnete. Es war aber trotzdem schlimm genug. Als Wyatt die Straße verließ, fuhr er den Landrover in den Krüppelwald am Berghang, wo er eine kaum wahrnehmbare Mulde gefunden hatte. Das war das beste, was er zur Sicherung ihres Fahrzeugs tun konnte.
Dawson sagte: »Warum bleiben wir nicht drin?«
Wyatt nahm ihm die Illusion. »Es gehört nicht viel dazu, den Wagen umzukippen, auch wenn ich ihn zwischen den Bäumen eingeklemmt habe. Es ist riskant.«
Also gab Dawson die Hoffnung auf, dem Wind und dem Regen zu entgehen, und sie sahen sich nach einem Zufluchtsort am Berghang um. Der Wind war schon jetzt schlimm und verstärkte sich ständig, und in den stärkeren Böen hatten sie Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Bald fanden sie den einen Flügel des Regiments, das Favel auf den Bergrücken über dem Negrito beordert hatte. Die Männer gruben sich ein, und Wyatt lieh sich einen Feldspaten aus, um selbst auch zu graben.
Das Eingraben war hier schwerer, als es vor St. Pierre gewesen war; der Boden war hart und steinig, und der gewachsene Fels lag dicht unter der dünnen Schicht von armem Mutterboden. Alles, was er fertigbrachte, war eine flache Mulde. Aber er nutzte die Unebenheiten des Grundes, so gut es ging, und hatte eine Stelle gefunden, wo eine vorstehende Felsnase als unverrückbarer Windschutz dienen würde.
Als er fertig war, sagte er zu Dawson: »Bleiben Sie hier! Ich will sehen, ob ich einen Offizier dieser Leute finden kann.«
Dawson verkroch sich hinter dem Felsen und sah voller Bedenken zum Himmel. »Seien Sie vorsichtig – das ist keine Frühlingsbrise, in der Sie Spazierengehen!«
Wyatt kroch davon, sich dicht am Boden haltend. Der Wind packte ihn wie eine Riesenhand, die versuchte, ihn hochzuheben und zu schütteln, aber er machte sich platt, um dem Griff zu entgehen, und kroch auf dem Bauch zu dem nächsten Deckungsloch, wo er ein zusammengerolltes Kleiderbündel fand, das sich beim Auseinanderfalten als ein Soldat erwies.
»Wo ist Ihr Offizier?« brüllte er.
Ein Daumen zeigte weiter den Berg entlang.
»Wie weit?«
Drei gespreizte Finger kamen hoch – dreihundert Fuß – oder waren es dreihundert Meter? Weit war es auf jeden Fall. Verwunderte braune Augen blickten Wyatt an, als er davonkroch, und versteckten sich dann wieder unter einem Mantel, als der Sturm sich verstärkte.
Wyatt brauchte lange, bis er den Offizier fand, aber als er bei ihm ankam, erkannte er ihn als einen, den er in Favels Hauptquartier gesehen hatte. Noch besser war, daß der Offizier auch Wyatt kannte und mit einem freundlichen Grinsen begrüßte. »'Allo, ti blanc«, rief er. »Kommen Sie runter!«
Wyatt quetschte sich zu dem Offizier ins Loch. Er wartete, bis er bei Atem war, und fragte dann: »Haben Sie eine weiße Frau hier in der Gegend gesehen?«
»Ich habe keinen Menschen gesehen. Da ist niemand so hoch oben auf dem Berg, außer dem Regiment.« Er grinste breit. »Nur arme Soldaten.«
Wyatt war enttäuscht, obgleich er nicht ernstlich mit einer günstigeren Antwort gerechnet hatte. Er fragte: »Wo ist die Bevölkerung – und wie überstehen sie es?«
»Da unten«, sagte der Offizier. »Nicht weit vom Talgrund. Ich weiß nicht, in welcher Verfassung sie sind – wir hatten keine Zeit mehr, es ausfindig zu machen. Ich habe ein paar Mann hinuntergeschickt, aber sie sind nicht zurückgekommen.«
Wyatt nickte. Das Regiment hatte Großartiges geleistet – einen Gewaltmarsch von fast sechzehn Kilometern und dann hastig eingraben, alles in zwei Stunden. Mehr konnte man wirklich nicht verlangen.
Der Offizier sagte: »Aber ich rechne damit, daß ich einige von ihnen hier oben finde.«
»Diese Höhen sind dem Sturm mehr ausgesetzt«, sagte Wyatt. »Dort unten sind sie besser aufgehoben. Ich glaube nicht, daß sie Windgeschwindigkeiten von viel mehr als hundertzwanzig bis hundertvierzig Kilometer pro Stunde haben werden. Hier oben ist es anders. Wie werden Ihre Leute damit fertig werden?«
»Wir werden es überstehen«, sagte der Offizier knapp. »Wir sind Julio Favels Soldaten. Es hat Schlimmeres für uns gegeben als Wind.«
»Ohne Zweifel«, sagte Wyatt. »Aber Wind kann schlimm genug werden.«
Der Offizier nickte heftig und sagte dann: »Mein Name ist André Delorme. Ich hatte eine Plantage weiter oben im Negrito-Tal – ich werde sie zurückerhalten, jetzt da Serrurier weg ist. Sie müssen mich besuchen, ti Wyatt, wenn das alles vorbei ist. Sie sind jederzeit willkommen – Sie werden überall auf San Fernandez willkommen sein.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Wyatt. »Aber ich weiß nicht, ob ich hierbleiben werde.«
Delorme riß erstaunt die Augen auf. »Aber warum nicht? Sie haben die Bevölkerung von St. Pierre gerettet; Sie haben uns gezeigt, wie wir Serrurier töten konnten. Sie werden hier ein großer Mann sein – man wird Ihnen ein Denkmal setzen, viel besser als das von Serrurier auf der Place de la Libération Noire. Es ist besser, einem Lebensretter ein Denkmal zu setzen.«
»Lebensretter?« wiederholte Wyatt sardonisch. »Sie sagten doch selbst, ich zeigte Ihnen, wie Serrurier zu töten war – und seine ganze Armee.«
»Das ist was anderes.« Delorme zuckte die Schultern. »Julio Favel hat mir erzählt, Sie hätten mit Serrurier gesprochen, und er glaubte Ihnen nicht, als Sie ihm sagten, daß ein Hurrikan kommen würde.«
»Das stimmt.«
»Dann ist es seine eigene Schuld, wenn er jetzt tot ist. Er war ein Dummkopf.«
»Ich muß zurück«, sagte Wyatt. »Ich habe einen Freund mit.«
»Bleiben Sie lieber hier«, sagte Delorme und hob seinen Kopf, um nach dem Sturm zu hören.
»Nein, er wartet auf mich.«
»Gut, ti Wyatt; aber kommen Sie mich in La Carrière besuchen, wenn alles vorbei ist!« Er streckte ihm seine muskulöse braune Hand hin, und Wyatt ergriff sie. »Sie dürfen San Fernandez nicht verlassen, ti Wyatt; Sie müssen bleiben und uns zeigen, was wir tun müssen, wenn wieder einmal ein Hurrikan kommt.« Er grinste. »Wir führen nicht immer Krieg auf San Fernandez – nur wenn es notwendig ist.«
Wyatt kroch aus dem Loch heraus und schnappte nach Luft, als der Sturm ihn beutelte. Er war schon in Versuchung gewesen, bei Delorme zu bleiben, aber er mußte zurück. Wenn Dawson in Not geriet, konnte er sich mit seinen verletzten Händen selbst nicht viel helfen, und Wyatt wollte deshalb lieber bei ihm sein. Er brauchte über eine halbe Stunde, um Dawson zu finden, und er war erschöpft, als er hinter den Felsen kroch und sich in die flache Mulde fallen ließ.
