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Die Super-Constellation flog in schönem Wetter nach Südosten und ließ die in der gekräuselten See verstreuten grünen Inseln hinter sich, die Inselkette, die als Kleine Antillen bekannt ist. Weit voraus über der scharfen Linie des Atlantikhorizonts lag ihr Ziel – ein Rendezvous mit dem Unheil irgendwo nördlich des Äquators, im Atlantik zwischen Nordafrika und Südamerika. Der Pilot, Lieutenant-Commander Hansen, kannte weder die genaue Position des Ziels, noch wußte er, wann er es erreichen würde – er flog nur nach den Anweisungen eines hinter ihm sitzenden Zivilisten –, aber er hatte schon viele ähnliche Flüge ausgeführt und wußte, was von ihm erwartet wurde. Er saß bequem in seinem Sitz und überließ das Steuer Morgan, seinem Kopiloten. Der Lieutenant-Commander hatte zwölf Dienstjahre in der US-Marine und erhielt daher einen monatlichen Sold von 660 Dollar. Das entsprach bei weitem nicht dem, was er leisten mußte.
Das Flugzeug, eins der schönsten, die je konstruiert wurden, war einmal stolz auf den zivilen Strecken im Nordatlantikverkehr geflogen, bis es von den schnelleren Jets verdrängt wurde. So war die Maschine eingemottet worden, bis die Marine eine neue Verwendung für sie hatte, und jetzt trug sie also die Kennzeichen der US-Marine. Sie sah mehr mitgenommen aus, als für ein Marineflugzeug schicklich schien – die Nasenkante ihrer Tragflächen war zernarbt und eingebeult, und die als Talisman an den Bug gemalte geflügelte Wolke war abgescheuert und zerschrammt –, aber die Maschine hatte mehr solcher Einsätze geflogen als ihr Pilot, und daher war die Abnutzung verständlich.
Hansen sah am Himmel über dem Horizont die ersten Spuren von Zirruswolken in dem blassen Blau. Er legte einen Schalter um und sagte: »Ich glaube, er kommt jetzt, Dave. Irgendwelche neuen Befehle?«
Eine Stimme krächzte in seinen Kopfhörern. »Ich will mal auf dem Schirm nachsehen.«
Hansen faltete die Hände vor seinem Bauch und starrte nach vorn auf die sich verdichtenden hohen Wolken. Manchen Leuten in der Marine wäre es vielleicht zuwider gewesen, Anweisungen von einem Zivilisten entgegenzunehmen, ganz besonders von einem, der nicht einmal Amerikaner war, aber Hansen war da ganz anderer Meinung; bei diesen Einsätzen hatten weder Status noch Nationalität etwas zu sagen, solange man nur wußte, daß die Männer, mit denen man flog, ihr Handwerk verstanden und einen nicht in den Tod schickten – wenn es sich vermeiden ließ.
Hinter der Pilotenkabine war der große Raum, wo früher die Passagiere der ersten Klasse ihren Bourbon nippten und mit den Stewardessen schäkerten. Jetzt war der Raum mit Instrumenten und Männern ausgefüllt; Konsolen mit Fernmeßinstrumenten liefen in langen Bänken von vorn bis hinten, bildeten Vorsprünge und Inseln, so daß sich die drei Männer in dem Gewirr von elektronischen Geräten kaum bewegen konnten.
David Wyatt schwang sich auf seinem Drehstuhl herum und stieß mit seinem Knie hart gegen die Kante einer großen Radarkonsole. Er verzog das Gesicht; er würde es wohl nie lernen, dachte er.
Während er mit einer Hand sein Knie rieb, schaltete er das Gerät ein. Der große Bildschirm hellte sich auf und verbreitete einen geisterhaften grünen Schein um ihn, während er ihn mit fachmännischen Augen betrachtete. Nachdem er sich einige Notizen gemacht hatte, suchte er in einer Tasche nach einigen Papieren und begab sich damit zur Pilotenkabine.
Er tippte Hansen auf die Schulter, hielt ihm die Faust mit nach oben gestrecktem Daumen vors Gesicht und blickte dann nach vorn. Die schleierartigen Ausläufer der hohen Zirruswolken waren nun direkt über ihnen und gingen am Horizont in die niedrigeren Zirrostratusschichten über, und er wußte, daß sie gleich hinter der Kimm den schweren, drohenden Nimbostratus finden würden – die Regenwolke. Er sah Hansen an. »Da haben wir ihn«, sagte er lächelnd.
Hansen knurrte: »Kein Grund, ein so vergnügtes Gesicht zu machen.«
Wyatt schob ihm einige Fotos hin. »So sieht er von weiter oben aus.«
Hansen überflog die körnigen und streifigen Fotos, die von einem der Wettersatelliten zur Erde gefunkt worden waren. »Sind die von Tiros IX?«
»Ja.«
»Sie werden besser – diese sind schon recht gut«, sagte Hansen. Er verglich die Größe des weißen Wirbels mit dem Maßstab am Rande des Fotos. »Der ist nicht besonders groß; Gott sei Dank.«
»Auf die Größe kommt es nicht an«, sagte Wyatt. »Es ist das Druckgefälle – das wissen Sie doch genau. Deshalb sind wir ja hier.«
»Irgendwelche Änderungen für unseren Plan?«
Wyatt schüttelte den Kopf. »Das Übliche – wir fliegen entgegen dem Uhrzeigersinn mit dem Wind hinein. Wenn wir im Südwestquadranten sind, nehmen wir direkten Kurs auf das Zentrum.«
Hansen kratzte sich an der Wange. »Sehen Sie bloß zu, daß Sie all Ihre Messungen bei der ersten Runde schaffen! Ich möchte nicht das Ganze noch einmal fliegen.« Er machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Ich hoffe, Ihre Geräte funktionieren besser als das letzte Mal.«
Wyatt verzog sein Gesicht. »Das hoffe ich auch.« Er winkte fröhlich und ging nach hinten, um den großen Radarschirm zu beobachten. Alles war normal, nichts Außergewöhnliches – nur die übliche gefährliche Situation, die sie wieder einmal vor sich hatten. Er warf einen Blick auf die beiden Männer, die ihm unterstanden. Beide waren von der Marine, Spezialisten, die mit ihren Geräten bestens vertraut waren, und beide hatten solche Flüge schon mitgemacht und wußten, was ihnen bevorstand. Schon prüften sie den Sitz ihrer Anschnallgurte, um sich vor Abschürfungen zu bewahren, wenn sie plötzlichen unerwarteten Kräften ausgesetzt würden.
Wyatt begab sich auf seinen eigenen Platz und schnallte sich am Sitz fest. Als er den Hebel einrastete, der den Sitz am Verdrehen hinderte, gestand er sich schließlich selbst ein, daß er Angst hatte. Er empfand in diesem Stadium des Fluges immer Angst – mehr Angst sicher als sonst jemand an Bord. Weil er mehr über Hurrikane wußte, sogar mehr als Hansen; Hurrikane waren sein Beruf, seine Lebensaufgabe, und er kannte die ungeheure Kraft der Winde, die bald das Flugzeug erfassen und zu vernichten versuchen würden. Und da war noch etwas anderes, etwas Zusätzliches, Neues. Seit dem Augenblick, als er auf Cap Sarrat den weißen Klecks auf dem Satellitenfoto zum erstenmal sah, hatte er das Gefühl, daß dieser ein besonders schlimmer sein würde. Es war nichts, das er hätte analysieren oder in den kalten Symbolen und Formeln der Meteorologie zu Papier bringen können, es war etwas, das er nur tief in seinem Innern spürte.
Daher hatte er diesmal noch mehr Angst als sonst.
Achselzuckend wandte er sich seiner Arbeit zu, als der erste kleine Windstoß die Maschine schüttelte. Das grüne Abbild auf dem Radarschirm stimmte gut mit den Satellitenfotos überein, und er schaltete das Registriergerät ein, das alle Daten auf Magnetband aufnehmen sollte, damit sie im Hauptcomputer mit all den anderen Informationen verglichen werden könnten, die jetzt bald hereinkommen würden.
Hansen starrte nach vorn in das Dunkel. Die öligschwarzen Nimbostratuswolken waren in wilder Bewegung, wurden vom Wind gejagt, bauten sich auf und wurden wieder zerrissen. Er grinste Morgan mit zusammengepreßten Lippen an. »Dann wollen wir mal«, sagte er und ging in eine leichte Rechtskurve. In ruhiger Luft hätte die Super-Constellation bei dieser Gashebelstellung mit etwa 410 Kilometern pro Stunde fliegen müssen, und das zeigte der Fahrtmesser auch an, aber er wäre jede Wette eingegangen, daß ihre wahre Geschwindigkeit über dem Grund bei diesem Rückenwind näher bei 500 Kilometern lag.
Das war das Verrückte bei dieser Geschichte; die Instrumente zeigten nicht die wahre Geschwindigkeit, und es bestand keine Hoffnung, eine gültige Messung nach Bodensicht zu bekommen, denn sogar wenn die Wolken aufreißen würden – was sie nie taten –, könnte man mit einem Blick auf lediglich ein gleichförmiges Stück Ozean nichts anfangen.
Plötzlich fiel die Maschine wie ein Stein – in einem abwärts gerichteten Luftstrom –, und er riß am Steuer, während der Zeiger des Höhenmessers wie ein Kreisel tanzte. Er fing die Maschine ab und ging in den Steigflug, um seine Höhe wiederzugewinnen, und bevor er wußte, wie ihm geschah, wurde die Maschine von einer genauso heftigen Aufwärtsströmung erfaßt, und er mußte das Steuer nach vorn drücken, um nicht oben aus den Wolken ausgespuckt zu werden.
Durch das Sicherheitsglas sah er Regen und Hagel nach oben vorbeitreiben, im blauen Schein von Blitzen. Als er sich umsah, bemerkte er einen grellen, verästelten Blitz, der von der Tragflächenspitze ausging, und da wußte er, daß sie getroffen worden waren. Er wußte aber auch, daß es nichts zu sagen hatte; da würde nur ein kleines Loch von der Größe eines Nadelstiches im Metall zu finden sein, das vom Bodenpersonal verkittet werden müßte, und das war alles – außer der Tatsache, daß die Maschine und alles darin jetzt mit einigen tausend Volt elektrisch aufgeladen war, die bei der Landung zur Erde abfließen mußten.
Vorsichtig steuerte er die Constellation auf einem spiraligen Kurs tiefer in das Sturmgebiet und traf auf immer stärkere Winde. Es blitzte nun fast unaufhörlich, und die scharfen Peitschenschläge der nahen Entladungen übertönten den Lärm der Motoren. Er schaltete sein Kehlkopfmikrophon ein und rief den Bordmechaniker: »Meeker, alles okay?«
Es gab eine lange Pause, bevor Meeker antwortete. »A … es in Or … ng.« Die Worte gingen fast in atmosphärischen Störungen unter.