»Ich dachte schon, Sie wären weggeflogen«, brüllte Dawson, während er seine Lage veränderte. »Was ist los?«
»Nicht viel, man hat hier nichts von Julie oder Mrs. Warmington gesehen. Sie sind möglicherweise unten an den Berghängen, und das ist vielleicht ebensogut.«
»Wie weit sind wir von der Stelle weg, die der Mann uns unten in St. Pierre auf der Karte gezeigt hatte?«
»Die ist etwa zwei Kilometer weiter talaufwärts.«
Dawson zog seine Jacke zusammen und drückte sich eng an den Felsen. »Dann müssen wir einfach hierbleiben und es absitzen.«
Er hatte während Wyatts Abwesenheit viel darüber nachgedacht, was er nach dem Hurrikan tun wollte. Er würde nicht in St. Pierre bleiben; er würde sofort nach New York reisen und seine Angelegenheiten regeln. Dann würde er nach San Fernandez zurückkehren, sich ein Haus mit Ausblick auf die See und ein Boot kaufen und viel zum Fischen hinausfahren. Und ab und zu ein Buch schreiben. Seine letzten drei Bücher waren nicht besonders gut gewesen; sie hatten sich gut verkauft dank Wisemans lauter Reklame, aber in seinem Innersten wußte er, daß sie nicht gut waren, obwohl die Kritiker sie hatten passieren lassen. Er hatte sich gefragt, warum er so nachgelassen hatte, und hatte sich Sorgen deswegen gemacht, aber jetzt wußte er, daß er wieder schreiben konnte, so gut wie oder besser als je zuvor.
Er lächelte leicht, als er an seinen Agenten dachte. Wiseman hatte wahrscheinlich schon eine Menge Quatsch über Big Jim Dawson geschrieben, über den großen Helden, der San Fernandez praktisch eigenhändig gerettet hatte, aber es würde ihm piepegal sein, ob Dawson lebte oder tot war – ja, Dawsons Tod wäre ihm sicher als Stoff für eine heiße Story sogar recht willkommen. Dawson würde mit riesigem Genuß all die Pressemitteilungen lesen, sie dann zerreißen und die Schnitzel über Wisemans Schreibtisch ausstreuen. Dies war eine Episode in seinem Leben, die er nicht des Profites halber von einem eigenmächtigen Presseagenten in den Schmutz ziehen und verdrehen lassen würde. Oder von einem es duldenden, schäbigen Schriftsteller, mußte man auch sagen.
Vielleicht würde er die Geschichte der letzten paar Tage auch selbst schreiben. Er hatte sich schon immer einmal an einen großen Stoff für ein Sachbuch wagen wollen. Er würde von Commodore Brooks berichten, von Serrurier und Favel, von Julie Marlowe und Eumenides Papegaikos und von den Tausenden, die von dieser Doppelkatastrophe von Krieg und Hurrikan erfaßt wurden. Und natürlich würde Wyatt zu der Geschichte gehören. Von ihm selbst würde wenig oder gar nichts darin vorkommen. Er hatte nichts weiter getan als Wyatt ins Gefängnis gebracht und rundherum nur Ärger gemacht. Das würde in dem Buch stehen – aber nichts von verlogenem Heroismus, nichts von Wisemans künstlicher Glorifizierung. Es würde ein gutes Buch werden.
Er drehte sich um und drückte sich dichter an den Boden, um dem tosenden Sturm zu entgehen.
***
Die Tagesstunden verstrichen, und wieder war San Fernandez dem Wüten des Hurrikans ausgeliefert. Wieder peinigte der ›große Wind‹ die Insel, jagte von der See herein und rüttelte an dem zentralen Gebirgsmassiv, als wollte er sogar diese mächtigen Berge in die See fegen, aus der sie einst aufgetaucht waren. Vielleicht trug der Hurrikan tatsächlich sein Teil zur Auslöschung dieser kleinen Insel bei – ein Bergrutsch hier, ein neuer Wasserlauf da, und ein Millimeter vom Gipfel des höchsten Berges im Massif des Saintes abgetragen –, aber das Land würde noch viele Hurrikane überstehen, bevor es endgültig besiegt würde.
Das Leben war empfindlicher als die toten Felsen. Die weichen grünen Pflanzen wurden entwurzelt, aus dem Boden gerissen und vom Wind davongetragen; die Bäume brachen, und sogar die zähen Gräser, die sich in Klumpen mit langen, verzweigten Wurzeln hartnäckig festhielten, spürten, wie die Erde sich unter ihnen auflöste. Die Tiere in den Bergen kamen zu Hunderten um; die Wildtaube wurde von der Felswand gerissen und gegen den Stein geschleudert, der Wildhund winselte in seiner Felsenbehausung und scharrte vergeblich an dem Erdberg, der heruntergerutscht war und seinen Eingang verschüttet hatte, und die Vögel wurden von den Bäumen gefegt und vom Sturm davongetragen, bis sie schließlich weit draußen auf der See ertranken.
Und die Menschen?
An den Hängen des Negrito-Tals allein waren fast 60.000 Männer, Frauen und Kinder dem Wüten ausgesetzt. Viele starben. Die Alten und Müden starben an Unterkühlung, und die Jungen und Gesunden starben durch die Gewalt des Sturms. Manche starben durch eigene Dummheit, weil sie nicht Verstand genug hatten, sich eine geschützte Stelle zu suchen, und andere starben trotz Intelligenz durch schieres Pech. Andere starben an Krankheiten – Leute mit schwachen Herzen, schwachen Lungen oder sonstigen Leiden. Manche starben sogar an Schock; vielleicht kann man sagen, diese starben vor Überraschung über die rohe Gewalt der Natur.
Aber es starben nicht so viele, wie umgekommen wären, wenn sie in der vernichteten Stadt St. Pierre geblieben wären.
Zehn Stunden lang raste der Sturm über die Insel – der Hurrikan – der ›große Wind‹. Zehn Stunden, von denen jede Minute eine abstumpfende Ewigkeit von betäubendem Lärm und hämmernder Luft war. Man konnte nichts tun, als sich dicht an die Erde drücken und hoffen, daß man es überlebte. Wyatt und Dawson hockten in ihrer flachen Mulde hinter dem Felsen und ›saßen es ab‹, wie Dawson sich ausgedrückt hatte.
Zuerst dachte Wyatt etwas erstaunt über das nach, was Delorme gesagt hatte, und er lächelte sardonisch. So wurden also Legenden gebildet. Ihm sollte die Rolle eines Retters, eines Helden von San Fernandez zufallen – des Mannes, der eine ganze Bevölkerung gerettet und einen Krieg gewonnen hatte. Er würde gepriesen werden für das Gute, das er getan hatte, und das Böse, das er nicht verhindern konnte. Offenbar hatte es Delorme ganz ehrlich gemeint. Für ihn waren Serrurier und alle seine Gefolgsleute Teufel in Menschengestalt und verdienten nichts Besseres, als sie bekommen hatten. Aber für Wyatt war Serrurier ein Geistesgestörter gewesen und seine Anhänger Menschen wie alle andern, wenn auch irregeführt, und er war es gewesen, der Favel die Falle gewiesen hatte, in die man sie locken konnte. Andere mochten ihm vielleicht vergeben oder nicht einmal merken, daß da etwas zu vergeben war, aber er würde sich selbst nie vergeben.
Und dann erstickte der Hurrikan alle Gedanken, und er lag träge dort und wartete geduldig auf den Augenblick, da er aufstehen und sich betätigen dürfte: ins Tal hinuntersteigen und nach dem einen Menschen suchen, den er vor allen anderen in der Welt geborgen wissen wollte – Julie Marlowe.
Der Hurrikan erreichte seinen Höhepunkt um elf Uhr vormittags, und von dem Zeitpunkt an ließ die Windstärke ganz langsam nach. Wyatt wußte, daß die Windgeschwindigkeit nicht plötzlich abfallen würde wie bei der Pause, als das Auge des Hurrikans über die Insel zog; der Sturm würde im Laufe von Stunden allmählich abflauen, und es würde noch für lange Zeit recht böig bleiben.
Erst um drei Uhr nachmittags konnte man es wagen aufzustehen, und auch dann war es noch gefährlich, aber Wyatt war nicht geneigt, noch länger zu warten. Er sagte zu Dawson: »Ich gehe jetzt ins Tal hinunter.«
»Halten Sie es schon für sicher?«
»Sicher genug.«
»Okay«, sagte Dawson und richtete sich auf. »In welche Richtung gehen wir?«
»Es wird das beste sein, gerade hinunterzugehen und dann weiter unten am Hang entlang.« Wyatt drehte sich um und sah in die Richtung zu Delormes Deckungsloch. »Ich will erst noch einmal mit dem Offizier dort drüben sprechen.«
Sie gingen vorsichtig am Hang entlang, und Wyatt beugte sich zu Delorme und brüllte ihm zu: »Warten Sie noch eine Stunde, bevor Sie Ihre Leute ausschicken.«
Delorme sah auf. Sein Gesicht war müde, und seine Stimme klang heiser, als er sagte: »Gehen Sie jetzt hinunter?«
»Ja.«
»Dann gehen wir auch«, sagte Delorme. Er erhob sich und suchte in seiner Tasche. »Die Leute dort unten können vielleicht keine Stunde mehr warten.« Er blies schrill auf einer Pfeife, und langsam wurde es lebendig auf dem Berg, als seine Leute aus Löchern und Spalten auftauchten. Einer seiner Sergeanten kam heran, und Delorme rasselte eine Reihe von Anweisungen herunter.
Wyatt sagte: »Ich würde beim Abstieg vorsichtig sein – es ist nicht schwer, sich ein Bein zu brechen. Wenn Sie irgendwo Weiße antreffen sollten, würde ich das gern erfahren.«
Delorme lächelte. »Favel sagte, wir sollten uns nach einer Miß Marlowe umsehen. Er sagte, Sie machten sich Sorgen um sie.«
»Tatsächlich?« sagte Wyatt überrascht. »Woher wußte er das wohl?«
»Favel weiß alles«, sagte Delorme voll Stolz. »Ihm entgeht nichts. Ich glaube, er hatte mit dem andern Engländer gesprochen – mit Causton.«
»Ich werde mich bei ihm bedanken müssen.«
Delorme schüttelte den Kopf. »Wir schulden Ihnen soviel, ti Wyatt; was könnten wir sonst tun? Wenn ich Miß Marlowe finde, bekommen Sie Bescheid.«
»Danke.« Wyatt sah Delorme an und erkannte, daß er seine Meinung geändert hatte. »Und ich werde Sie bestimmt auf Ihrer Plantage besuchen. Wo war sie noch?«
»Oben im Negrito-Tal – in La Carrière.« Delorme grinste. »Aber warten Sie, bis ich aufgeräumt und neu gepflanzt habe – es wird jetzt dort nicht schön aussehen.«
»Ich werde so lange warten«, versprach Wyatt und ging dann.
Der Abstieg war nicht leicht. Der Wind zerrte wütend an ihnen, und die Oberfläche war während der schlimmsten Stunden des Sturms gelockert worden, so daß sich leichte kleine Erdrutsche bildeten. Es gab viele umgestürzte Bäume zu umgehen und klaffende Löcher, wo Bäume ausgerissen worden waren. Es dauerte dreiviertel Stunden, bis sie auf die ersten Überlebenden stießen, eine Gruppe von aneinandergeschmiegten Leibern in einer kleinen Bodenvertiefung. Der Sturm tobte immer noch, und sie hatten sich noch nicht gerührt.
Dawson sah sie entsetzt an. »Sie sind tot«, sagte er. »Sie sind alle miteinander tot.«
Wyatt ging hinunter und schüttelte die erste erreichbare Schulter. Langsam hob der Mann den Kopf und sah Wyatt ausdruckslos an, und als Wyatt losließ, rollte er sich wieder zusammen. »Die sind schon in Ordnung«, sagte Wyatt. »Wir wollen weiter. Die Soldaten werden sich um sie kümmern.«
Dawson sah hinauf. »Sie kommen jetzt dort oben.« Er zeigte durch die kahlen Bäume auf eine lange Kette von Männern, die den Berg herunterkamen.
Sie gingen weiter hinunter und sahen immer mehr Menschen, eine Streu von Leibern zwischen den Bäumen. Sie sahen aus wie Bündel alter Kleider, die jemand achtlos weggeworfen hatte. Niemand von ihnen rührte sich, und ab und zu sah Wyatt genauer nach. Er sagte zu Dawson: »Sie leben alle, aber sie brauchen Pflege. Sie haben keinen anderen Wunsch, als zu überleben, und sie wissen noch nicht, daß sie überlebt haben.«
»Ist das der Katastrophenschock?«
»Das ist er«, sagte Wyatt. »Ich habe es nie vorher erlebt; ich habe nur in Berichten über Hurrikane darüber gelesen. Ein Mensch braucht eine größere Aufgabe, als nur einfach zu überleben, wenn er ihm nicht verfallen will – eine Aufgabe wie die dort.« Er zeigte auf die absteigenden Soldaten. »Kommen Sie weiter! Wir können hier nichts tun, das können Favels Männer besser. Wir wollen bis zum Wasser hinuntergehen und dann im Tal hinauf.« Am Rande des Wassers fanden sie die ersten Leichen. Es waren Ertrunkene, die am Ufer dieses merkwürdigen neuen Sees angespült worden waren. Und sie trafen dort auch die ersten Überlebenden, die noch einen Funken von zweckvollem Leben enthielten: einige Männer und Frauen, die aufgeregt suchten, wahrscheinlich nach Familienangehörigen. Sie liefen herum wie Traumwandler, und als Wyatt sie ansprach, wollten – oder konnten – sie nicht antworten. Er gab es auf und sagte: »Wir wollen zu der Stelle hinaufgehen, wo nach dem Bericht des Soldaten die weiße Frau gesehen wurde.«
Es war eine schauerliche Wanderung. Als sie etwa einen Kilometer gegangen waren, sah Dawson sich um und sagte: »Wie fürchterlich! Was für fürchterliche Bilder!« Er zeigte auf eine Frau, die ein Kind im Arm hielt; das Kind war offensichtlich tot – der Kopf hing unnatürlich auf einer Seite herab wie der einer beschädigten Puppe –, aber die Frau schien das noch nicht wahrgenommen zu haben. »Was kann man in so einem Fall tun?« fragte er.