Hansen rief: »Fein. Halte es so!« und begann im Kopf zu rechnen. Nach den Satellitenfotos hatte er den Durchmesser des Hurrikans auf 500 Kilometer geschätzt, das ergab einen Umfang von etwa 1.600 Kilometern. Um in den südwestlichen Quadranten zu gelangen, wo die Winde am schwächsten waren und sie am sichersten in Richtung auf das Zentrum vorstoßen konnten, würde er etwa ein Drittel des Umfangs zurücklegen müssen – also etwa 530 Kilometer. Sein Fahrtmesser schwankte nun so sehr, daß die Anzeige nicht zu gebrauchen war, aber nach seinen früheren Erfahrungen schätzte er seine Grundgeschwindigkeit auf etwas über 560 Kilometer pro Stunde. Sie flogen schon seit fast einer halben Stunde im Sturmgebiet, also blieb noch eine halbe Stunde bis zum Einkurven.
Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn.
Wyatt in der Instrumentenkabine fühlte sich, als würde er grün und blau geschlagen, und er wußte, daß er nach dem Flug zu Hause auf Cap Sarrat beim Ausziehen Striemen finden würde, wo ihm die Gurte ins Fleisch schnitten. Die Kabinenbeleuchtung flackerte und flammte auf, wenn Blitze das Flugzeug trafen und das Bordnetz vorübergehend überluden, und er hoffte, daß die Instrumente diese Belastungen aushalten würden.
Er warf einen Blick auf die anderen beiden Männer. Smith hockte in seinem Sitz und ließ seinen Körper locker mitgehen, wenn die Maschine hin und her geschleudert wurde. Ab und zu stellte er einen der Knöpfe nach. Um ihn brauchte Wyatt sich keine Sorgen zu machen. Jablonskys Gesicht sah grünlich aus, und während Wyatt hinsah, drehte er sich um und übergab sich. Aber er kam schnell wieder hoch und widmete sich seiner Aufgabe. Wyatt lächelte kurz.
Er sah auf die Uhr am Instrumentenbrett und begann zu rechnen. Wenn sie in Richtung auf das Zentrum des Hurrikans einkurvten, würden sie noch etwas über 160 Kilometer zu fliegen haben, um zum ›Auge‹ zu gelangen, jener mysteriösen Ruhezone inmitten eines Meeres von tobender Luft. Sie würden mit sehr heftigen Seitenwinden zu kämpfen haben. Es würde ein rauher Flug werden, und er schätzte, daß sie fast dreiviertel Stunden brauchen würden. Aber dann würden sie Ruhe haben und sich eine Atempause gönnen können, bevor sie sich wieder in das Getümmel stürzten. Hansen würde fünfzehn Minuten lang in dieser wundervollen Stille kreisen, während Wyatt seine Aufgaben erfüllte, und sie würden sich alle ihre geschundenen Glieder reiben und sich für den Ausflug wappnen.
Sobald sie auf das Zentrum einkurvten, würden alle Instrumente in Betrieb sein, würden den Luftdruck, die Luftfeuchtigkeit und die Temperatur registrieren und all die anderen Faktoren, die dazugehören, den stärksten Sturm der Welt zu erzeugen. Während des Fluges durch den Hurrikan würden sie das fallen lassen, was Wyatt immer ihre ›Bombenlast‹ nannte – wunderliche, komplizierte Instrumentenbehälter, die sie ausstießen. Manche von ihnen wurden für etwa eine Stunde im Wind hin und her geworfen, bevor sie unten ankamen, manche fielen gleich hinunter, um auf der aufgewühlten See zu treiben, und wieder andere sollten bis auf eine vorher eingestellte Wassertiefe unter den Wellen sinken. Alle würden Funksignale aussenden, die von den komplizierten Geräten an Bord empfangen und auf Tonband aufgenommen werden konnten.
Er hielt sich an seinem Sitz fest und begann in sein Kehlkopfmikrophon zu diktieren, das an ein kleines Aufnahmegerät angeschlossen war. Er hoffte, er würde seine Stimme aus dem Lärm heraushören können, wenn er das Band zu Hause im Stützpunkt abspielte.
Eine halbe Stunde später kurvte Hansen auf das Hurrikanzentrum ein und gab Wyatt ein Klingelzeichen. Sofort spürte er einen Unterschied in den Windangriffen gegen die Maschine; es entstand eine neue Serie von Geräuschen, und die Steuerung reagierte anders unter seinen Händen. Die Constellation war schwerer zu steuern bei den Seitenwinden, die in Böen sicher bis zu 210 Kilometer pro Stunde erreichten; sie stampfte und bockte, und bald schmerzten seine Arme von den ständigen Steuerausschlägen, die zur Korrektur der Bewegungen notwendig waren. Der Kreiselkompaß hatte längst den Dienst versagt, und die Rose des Magnetkompasses tanzte wild in ihrem Gehäuse.
Wyatt und seine Mannschaft waren sehr beschäftigt. Fast taub von dem mörderischen Getöse und hin und her geschüttelt wie Würfel in einem Becher, brachten sie es doch fertig, ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Instrumentenkapseln wurden präzise in regelmäßigen Abständen abgeworfen, und die Informationen, die sie sofort zurückfunkten, wurden auf den zweieinhalb Zentimeter breiten, zweiunddreißigspurigen Magnetbändern gespeichert, über denen Smith und Jablonsky angespannt hockten. In den Pausen zwischen den Abwürfen setzte Wyatt die Aufnahme seiner laufenden Anmerkungen auf seinem eigenen Tonbandgerät fort; er wußte, daß dieseAngaben subjektiv und für Analysen nicht zu verwenden waren, aber er legte Wert auf sie zur eigenen Information und um sie später mit dem Zahlenmaterial vergleichen zu können.
Er war erleichtert, als der Lärm auf einmal mit fast niederschmetternder Plötzlichkeit aufhörte und er daran erkannte, daß sie zum Auge des Hurrikans durchgestoßen waren. Die Maschine hörte auf zu bocken und schien durch die Luft zu gleiten. Der Lärm der Motoren erschien ihm nach dem Tosen des Sturms wie der friedvollste Klang, den er je gehört hatte. Steif und benommen löste er die Schnallen der Gurte und fragte: »Wie stehen die Dinge?«
Smith wackelte mit der Hand. »Soso. Durchschnittlich. Keine Feuchtigkeitswerte von Nummer vier; keine Lufttemperatur von Nummer sechs; keine Wassertemperatur von Nummer sieben.« Er schnitt eine Grimasse. »Kein Pieps von Nummer drei, und von den Senkern funktioniert überhaupt keiner.«
»Diese verfluchten Senker!« sagte Wyatt ärgerlich. »Ich habe schon immer gesagt, das System ist zu verdammt kompliziert. Wie sieht's bei Ihnen aus, Jablonsky? Wie steht es mit den direkten Messungen?«
»Alles in Ordnung bei mir«, sagte Jablonsky.
»Bleiben Sie dran!« sagte Wyatt. »Ich will mit dem Skipper reden.« Er ging nach vorn in die Pilotenkabine, wo Hansen seine Arme massierte, während Morgan die Maschine in einem engen Kreis flog. Hansen lächelte schwach.
»Dies ist ein böser Bursche«, sagte er. »Viel zu ruppig für ein Muttersöhnchen wie mich. Wie steht's bei Ihnen?«
»Die übliche Zahl von Versagern – war zu erwarten. Aber keiner von den Senkern hat funktioniert.«
»Haben sie das jemals?«
Wyatt lächelte bedauernd. »Es ist etwas zuviel verlangt, nicht?« sagte er. »Wir werfen mitten in einem Hurrikan eine äußerst komplizierte Instrumentenkapsel in die See und lassen sie auf eine vorher eingestellte Tiefe sinken. Sie schickt Sonarsignale aus, die von einer ebenso komplizierten schwimmenden Kapsel aufgenommen, in Funkwellen umgewandelt und von uns empfangen werden sollen. Da ist ein Glied zuviel in dieser Kette. Wenn wir nach Hause kommen, werde ich einen Bericht darüber schreiben – wir werfen zuviel Geld ins Wasser, ohne einen entsprechenden Nutzen davon zu haben.«
»Wenn wir nach Hause kommen sollten«, sagte Hansen. »Das Schlimmste liegt noch vor uns. Ich habe noch nie so starke Winde im Südwestquadranten erlebt, und auf unserem Weg nach Norden wird es noch verdammt viel schlimmer.«
»Wir können uns den Rest schenken, wenn Sie wollen«, bot Wyatt an. »Wir können auf dem gleichen Weg wieder ausfliegen.«
»Würde ich gern tun, wenn ich könnte«, sagte Hansen barsch. »Aber wir haben nicht genug Sprit, um wieder den ganzen Weg rundherum zu fliegen. Wir werden uns also auf dem kürzesten Weg durchboxen, und Sie können die andere Hälfte der Ladung abwerfen, wie geplant – aber es wird eine höllisch ungemütliche Tour werden.« Er blickte auf. »Dies ist ein wirklich schlimmer Bursche, Dave.«
»Ich weiß«, sagte Wyatt. »Geben Sie mir ein Signal, wenn Sie bereit sind weiterzufliegen!« Er kehrte in die Instrumentenkabine zurück.
Es dauerte nur fünf Minuten, bis das Klingelzeichen kam, und da wußte er, daß Hansen wirklich nervös war, denn sonst hielt er sich gewöhnlich viel länger im Auge auf. Er schnallte sich schnell wieder an und spannte seine Muskeln an in Erwartung dessen, was kommen sollte. Hansen hatte recht gehabt – dies war ein wirklich schlimmer, er war klein, eng und bösartig. Er war gespannt zu erfahren, wie groß das Druckgefälle war, das solche Windgeschwindigkeiten anfachte.
Wenn das eben Erlebte das Fegefeuer war, dann war das Jetzige die reine, unverfälschte Hölle. Der ganze Körper der Constellation knarrte und ächzte unter den Schlägen, denen er ausgesetzt war; Dutzende Lecks entstanden in der Außenhaut, und eine Zeitlang fürchtete Wyatt, es könnte wirklich zuviel werden. Daß die Tragflächen abbrechen könnten, trotz der besonderen Verstärkungen, und sie in die kochende See stürzen würden. Er wurde von Wasser belästigt, das ihm in den Nacken rann, aber er schaffte es, den Rest der Instrumentenkapseln mit der gleichen Präzision abzuwerfen.
Fast eine Stunde lang hatte Hansen mit dem Sturm gekämpft, und dann, gerade als er meinte, er könnte es nicht mehr länger aushalten, wurde die Maschine aus den Wolken herausgeschleudert, ausgespuckt, wie man einen Orangenkern ausspuckt. Er winkte Morgan, das Steuer zu übernehmen, und sackte in seinem Sitz zusammen.