»Wir können gar nichts tun«, sagte Wyatt. »Es ist am besten, das ihrer Familie zu überlassen.«
Dawson sah am Hang entlang. »Aber es sind Tausende hier – was kann ein Regiment ausrichten? Es gibt keine Medikamente, keine Ärzte, und es steht kein Krankenhaus mehr in St. Pierre. Viele von diesen Menschen werden jetzt noch sterben.«
»Auf der anderen Seite des Tales sind auch noch viele«, sagte Wyatt und zeigte über das Wasser. »So sieht es im ganzen Negrito-Tal aus – auf beiden Seiten.«
Auf dem Hang begann es sich langsam ein wenig zu regen, als es den Einwohnern von St. Pierre allmählich dämmerte, daß die Qual überstanden war. Favels Leute waren jetzt unter ihnen, aber sie konnten nicht viel mehr tun, als die Toten von den Lebenden scheiden, und diejenigen mit genügend Kenntnissen in erster Hilfe waren vollauf beschäftigt mit dem Schienen von gebrochenen Gliedern.
Wyatt sagte verzagt: »Wie sollen wir einen Menschen unter dieser Menge finden?«
»Julie ist weiß«, sagte Dawson. »Sie müßte auffallen.«
»Viele von diesen Leuten sind genauso hell wie wir«, sagte Wyatt trübe. »Lassen Sie uns weitergehen.«
Sie hielten sich wieder an den Berghang, wo ein Flutausläufer weiter landeinwärts kam, und Wyatt blieb andauernd stehen, um die wacher erscheinenden Überlebenden zu fragen, ob sie eine weiße Frau gesehen hätten. Manche antworteten nicht, andere fluchten, und andere sprachen langsam und unzusammenhängend – aber niemand wußte etwas von einer weißen Frau. Einmal schrie Wyatt: »Dort ist sie!« rannte ein Stück bergab und packte eine Frau am Arm. Sie drehte sich um und sah ihn an. Sie hatte die kremfarbene Haut einer Octavonin. Wyatt ließ ihren Arm enttäuscht fallen.
***
Endlich kamen sie an ihrem Ziel an und begannen mit einer systematischeren Suche. Sie stiegen am Hang auf und ab und sahen sich jede Menschengruppe genauer an. Sie suchten fast eine Stunde und fanden weder Julie noch sonst eine weiße Person, weder Mann noch Frau. Dawson war übel von den Bildern, die er sah, und er schätzte, daß da, wenn das, was er gesehen hatte, ein repräsentativer Querschnitt war, tausend Tote allein auf der einen Seite des Negrito waren – und die Verletzten waren nicht zu zählen. Die Menschen schienen nicht fähig zu sein, sich selbst von dem Schock zu befreien, in den sie verfallen waren. Die Luft war erfüllt von dem Stöhnen und Schreien der Verletzten, während die Gesunden einfach dasaßen und vor sich hin starrten oder im Schildkrötentempo ziellos umherwanderten. Nur ganz wenige schienen genug Initiative zurückgewonnen zu haben, um den Berg zu verlassen oder bei den Rettungsarbeiten zu helfen.
Wyatt und Dawson trafen sich wieder, und Dawson schüttelte betrübt den Kopf auf Wyatts verzweifelt fragenden Blick. »Der Mann kann sich nicht geirrt haben«, sagte Wyatt außer sich. »Er kann nicht.«
»Wir können nur weitersuchen«, sagte Dawson. »Wir können sonst nichts tun.«
»Wir könnten zur Küstenstraße hinüberfahren. Dorthin sind sie zuerst gefahren. Das wissen wir.«
»Wir sollten lieber erst hier die Suche beenden«, sagte Dawson beharrlich. Er sah über Wyatts Schulter. »He, da kommt einer von Favels Männern – es scheint, daß er zu uns will.«
Wyatt flog herum, und der Soldat kam heran. »Suchen Sie nach Blanc?« fragte der Mann.
»Eine Frau?« fragte Wyatt gespannt.
»Ja; sie ist dort drüben – gleich hinter dem Hügel.«
»Kommen Sie!« rief Wyatt und begann zu laufen. Dawson lief hinterher. Sie kamen auf den Hügel und sahen auf etwa zweihundert Leute herunter, von denen einige mit fragenden, schwarzen Gesichtern und rollenden Augen in ihre Richtung schauten.
»Dort!« stieß Dawson hervor. »Dort drüben.« Er blieb stehen und sagte ruhig: »Es ist Mrs. Warmington.«
»Sie wird wissen, wo Julie ist«, sagte Wyatt hocherfreut und rannte den Hügel hinunter. Er schob sich zwischen den Menschen durch und packte Mrs. Warmington am Arm. »Sie sind gerettet«, sagte er. »Wo ist Julie?«
Mrs. Warmington sah ihn an und brach in Tränen aus. »Oh, Gott sei Dank – Gott sei Dank, ein weißes Gesicht! Ich freue mich so, Sie zu sehen!«
»Wo ist Julie – und die andern?«
Ihr Gesicht verzerrte sich. »Sie haben ihn getötet«, rief sie hysterisch. »Sie erschossen ihn und stachen ein Bajonett in seinen Rücken … wieder … und wieder. Mein Gott … das Blut …«
Wyatt war tief erschrocken. »Wer wurde getötet? Rawsthorne oder Papegaikos?« drang er in sie ein.
Mrs. Warmington betrachtete ihre Handrücken. »Da war viel Blut«, sagte sie mit unnatürlicher Ruhe. »Es war sehr rot auf dem Rasen.«
Wyatt konnte sich nur mit Mühe beherrschen. »Wer … wurde … getötet?«
Sie sah auf. »Der Grieche. Sie gaben mir die Schuld. Es war nicht meine Schuld; es war überhaupt nicht meine Schuld. Ich mußte es tun. Aber sie gaben mir die Schuld.«
Dawson fragte: »Wer gab Ihnen die Schuld?«
»Das Mädchen – dieses junge Ding. Sie sagte, ich hätte ihn umgebracht, aber das habe ich nicht. Er wurde von einem Soldaten umgebracht, mit einem Gewehr und einem Bajonett.«
»Wo ist Julie jetzt?« fragte Wyatt ungeduldig.
»Ich weiß es nicht«, sagte Mrs. Warmington schrill. »Es ist mir auch egal. Sie hat mich geschlagen, deshalb bin ich weggelaufen. Ich hatte Angst, sie würde mich umbringen – sie sagte selbst, sie wollte es.«
Wyatt sah Dawson entsetzt an und fragte dann gefährlich leise: »Wo sind Sie weggelaufen?«
»Wir kamen von drüben, von der Küste«, sagte sie. »Dort war ein Fluß und ein Wasserfall – wir wurden alle naß.« Sie schüttelte sich. »Ich dachte, ich würde mir eine Lungenentzündung holen.«
»Ist da ein Fluß zwischen hier und der Küste?« fragte Dawson.
Wyatt schüttelte den Kopf. »Nein.« Mrs. Warmington war offensichtlich in einem Schockzustand und mußte mit Samthandschuhen angefaßt werden. Er fragte behutsam: »Wo war der Fluß?«
»Auf einem Berg«, sagte Mrs. Warmington. Dawson seufzte laut, und sie sah ihn an. »Warum sollte ich Ihnen sagen, wo sie sind? Sie werden Ihnen nur einen Haufen Lügen über mich erzählen«, sagte sie trotzig. »Ich erzähle Ihnen nichts.« Sie ballte die Fäuste, daß ihre Nägel sich tief in die Handflächen eingruben. »Ich hoffe, sie stirbt, wie sie es mir gewünscht hat.«
Dawson tippte Wyatt auf die Schulter. »Kommen Sie hierherüber!« sagte er. Wyatt sah Mrs. Warmington angewidert an, aber er ließ sich von Dawson ein paar Schritte beiseite drängen. Dawson sagte: »Ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Ich glaube, die Frau ist übergeschnappt.«
»Sie ist total verrückt«, sagte Wyatt. Er zitterte.