Als das Schütteln nachließ, machte Wyatt Bestandsaufnahme. Die Hälfte von Jablonskys Geräten war ganz ausgefallen, die Skalen standen auf Null. Glücklicherweise hatten die Bandaufnahmegeräte durchgehalten, so daß nicht alles verloren war. Smiths Bericht war noch trauriger – nur von drei aus einem runden Dutzend Kapseln hatte er Signale erhalten, und die waren nach etwa der halben Flugstrecke plötzlich abgerissen, als das Aufnahmegerät unter Funkenstieben aus seiner Halterung gerissen worden war.
»Macht nichts«, sagte Wyatt philosophisch. »Wir sind durchgekommen.«
Jablonsky wischte das Wasser auf seinem Arbeitsplatz auf. »Das war verflucht ruppig. Noch so einen, und ich lasse mich auf einen Büroposten versetzen.«
Smith knurrte: »Ich mit.«
Wyatt grinste sie an. »Sie werden nicht so schnell noch so einen finden«, sagte er. »Das war der schlimmste, den ich bei dreiundzwanzig Einsätzen erlebt habe.«
Er ging nach vorn zur Pilotenkabine, und Jablonsky sah ihm nach. »Dreiundzwanzig Einsätze! Der Kerl muß verrückt sein. Mehr als zehn mache ich nicht mit – nur noch zwei weitere.«
Smith rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht hat er das Todesverlangen – Sie wissen doch, Psychologie und all das. Oder vielleicht ist er in Hurrikane verliebt. Aber er hat Mumm, das muß man ihm lassen – ich habe noch nie einen Mann mit einer solchen Ruhe gesehen.«
In der Pilotenkabine sagte Hansen müde: »Ich hoffe, Sie haben alles. Ich möchte nicht gern noch einmal da hindurch.«
»Es wird wohl ausreichen«, sagte Wyatt. »Aber ich kann es erst mit Bestimmtheit sagen, wenn wir zu Hause sind. Wann wird das sein?«
»Drei Stunden«, sagte Hansen.
Plötzlich gab es eine Veränderung in dem gleichmäßigen Dröhnen, und der linke Außenmotor zog eine schwarze Rauchfahne hinter sich her. Hansens Hand flog blitzschnell zu den Gashebeln. Dann stellte er die Luftschraube auf Segelstellung. »Meeker«, brüllte er, »was ist los?«
»Weiß nicht«, sagte Meeker. »Aber ich schätze, er will nicht mehr. Fast kein Öldruck mehr.« Er machte eine Pause. »Ich hatte schon vor einiger Zeit einige Sorgen mit ihm, aber ich nahm an, du warst zu der Zeit nicht scharf darauf, es zu hören.«
Hansen stieß einen langen Seufzer aus. »Jesus!« sagte er ehrfürchtig und ohne Absicht zu fluchen. Er sah Wyatt an. »Sagen wir, fast vier Stunden.«
Wyatt nickte schwach und lehnte sich gegen die Schottwand. Er spürte, wie sich die Knoten in seinem Magen lösten, und merkte, daß er am ganzen Körper zitterte, jetzt, da es vorbei war.
***
Wyatt saß an seinem Schreibtisch, gelockert und ruhig. Es war noch früh am Morgen, und die Sonne hatte noch nicht die Kraft, die sie im Laufe des Tages entwickeln würde, so war alles noch frisch und neu. Wyatt fühlte sich wohl. Nach seiner Heimkehr am vorherigen Nachmittag hatte er dafür gesorgt, daß seine wertvollen Bandaufnahmen zu den Computerleuten gelangten, und dann hatte er sich dem Genuß eines heißen Bades hingegeben, das alle Schmerzen aus seinem geschundenen Körper herausgelaugt hatte. Und am Abend hatte er mit Hansen ein paar Biere getrunken.
Jetzt in dem frischen Morgenlicht fühlte er sich erholt. Er ging mit Lust an seine Arbeit, obwohl er, während er den Stapel Zahlentabellen zu sich heranzog, schon wußte, daß er unerfreuliche Tatsachen herausfinden würde. Er arbeitete stetig den ganzen Vormittag und verwandelte die Zahlen in ausdrucksvolle Linien in einer Wetterkarte – das Skelett der Wirklichkeit, die Abstraktion eines Hurrikans. Als er die Karte fertig hatte, sah er sie geistesabwesend an und heftete sie dann an ein großes Brett an der Wand seines Büros.
Er hatte gerade begonnen, ein Formular auszufüllen, als das Telefon klingelte. Sein Herz hüpfte, als er die noch nicht vergessene Stimme hörte. »Julie!« rief er aus. »Was machst du hier?«
Die Wärme ihrer Stimme siegte über die Elektronik. »Eine Woche Urlaub«, sagte sie. »Ich war in Puerto Rico, und ein Bekannter hat mich von dort in seinem Flugzeug mitgenommen.«
»Wo bist du denn jetzt?«
»Ich habe mich gerade im Imperiale angemeldet, ich wohne hier. Mann, was für ein Stall!«
»Es ist das Beste, was wir zu bieten haben, bis Conrad Hilton hier baut – und wenn er bei Verstand ist, tut er das nicht«, sagte Wyatt. »Es tut mir leid, du kannst nicht gut in den Stützpunkt kommen.«
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Julie. »Wann sehe ich dich?«
»O Schreck!« sagte Wyatt ärgerlich. »Ich werde den ganzen Tag arbeiten müssen. Es wird erst heute abend sein. Könnten wir zusammen zum Essen gehen?«
»Ja, fein«, sagte sie, und Wyatt meinte, eine Spur von Enttäuschung herausgehört zu haben. »Vielleicht könnten wir in den Maraca Club gehen – wenn es ihn noch gibt.«
»Er existiert noch, obwohl es mir ein Rätsel ist, wie Eumenides das macht.« Wyatts Blick ging zur Uhr. »Also, Julie, ich muß mich schrecklich beeilen, wenn ich den Abend freinehmen will; es tut sich augenblicklich allerhand bei mir.«
Julie lachte. »Schon gut; kein langes Schwatzen am Telefon. Plaudern wir lieber, wenn wir zusammen sind. Also bis heute abend!«
Sie hängte ein, und Wyatt legte den Hörer langsam zurück. Dann drehte er sich mit seinem Stuhl gegen das Fenster, durch das er über die Santego Bay auf St. Pierre sehen konnte. Julie Marlowe! dachte er, noch ganz erstaunt. Also so etwas! Er konnte das Imperiale in dem unordentlichen Häuserhaufen, der St. Pierre darstellte, so eben erkennen, und ein Lächeln spielte um seinen Mund. Er kannte sie noch nicht lange, eigentlich nicht. Sie war Stewardeß bei einer Fluglinie, die zwischen Florida und den karibischen Inseln verkehrte, und er war durch einen Zivilpiloten, einen Freund von Hansen, mit ihr bekanntgemacht worden. Es war schön gewesen, solange es dauerte – San Fernandez hatte auf ihrer Strecke gelegen, und sie hatten sich zweimal in der Woche getroffen. Sie hatten drei schöne Monate gehabt. Dann war es plötzlich vorbei, als die Fluggesellschaft zu dem Schluß kam, die Regierung von San Fernandez, speziell Präsident Serrurier, mache ihr das Leben zu schwer. Sie strichen St. Pierre von ihrem Flugplan.
Wyatt dachte nach. Das war zwei Jahre her – nein, schon fast drei Jahre. Er und Julie hatten einander zuerst regelmäßig geschrieben, aber im Laufe der Zeit waren ihre Briefe seltener geworden und die Zwischenräume länger. Eine Freundschaft durch Briefe zu erhalten ist schwierig, besonders zwischen Mann und Frau, und er hatte jeden Augenblick damit gerechnet, daß sie ihm mitteilen würde, sie habe sich verlobt – oder verheiratet –, und das wäre praktisch das Ende der Geschichte gewesen.
Er warf den Kopf herum und sah auf die Uhr. Dann drehte er sich zu seinem Schreibtisch und nahm sich das Formular wieder vor. Er war fast fertig, als Schelling, der ranghöchste Marinemeteorologe im Stützpunkt von Cap Sarrat, hereinkam. »Hier ist das Neueste von Tiros über Ihren Schützling«, sagte er und warf eine Serie Fotos auf den Schreibtisch.
Wyatt griff nach ihnen, und Schelling sagte: »Hansen erzählte mir, Sie seien ziemlich durchgeschüttelt worden.«
»Er hat nicht übertrieben. Sehen Sie sich das an!« Wyatt zeigte auf die Karte an der Wand.
Schelling ging zu der Tafel hinüber und spitzte seine Lippen zu einem Pfeifen. »Sind Sie sicher, daß Ihre Instrumente richtig funktioniert haben?«
Wyatt stellte sich neben ihn. »Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln.« Er zeigte mit dem Finger. »870 Millibar im Auge – das ist der niedrigste Druck, den ich bisher irgendwo angetroffen habe.«
Schellings geschulte Blicke gingen über die Karte. »Hoher Druck am Rande – 1.040 Millibar.«
»Ein Druckgefälle von 170 Millibar über eine Strecke von weniger als 240 Kilometer – das gibt kräftige Winde.« Wyatt zeigte auf den nördlichen Teil des Hurrikangebiets. »Nach der Theorie müßten hier Windgeschwindigkeiten bis zu 270 Kilometer pro Stunde herrschen. Nachdem ich durchgeflogen bin, habe ich keinen Grund, es zu bezweifeln – Hansen auch nicht.«
Schelling sagte: »Das ist ein schlimmer Bursche.«
»Das ist er gewiß«, sagte Wyatt kurz und setzte sich hin, um die Tirosfotos zu studieren. Schelling sah ihm über die Schultern. »Er scheint sich etwas zusammengezogen zu haben«, sagte er. »Das ist merkwürdig.«
»Das macht es noch schlimmer«, sagte Schelling düster. Er legte zwei Fotos nebeneinander auf den Tisch. »Er zieht aber nicht sehr schnell.«
»Ich hatte als Verlagerungsgeschwindigkeit dreizehn Kilometer pro Stunde errechnet – etwas mehr als dreihundert Kilometer pro Tag. Wir sollten das lieber überprüfen, es ist wichtig.« Wyatt zog eine Rechenmaschine heran, und nachdem er einige Zahlenwerte auf den Fotos geprüft hatte, hämmerte er auf die Tasten. »Das stimmt ungefähr; etwas weniger als 320 Kilometer in den letzten vierundzwanzig Stunden.«