»Vielleicht – aber sie weiß immerhin, wo Julie ist. Irgend etwas hat ihr eine schreckliche Angst eingejagt, und das war nicht der Hurrikan, obwohl der vielleicht das Faß erst zum Überlaufen gebracht hat. Vielleicht hat sie tatsächlich Eumenides umgebracht, und Julie sah sie dabei – das würde bedeuten, daß sie Angst hat, wegen Mordes vor Gericht zu kommen. Sie mag vielleicht verrückt sein, aber ich glaube, sie ist gerissen – sie spielt verrückt.«
»Wir müssen es aus ihr herausholen«, sagte Wyatt. »Aber wie?«
»Überlassen Sie es mir!« sagte Dawson entschlossen. »Sie sind ein englischer Gentleman – Sie verstehen es nicht, mit dieser Art von Weibern umzugehen. Ich dagegen – ein achtzehnkarätiger, diamantbesetzter amerikanischer Grobian –, ich werde es aus ihr herausholen, und wenn ich ihr den Schädel einschlagen muß.«
Er ging zu ihr hinüber und sagte mit vorgetäuschter Konzilianz: »So, Mrs. Warmington; nun erzählen Sie mir, wo Julie Marlowe und Mr. Rawsthorne sind, nicht wahr?«
»Ich werde nichts tun. Ich mag Leute nicht, die plappern und Lügen über mich erzählen.«
Dawsons Stimme wurde hart. »Wissen Sie, wer ich bin?«
»Sicher. Sie sind Big Jim Dawson. Sie werden mich hier herausholen, das werden Sie doch, nicht?« Ihre Stimme schlug in ein klägliches Jammern um. »Ich will heim in die Staaten.«
Er sagte drohend: »Sie kennen also meinen Ruf. Ich bin als ein übler Grobian bekannt. Sie haben eine Chance, schnell heim in die Staaten zu kommen. Sagen Sie mir, wo Rawsthorne ist, oder ich lasse Sie hier festhalten, bis das Verschwinden des britischen Konsuls geklärt ist. Es wird bestimmt eine Untersuchung geben – die Briten sind konservativ, sie mögen es nicht, wenn Beamte verlorengehen, auch nicht, wenn es untergeordnete sind.«
»Oben auf dem Berg«, sagte sie weinerlich. »Dort ist eine Schlucht.«
»Zeigen Sie, wo!« Er folgte mit den Blicken ihrer schwankenden Hand und sah sie dann wieder an. »Sie sind recht gut durch diesen Hurrikan gekommen«, sagte er streng. »Irgendwer muß sich um Sie gekümmert haben. Sie sollten Dank empfinden, nicht Haß.«
Er ging zu Wyatt zurück. »Ich habe es. Dort oben gibt es eine Schlucht.« Er zeigte mit der Hand hinauf. »Irgendwo in dieser Richtung.«
Ohne ein Wort rannte Wyatt los und begann, den Berg hinaufzusteigen. Dawson grinste und folgte ihm in einem etwas langsameren, kräftesparenderen Tempo. Er hörte ein Brummen in der Luft und sah hoch. Ein Hubschrauber tauchte über dem Bergkamm auf wie eine riesige Heuschrecke. »He!« rief er. »Hier kommt die Navy – sie sind zurück.«
Aber Wyatt war schon weit voraus. Er kletterte, als ob sein Leben davon abhinge. Vielleicht tat es das auch.
***
Causton stand auf dem Betonplatz neben dem zerstörten Kontrollturm des Flugplatzes auf Cap Sarrat und sah den Hubschraubern entgegen, die in einer langen schwankenden Kette von See her ankamen. Commodore Brooks war schnell gewesen – der Flugzeugträger unter seinem Kommando mußte sich am Rande des Hurrikans aufgehalten haben, und er hatte die Hubschrauber losgeschickt, sobald das Wetter es zuließ. Und dies war nur die erste Welle. Bald würden viele Flugzeuge auf San Fernandez landen und die dringend benötigten Ärzte und Medikamente bringen.
Causton sah hinüber zu der kleinen Gruppe von Offizieren, in deren Mitte Favel stand und grinste. Die Yankees erwartete eine Überraschung – aber vielleicht jetzt noch nicht.
Favel hatte keinen Zweifel daran gelassen. »Ich werde den Stützpunkt auf Cap Sarrat besetzen«, hatte er gesagt. »Wenigstens mit einer symbolischen Streitmacht. Das ist äußerst wichtig.«
Daher hatte eine Kompanie die gefährliche Fahrt über die überschwemmte Negritomündung riskiert, und hier waren sie jetzt und erwarteten die Amerikaner. Es hatte alles mit dem ursprünglichen Vertragstext von 1906 zu tun, in dem Favel ein Schlupfloch gefunden hatte. »Die Sache ist ganz einfach, Mr. Causton«, hatte er gesagt. »Der Vertrag sagt, wenn die amerikanischen Streitkräfte den Stützpunkt freiwillig aufgeben und er danach von der Regierung von San Fernandez beansprucht wird, ist der Vertrag aufgehoben.«
Causton hatte die Augenbrauen hochgezogen. »Das wird als eine ziemlich schäbige Geste empfunden werden«, hatte er gesagt. »Die Amerikaner kommen und bringen Ihnen großzügige Hilfe, und Sie vergelten sie damit, daß Sie ihnen den Stützpunkt nehmen.«
»Die Amerikaner werden uns nichts bringen, was sie uns nicht schon schulden«, hatte Favel trocken gesagt. »Sie haben zwanzig Quadratkilometer wertvolles Land auf sechzig Jahre für ein Trinkgeld gepachtet, zu Bedingungen, die sie erzwangen, als sie San Fernandez wie ein feindliches Land besetzt hielten.« Er hatte ernst den Kopf geschüttelt. »Ich will ihnen den Stützpunkt nicht nehmen, Mr. Causton. Aber ich glaube, ich werde dann in der Lage sein, eine neue, angemessenere Pacht auszuhandeln.«
Causton hatte ein Notizbuch aus der Tasche geholt und sein Gedächtnis aufgefrischt. »Eintausendsechshundertunddreiundneunzig Dollar im Jahr. Ich glaube, das Land ist mehr wert als das, und ich glaube, Sie sollten es kriegen.«
Favel hatte vergnügt gegrinst. »Sie haben die zwölf Cent vergessen, Mr. Causton. Ich glaube, der Internationale Gerichtshof in Den Haag wird unseren Standpunkt bestätigen. Ich würde es gern sehen, wenn Sie mit zum Stützpunkt kämen, als unabhängiger Zeuge dafür, daß die Regierung von San Fernandez von Cap Sarrat Besitz ergriffen hat.«
Und hier war er also und sah den ersten Hubschrauber auf dem Territorium des souveränen Staates San Fernandez aufsetzen. Er sah die Männer aussteigen und sah das Gold an einer Schirmmütze blinken. »Mein Gott, das ist doch nicht etwa Brooks«, murmelte er und ging auf die Maschine zu. Er sah Favel vortreten und beobachtete gespannt die Begegnung der beiden Männer.
»Willkommen auf Cap Sarrat«, sagte Favel und streckte die Hand aus. »Ich bin Julio Favel.«
»Brooks – Commodore der United States Navy.«
Die beiden Männer gaben sich die Hand, und Causton überlegte, ob Brooks wohl diese Lücke im Vertrag kannte. Wenn er sie kannte, ließ er sich jedenfalls nicht anmerken, daß er sich der veränderten Situation bewußt war. Er zeigte auch keine Überraschung, als er die nasse grüngoldene Flagge von San Fernandez an einem improvisierten Flaggenmast am Kontrollturm hängen sah. Er fragte: »Was brauchen Sie am dringendsten, Mr. Favel, und wo brauchen Sie es? Was wir haben, steht Ihnen zur Verfügung.«
Favel schüttelte traurig den Kopf. »Wir brauchen alles – aber zuerst Ärzte, Medikamente, Lebensmittel und Decken. Später könnten wir große Behelfsunterkünfte irgendwelcher Art brauchen – notfalls Zelte.«
Brooks zeigte auf die auf der Startbahn landenden Hubschrauber. »Diese Männer werden den Flugplatz prüfen und sehen, ob er benutzbar ist. Wir werden dort drüben einen provisorischen Kontrollturm einrichten. Wenn das passiert ist, können die großen Maschinen landen – sie stehen schon startbereit in Miami und auf Puerto Rico. Inzwischen haben wir hier fünf Hubschrauber voll Ärzte. Wohin sollen wir sie schicken?«
»Ins Negrito-Tal hinauf. Sie werden genug Arbeit finden.«
Brooks zog die Brauen hoch. »Am Negrito? Dann haben Sie also die Bevölkerung aus St. Pierre hinausgeschafft.«
»Mit Hilfe Ihres Mr. Wyatt. Der ist ein sehr entschlossener und überzeugender junger Mann.«
Sie gingen zusammen weg. »Ja«, sagte Brooks. »Ich wünschte, ich hätte …« Mehr konnte Causton nicht mehr hören.
***
Dawson holte Wyatt ein, als er fast auf dem Kamm des Berges angekommen war. »Langsam, langsam«, keuchte er. »Sie bringen sich ja um.«
Wyatt sagte nichts. Er sparte seinen Atem, um die Kraft den Beinen zukommen zu lassen, die wie Motorkolben arbeiteten. Oben sah Wyatt sich um. Er atmete schwer, und seine Beine schmerzten von der Anstrengung. »Ich kann keine … Schlucht … sehen.«
Dawson sah nach der anderen Seite, auf die See hinaus, und entdeckte einen willkommenen Streifen blauen Himmels über dem Horizont. Er wandte sich wieder um. »Nehmen wir an, sie kamen von der Küste herauf, wo würden sie sich von hier aus hinwenden?«
Wyatt schüttelte gereizt den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
»Ich wäre geneigt, mich näher an St. Pierre heranzumachen«, sagte Dawson. »Damit ich es nicht so weit nach Hause hätte, wenn alles vorbei wäre.« Er zeigte nach links hinüber. »Dahinüber. Sollen wir da einmal nachsehen?«
Sie gingen ein Stück auf dem Kamm entlang, und dann sagte Wyatt: »Da ist es – ich nehme an, man könnte das als eine Schlucht bezeichnen.«
Dawson sah hinunter zu der Rinne, die in den Hang eingeschnitten war. »Das sieht recht gut aus. Lassen Sie uns hingehen!«
Sie stiegen in die Schlucht hinunter und sahen sich um. Zwischen den Steinblöcken standen große Wasserpfützen, und Wyatt sagte: »Da muß während des Hurrikans eine große Menge Wasser heruntergekommen sein. Das hat Mrs. Warmington wohl gemeint, als sie von einem Fluß oben auf dem Berg sprach.« Er füllte seine Lungen mit Luft. »Julie!« schrie er aus vollem Hals.
»Julie! Rawsthorne!«
Es kam keine Antwort. Alles war still, bis auf das Dröhnen eines Hubschraubers, der unten im Tal landete.
»Wir wollen ein Stück weitergehen«, sagte Dawson. »Vielleicht sind sie weiter unten. Vielleicht haben sie die Schlucht schon verlassen – und sind ins Tal hinuntergestiegen.«
»Das würden sie nicht tun«, widersprach Wyatt. »Rawsthorne weiß, daß die Straße nach St. Michel günstiger ist.«
»Okay, vielleicht sind sie in die Richtung gegangen.«
»Wir wollen erst hier unten nachsehen«, sagte Wyatt. Er begann zwischen den Steinblöcken auf dem Grund der Schlucht herumzuklettern und watete achtlos durch das Wasser. Dawson folgte ihm und sah sich nach allen Seiten sorgfältig um. Von Zeit zu Zeit rief Wyatt, und sie blieben stehen, um zu horchen, aber es rief niemand zurück.
Nach einer Weile sagte Dawson: »Die Warmington sagte etwas von einem Wasserfall. Haben Sie etwas gesehen, das ein Wasserfall sein könnte?«
»Nein«, sagte Wyatt sofort.
Sie gingen weiter in der Schlucht hinunter und fanden sich zwischen steilen Wänden eingeschlossen. »Dies wäre kein schlechter Ort, einen Hurrikan abzusitzen«, bemerkte Dawson. »Besser als die verdammten Löcher, die wir hatten.«
»Verdammt, wo sind sie dann?« fragte Wyatt ungeduldig.
»Sachte!« sagte Dawson. »Wir werden sie schon finden, wenn sie hier sind. Ich will Ihnen was sagen; Sie gehen weiter in der Schlucht hinunter, und ich steige hinauf. Draußen komme ich schneller voran und kann doch auch hier unten das meiste übersehen.«
Er kletterte den Steilhang hinauf und erreichte wieder den offenen Berghang. Wie er sich vorgestellt hatte, kam er gleich schneller voran. Obgleich umgestürzte Bäume im Weg lagen, war es doch leichter als zwischen den übereinandergetürmten Steinblöcken unten in der Schlucht. Er ging bergab und ließ Wyatt hinter sich zurück. Er ging oft an den Rand der Schlucht, um auch den Boden sorgfältig abzusuchen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er etwas fand.
Zuerst dachte er, es sei irgendein Tier, das sich sehr langsam bewegte, und dann pfiff er durch die Zähne, als er sah, daß es ein Mann war, der mühsam auf dem Bauch kroch. Er kletterte hinunter und rannte über die Steinblöcke zu der Stelle, wo die kriechende Gestalt liegengeblieben war. Als er den Mann umgedreht hatte, hob er den Kopf und rief: »Wyatt, kommen Sie her! Ich habe Rawsthorne gefunden.«
Rawsthorne war in einer sehr schlechten Verfassung. Sein Gesicht war totenbleich. Die Haut bildete einen harten Kontrast zu den Blutstreifen an der Seite des Kopfes. Seine rechte Seite schien völlig gelähmt zu sein, und er versuchte vergeblich, mit dem linken Arm etwas zu fassen, als Dawson ihn sachte anhob. Seine Augen öffneten sich für kurze Augenblicke, und seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Ton heraus.