Schelling stieß in einem erleichterten Seufzer den Atem aus. »Na, das geht ja noch. Bei dieser Geschwindigkeit braucht er noch zehn Tage, bevor er die Ostküste der Staaten erreicht, und sie leben ja gewöhnlich nicht länger als eine Woche. Das wäre, wenn er in gerader Richtung zöge – was er nicht tun wird. Die Coriolis-Kraft wird ihn in der üblichen Parabelkurve nach Osten ablenken, und ich schätze, er wird sich irgendwo im Nordatlantik totlaufen, wie die meisten.«
»Da sind zwei Fehler drin«, sagte Wyatt kurz. »Niemand weiß, ob er nicht schneller wird. Dreizehn Kilometer in der Stunde ist verdammt langsam für eine Zyklone in diesen Breiten – der Durchschnitt liegt bei vierundzwanzig Kilometern pro Stunde – daher ist es sehr wahrscheinlich, daß er lange genug lebt, um die Staaten zu erreichen. Und was den Coriolis-Effekt angeht, da wirken Kräfte auf einen Hurrikan ein, die ihn ohne weiteres aufheben können. Ich bin der Meinung, daß ein hoher Strahlstrom eine Menge dazu beitragen kann, einen Hurrikan abzulenken, und wir wissen verdammt wenig über Strahlströme und wann sie auftreten.«
Schelling machte wieder ein betrübtes Gesicht. »Das Wetteramt wird nicht sehr froh sein. Wir müssen es ihnen wohl lieber melden.«
»Das ist die andere Geschichte«, sagte Wyatt, indem er das Formular von seinem Tisch aufhob. »Ich werde meinen Namen nicht unter diesen neuesten bürokratischen Unsinn setzen. Sehen Sie sich einmal diese letzte Forderung an – ›Geben Sie Lebensdauer und erwartete Zugrichtung des Hurrikans an!‹ Ich bin doch kein Wahrsager.«
Schelling machte ein ungeduldiges Geräusch mit seinen Lippen. »Ach, sie wollen doch nur eine Vorhersage nach der gängigen Theorie – damit geben sie sich zufrieden.«
»Was wir an Theorie haben, füllt keinen Fingerhut«, sagte Wyatt. »Nicht die Art von Theorie, die dafür nötig ist. Wenn wir eine Vorhersage auf dieses Formular setzen, wird irgendein Beamter beim Wetteramt sie für Gottes Wort halten – die Wissenschaftler haben es gesagt, also ist es so –, und es könnte viele Leute das Leben kosten, wenn die Wirklichkeit mit der Theorie nicht übereinstimmen sollte. Denken Sie an Ione im Jahre 1955 – er änderte seine Richtung siebenmal in zehn Tagen und lief genau in die Mündung des St. Lawrence-Stroms, oben in Kanada. Er hielt alle Wetterleute in Trab und kümmerte sich kein bißchen um unsere Theorien. Ich setze meinen Namen nicht unter dieses Formular.«
»Na schön, dann tue ich es«, sagte Schelling ungehalten. »Wie heißt denn dieser?«
Wyatt sah auf einer Liste nach. »Wir haben es dieses Jahr schon recht weit gebracht. Der letzte war Laura – also muß dieser Mabel heißen.« Er blickte auf. »Oh, noch etwas. Wie ist es mit den Inseln?«
»Die Inseln? Oh, wir werden ihnen die übliche Warnung schicken.«
Als Schelling sich umdrehte und das Büro verließ, warf ihm Wyatt einen Blick hinterher, der schon fast Abscheu ausdrückte.
***
An diesem Abend fuhr Wyatt die vierundzwanzig Kilometer rund um die Santego Bay nach St. Pierre, der Hauptstadt von San Fernandez. Hauptstadt war etwas zuviel gesagt, aber die Insel war ja auch nicht groß. Er fuhr in der Dämmerung an den vertrauten Bananen- und Ananaspflanzungen vorbei und an den ebenso vertrauten Insulanern am Straßenrand – die Männer in dunklen und schmutzigen Baumwollhemden und Blue Jeans, die Frauen in hellen geblümten Kleidern und mit grellfarbenen Kopftüchern, und alle lachend und schnatternd wie gewöhnlich, weiße Zähne und glänzende dunkle Gesichter im Licht der untergehenden Sonne. Wie gewöhnlich fragte er sich, warum sie immer so einen glücklichen Eindruck machten.
Sie hatten wenig Grund, glücklich zu sein. Die meisten litten unter grauenhafter Armut, die ihre örtlichen Ursachen in der Überbevölkerung und der schlechten Bodennutzung hatte. Früher einmal, im achtzehnten Jahrhundert, war San Fernandez reich an Zucker und Kaffee gewesen, ein Reichtum, um den sich die europäischen Kolonialmächte rauften. Aber in einem günstigen Augenblick, als ihre Herren anderweitig beschäftigt waren, hatten sich die Sklaven erhoben und ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
Das war vielleicht gut – vielleicht auch nicht. Gewiß, die Sklaven waren frei, aber eine Serie von blutigen Bürgerkriegen, die von rücksichtslosen Machtpolitikern angezettelt wurden, schwächte die Wirtschaftskraft von San Fernandez, und der Geburtenüberschuß tat das übrige dazu. Was blieb, war ein ungebildetes Bauernvolk, das sich auf briefmarkengroßen Fleckchen Land mühselig ernährte und fast nur auf Tauschhandel angewiesen war. Man sagte, daß manche Leute im zentralen Bergland noch nie in ihrem Leben ein Geldstück gesehen hatten.
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schienen sich die Verhältnisse zunächst zu bessern. Eine stabile Regierung hatte ausländisches Kapital angelockt, und Bananen und Ananas hatten die Stelle des Kaffees eingenommen, während die Anbauflächen für Zuckerrohr enorm vergrößert wurden. Das waren die guten Zeiten. Der Lohn auf den Plantagen der Amerikaner war wohl niedrig, aber er stellte ein regelmäßiges Einkommen dar, und der ständige Zustrom von Geld wirkte sich belebend auf die Insel aus. Das war die Zeit, da das Imperiale gebaut wurde und St. Pierre sich über die alten Stadtgrenzen hinaus ausdehnte.