»Ruhig, ruhig«, sagte Dawson. »Sie sind jetzt gerettet.«
Rawsthornes Atem ging rasselnd, und er flüsterte: »Herz … Herz … anfall.«
»Machen Sie sich keine Sorgen!« sagte Dawson. »Beruhigen Sie sich!«
Kleine Steine polterten, als Wyatt ankam, und Dawson drehte sich um. »Der arme Kerl hat einen Herzanfall gehabt. Es geht ihm gar nicht gut.«
Wyatt ergriff Rawsthornes Handgelenk und fühlte den schwachen Puls und sah dann in die glasigen Augen, die in die Unendlichkeit gerichtet zu sein schienen. Die grauen Lippen bewegten sich wieder. »Wasserfall … Baum … Baum …«
Rawsthorne wurde plötzlich schlaff in Dawsons Armen. Sein Blick war starr zum Himmel gerichtet, und sein Kinn hing herunter.
Dawson ließ ihn sachte auf die Steine herunter. »Er ist tot.«
Wyatt starrte auf den Körper herab, und sein Gesicht sah kummervoll aus. »Kroch er?« flüsterte er.
Dawson nickte. »Er kroch in der Schlucht herunter. Ich weiß nicht, wie er das schaffen wollte.«
»Julie hätte ihn nie verlassen«, sagte Wyatt mit mühsam beherrschter Stimme. »Nicht wenn er krank war. Es muß ihr was passiert sein.«
»Er sagte auch etwas von einem Wasserfall – genau wie die Warmington.«
»Er muß weiter oben sein«, sagte Wyatt. »Und ich glaube, ich weiß auch, wo.« Er stand auf und rannte davon, viel zu schnell für den unebenen Grund, ohne Rücksicht auf seine Knöchel. Dawson folgte ihm etwas vorsichtiger und fand ihn unter einem großen Felsen, der zu hart und widerstandsfähig war, um abgetragen zu werden. Er bückte sich und hob etwas auf, das in einer Spalte am Fuße des Felsens gelegen hatte. Es war eine Damenhandtasche.
»Das war Mrs. Warmingtons«, sagte er. »Das ist der Wasserfall.« Er sah hinauf zu dem Gewirr von Baumwurzeln über sich am Rand der Schlucht. »Und das ist der Baum – er sagte doch ›Baum‹, nicht?«
Er kletterte die Wand hinauf und drehte sich dann um und half Dawson hoch. »Wir wollen uns diesen verdammten Baum einmal genauer ansehen.«
Sie gingen um den Baum herum und sahen nichts, und dann schob sich Wyatt zwischen die Äste hinein und gab plötzlich einen erstickten Laut von sich. »Hier ist sie«, sagte er niedergeschlagen.
Dawson zwängte sich durch, sah Wyatt über die Schulter und wandte sich dann ab. Er sagte langsam: »Well – wir haben sie gefunden.«
Der Stamm lag quer über ihre Beine und Hüften, und ein dicker Ast lag auf ihrem rechten Arm und drückte ihn gegen den Grund. Die Fingerspitzen ihrer linken Hand waren durchgescheuert, wo sie an dem Stamm gekratzt hatte in ihrem ohnmächtigen Bemühen, ihn wegzuwälzen. Ihr Gesicht war mit Erde beschmiert, aber sonst war es marmorweiß und blutleer, und das einzige, was sich an ihr bewegte, war eine Haarsträhne, die sachte im Wind wehte.
Wyatt trat von dem Baum zurück und sah ihn abschätzend an. Er sagte mit gepreßter Stimme: »Lassen Sie uns versuchen den Baum wegzukriegen. Wir müssen den verdammten Baum weghaben.«
»Dave«, sagte Dawson ruhig, »sie ist tot.«
Wyatt flog wutschnaubend herum. »Wir wissen es nicht«, schrie er. »Wir wissen es nicht!«
Dawson trat einen Schritt zurück, eingeschüchtert durch die gezügelte Gewalt, die von diesem Mann ausging. Er sagte: »All right, Dave. Wir werden den Baum wegschaffen.«
»Und wir werden es vorsichtig tun, hören Sie?« sagte Wyatt. »Wir werden es sehr vorsichtig tun.«
Dawson sah den Baum voller Zweifel an. Er war groß und schwer und krumm. »Wie stellen wir es an?«
Wyatt bearbeitete einen gebrochenen Ast und riß ihn mit roher Gewalt ab. Er trat keuchend zurück. »Wir nehmen das Gewicht von ihrem … Körper, dann kann einer von uns sie unter dem Stamm herausziehen.«
Das erschien Dawson nicht so leicht, aber er war gern bereit, es zu versuchen. Er nahm den Ast, den Wyatt ihm gab, und lief um den Baum herum und suchte eine Stelle, wo man ihn unter den Stamm schieben könnte. Wyatt sammelte einige große Steine und folgte ihm. »Da«, sagte er abrupt. »Da ist die richtige Stelle.« Sein Gesicht war weiß. »Wir müssen vorsichtig sein.«
Dawson rammte den Ast unter den Baumstamm und probierte vorsichtig die Hebelwirkung aus. Er bezweifelte, ob sich der Baum bewegen würde, aber er sagte nichts. Wyatt schob ihn beiseite und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Ast. Es knarrte irgendwo, aber sonst geschah nichts. »Kommen Sie!« sagte er. »Sie können mitdrücken.«
»Wer schiebt die Steine drunter?« fragte Dawson logisch. »Keiner von uns kann es tun, wenn wir beide an dem Ast drücken.«
»Ich kann es mit dem Fuß tun«, sagte Wyatt ungeduldig. »Kommen Sie!«
Beide hängten sich mit aller Kraft an den Ast, und Dawson empfand höllische Schmerzen in seinen Händen. Der Stamm bewegte sich ein klein wenig, und er biß die Zähne zusammen und hielt es aus. Langsam hob sich der Stamm, Zoll um Zoll, und Wyatt, beide Beine in der Luft, stieß mit der Schuhspitze einen der Steine unter den Stamm. Dann kam ein anderer, ein größerer, darunter, und er keuchte: »Das reicht – fürs erste.«
Langsam ließen sie den Ast los, und der Stamm senkte sich wieder, aber er war durch die Steine etwas höher gekommen. Dawson taumelte zurück, seine Hände brannten wie Feuer.
Wyatt sah sein Gesicht und fragte: »Was ist denn los?« Dann fiel es ihm ein. »Oh, mein Gott! Das tut mir leid. Daran hatte ich nicht gedacht.«
Dawson unterdrückte die aufkommende Übelkeit und grinste gezwungen. »Es macht nichts«, sagte er in möglichst ruhigem Tonfall. »Da ist nichts weiter dran. Es geht schon.«
»Wirklich?«
»Alles prima«, sagte er leichthin.
Wyatt wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Baum zu. »Ich will sehen, ob ich sie jetzt herausziehen kann.« Er kroch unter die Äste und war einige Minuten still, dann sagte er mit gedämpfter Stimme. »Es fehlt noch ein Stückchen.« Er kam heraus. »Wenn Sie da drunterkriechen können und sie herausziehen, während ich diesen verfluchten Baum hochhebe, schaffen wir es, glaube ich.«
Er klemmte die Steine sorgfältig fest, die er schon untergeschoben hatte, während Dawson unter die Äste kroch, und als Dawson rief, daß er bereit sei, drückte er wieder auf den Hebel. Es geschah nichts, also drückte er noch mehr und noch mehr. Er hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Ast und drückte, bis er dachte, seine Knochen würden brechen. Verschwommen zuckte die Erinnerung durch seinen Geist, daß er das alles schon in der Zelle erlebt hatte. Nun, da hatte er es geschafft, also würde er es auch hier schaffen.
Der Stamm rührte sich nicht.
Dawson rief, er sollte aufhören, und kam unter den Ästen herausgekrochen. Er war dicht an Julies Körper gewesen und war nun überzeugt, daß sie tot war, aber was er auch im stillen über die Nutzlosigkeit des Unterfangens dachte, es war an seinem Gesichtsausdruck keinen Augenblick zu erkennen.
Dawson sagte: »Was hier gebraucht wird, ist Gewicht – nicht Kraft. Ich bin sechzig Pfund schwerer als Sie – es sind vielleicht nicht alles Muskeln, aber das hat nichts zu sagen. Ziehen Sie sie raus, während ich das Heben besorge.«
»Und Ihre Hände?«
»Es sind meine Hände, nicht? Los, kriechen Sie drunter!«
Er wartete, bis Wyatt dort war, dann hängte er sich an den Ast und drückte ihn mit all seiner Kraft und seinem Gewicht nach unten. Er schrie fast auf vor Schmerzen in seinen Händen, und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Der Stamm bewegte sich, und Wyatt schrie: »Halten Sie fest! Um Gottes willen, halten Sie fest!«
Dawson wurde die Zeit zu einer Ewigkeit, er ging durch die Hölle, und für einen Bruchteil einer Sekunde überlegte er, ob er seine Hände wohl je wieder gebrauchen können würde – etwa an einer Schreibmaschine. Verdammt! knurrte er sich selbst an, ich kann jederzeit diktieren – und drückte noch fester. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wyatt rückwärts herauskroch und etwas schleppte, und mit unbeschreiblicher Erleichterung hörte er eine schwache Stimme aus weiter Ferne sagen: »Okay, Sie können loslassen.«
Er ließ den Ast los und sackte zu Boden. Dankbar spürte er, wie die höllischen Schmerzen in seinen Händen allmählich in eine hochwillkommene Betäubung übergingen. Mit trüben Augen beobachtete er, wie Wyatt sich über Julie beugte, ihre Bluse aufriß und sein Ohr an ihre Brust legte. Und es war fast ein Schock für ihn, als er ihn freudig rufen hörte: »Sie lebt! Sie lebt noch! Es schlägt schwach, aber es schlägt.«
Es dauerte lange, bis sie einen Hubschrauber herangewinkt hatten, aber als es ihnen gelungen war, ging alles schnell. Die Maschine blieb schwirrend über ihnen stehen und wirbelte Staub auf, während Wyatt über Julie lag und sie gegen den Wind vom Rotor schützte. Ein Mann wurde an einer Winde heruntergelassen und sprang auf den Boden, und Dawson rannte zu ihm hin. »Wir brauchen einen Arzt.«
Der Mann lächelte kurz. »Ich bin Arzt – wo fehlt es?«
»Dieses Mädchen.« Er führte ihn zu Julie, und der Arzt ließ sich auf ein Knie nieder und holte ein Stethoskop heraus. Nach einigen Sekunden suchte er in einem Behälter an seiner Hüfte und entnahm ihm eine Spritze und eine Ampulle. Während Wyatt ihn ängstlich beobachtete, gab er Julie eine Injektion. Dann winkte er den Hubschrauber wieder heran und gab über ein Mikrophon an dem baumelnden Aufzug knappe Anweisungen.
Der Aufzug wurde hochgezogen, und gleich daraufkam ein zweiter Mann herunter und brachte eine zusammengelegte Bahre und ein Bündel Schienen mit, und der Hubschrauber entfernte sich wieder, um in der Nähe zu kreisen. Julie wurde behutsam in ein System von Schienen eingebunden und erhielt eine weitere Injektion. Wyatt fragte: »Wie steht … wird sie …?«
Der Arzt sah auf. »Wir sind gerade noch zurechtgekommen. Sie wird durchkommen, wenn wir sie schnellstens von hier wegschaffen.« Er winkte dem Hubschrauber, der wieder herankam, und Julie wurde auf der Bahre hochgezogen.
Der Arzt musterte sie. »Kommen Sie mit?« Er sah Dawson an. »Was ist mit Ihren Händen los?«
»Welche Hände?« fragte Dawson mit klirrender Ironie. Er streckte die verbundenen Pfoten vor. »Sehen Sie, Doktor! Keine Hände!« Er begann hysterisch zu lachen.
Der Arzt sagte: »Sie nehmen wir lieber mit.« Er sah Wyatt an. »Und Sie auch; Sie sehen zu Tode erschöpft aus.«
Sie wurden nacheinander hochgezogen. Dann folgte der Arzt und klopfte dem Piloten leicht auf die Schulter. Wyatt saß neben der Bahre und betrachtete Julies weißes Gesicht. Er überlegte, ob sie einen Mann heiraten würde, der sie im Stich gelassen hatte, der sie allein dem Tod in dem Sturm ausgesetzt hatte. Er bezweifelte es – aber bitten würde er sie.
Er starrte verloren hinunter auf die entschwindenden Berge und auf die weiten Wasserflächen im überfluteten Negrito-Tal und spürte auf einmal etwas an seiner Hand. Er drehte sich schnell um und sah, daß Julie wach war und daß sie seine Hand berührte. Zwei Tränen rannen über ihr Gesicht, und ihre Lippen bewegten sich. Aber alle Laute gingen in dem Motorgedröhn unter.
Schnell beugte er sich herunter, legte sein Ohr an ihre Lippen und fing die schwach gehauchten Worte ein. »Dave! Dave! Du lebst!« Sogar aus dem leisen Flüstern war das ungläubige Staunen herauszuhören.
Er lächelte sie an. »Ja, wir leben. Du wirst noch heute in den Staaten sein.«
Ihre Finger umschlossen schwach seine Hand, und sie sprach wieder. Er verstand nicht alles, was sie sagte, aber er erfaßte den Sinn, »… zurückkommen. Haus … an der Küste … St. Pierre.«
Dann schloß sie ihre Augen, aber ihre Finger hielten immer noch seine Hand, und er fühlte sich schon halb von der Last auf seinen Schultern befreit. Sie würde durchkommen, und sie würden Zusammensein.
***
So kehrte er zum Stützpunkt Cap Sarrat zurück und kam zu Ruhm und Ehren. Er wußte nicht, daß sein Name in Schlagzeilen durch die Weltpresse ging, daß er in hundert Sprachen als der Mann gefeiert wurde, der die Bevölkerung einer ganzen Stadt gerettet hatte – der Mann, der eine Armee vernichtet hatte. Er wußte nicht, daß ihn Ehrungen aus der Hand von weniger bedeutenden Männern erwarteten. Er wußte nicht, daß er eines Tages, als sehr alter Mann, die Menschen lehren würde, den Hurrikan – den ›großen Wind‹ – zu zähmen.
Er wußte von alldem nichts. Er empfand nur, daß er sehr müde war und daß er beruflich versagt hatte. Er wußte nicht, wie viele Soldaten in der Falle von St. Pierre umgekommen waren – viele Hunderte oder viele Tausende –, aber auch wenn nur einer umgekommen wäre, hätte es ihm genügt, um sich vor der Welt als ein Versager in seinem Beruf zu bezeichnen. Er fühlte sich elend.
David Wyatt war mit ganzem Herzen Wissenschaftler, mit dem Lauf der Dinge in der Welt nicht sehr vertraut und sehr jung für seine Jahre.