Aber San Fernandez schien in dem Kreislauf seiner eigenen Geschichte gefangen zu sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam Serrurier, der selbsternannte ›Schwarze Star‹ der Antillen, der in einem blutigen Staatsstreich die Macht an sich riß und durch ebenso blutige Regierungsmethoden verteidigte, indem er mit Hilfe von abhängigen Gerichten, mit Mord und Armeegewalt regierte. Er hatte keine Gegner – er hatte sie alle umgebracht –, und es gab nur eine Macht auf der Insel: die schwarze Faust von Serrurier.
Und dabei konnten die Leute immer noch lachen!
St. Pierre war ein schäbiges Städtchen aus leicht gebauten Ziegelhäusern, Wellblech und abblätternden Wänden, und über allem lag ein durchdringender Geruch nach verrottetem Obst, faulenden Fischen, menschlichen und tierischen Exkrementen und Schlimmerem. Der Gestank war allgegenwärtig. Er durchwehte die übleren Teile der Stadt stark und war manchmal sogar in der Halle des Imperiale noch wahrnehmbar, in dem heruntergekommenen Zeugen einer besseren Vergangenheit.
Als Wyatt sich in dem schlecht erleuchteten Raum umsah, wußte er, daß das Elektrizitätswerk der Stadt wieder einmal Schwierigkeiten hatte, und er erkannte Julie in dem Dämmerlicht erst, als sie winkte. Sie saß mit einem anderen Mann an einem Tisch, und es kam ihm plötzlich ein unsinniges deprimierendes Gefühl, das sich erst wieder legte, als er die Wärme in ihrer Stimme hörte.
»Hallo, Dave! Ich freue mich so, dich wiederzusehen. Das hier ist John Causton – er wohnt auch hier. Er war in meiner Maschine auf dem Flug von Miami nach San Juan, und hier haben wir uns wiedergetroffen.«
Wyatt stand unsicher da und erwartete, daß Julie sich von Causton verabschieden würde. Als sie aber nichts sagte, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen.
Causton sagte: »Miß Marlowe hat mir alles über Sie erzählt – und da ist etwas, was ich mir nicht erklären kann. Wie kommt ein Engländer dazu, hier für die US-Navy zu arbeiten?«
Wyatt warf einen Blick zu Julie und musterte dann Causton, bevor er antwortete. Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem viereckigen Gesicht, angegrauten Schläfen und klugen braunen Augen. Er war selbst Engländer, wie seine Aussprache verriet, aber man hätte sich durch seinen Palm-Beach-Anzug täuschen lassen können. »Zunächst einmal bin ich kein Engländer«, sagte Wyatt bedächtig. »Ich bin Westinder – wir sind schließlich nicht alle schwarz, wissen Sie. Ich bin auf St. Kitts geboren, verlebte meine Kindheit auf Grenada und ging in England zur Schule. Was die US-Navy anbetrifft, ich arbeite nicht für sie, sondern mit ihnen – das ist ein kleiner Unterschied. Ich bin vom Meteorological Office geliehen.«
Causton lächelte freundlich. »Das erklärt es.«
Wyatt sah Julie an. »Wie wäre es mit einem Drink vor dem Essen?«
»Das ist eine gute Idee. Was trinkt man am besten auf San Fernandez?«
»Vielleicht kann uns Mr. Wyatt zeigen, wie man das landesübliche Getränk zubereitet – Planter's Punch«, sagte Causton. Seine Augen funkelten.
»Oh, ja – tu das!« rief Julie. »Ich habe schon immer gern einmal Planter's Punch in der richtigen Umgebung trinken wollen.«
»Ich glaube, von dem Getränk wird zuviel Wesens gemacht«, sagte Wyatt. »Ich selbst würde Scotch vorziehen. Aber wenn du Planter's Punch möchtest, sollst du ihn haben.« Er rief einen Kellner und bestellte in dem vermanschten Französisch, das die Umgangssprache der Insel darstellte, und bald standen die Zutaten auf dem Tisch.
Causton zog ein Notizbuch aus seiner Brusttasche. »Ich möchte mir's aufschreiben, wenn ich darf. Vielleicht kann ich es einmal brauchen.«
»Das ist nicht notwendig«, sagte Wyatt. »Es gibt einen kleinen Spruch, den man nicht wieder vergißt, wenn man ihn einmal gehört hat. Er geht so:
Eins vom Sauren,
Zwei vom Süßen,
Drei vom Starken,
Vier vom Schwachen.
Er reimt sich nicht, aber man behält ihn. Das Saure ist der Saft von frischen Limonen, das Süße ist Zuckersirup, das Starke ist Rum – Martinique-Rum ist am besten –, und das Schwache ist Eiswasser. Der Spruch gibt die Mengenverhältnisse an.«
Während er sprach, war er damit beschäftigt, die Zutaten abzumessen und in der großen Silberterrine in der Mitte des Tisches zu mixen. Seine Hände arbeiteten mechanisch, und er beobachtete Julie dabei. Sie hatte sich nicht verändert, außer daß sie noch hübscher geworden war, aber vielleicht kam ihm das nur so vor, weil die lange Trennung die Liebe vertieft hatte. Er blickte auf Causton und überlegte, was er mit ihr zu tun hatte.
»Wenn man nach Martinique kommt«, sagte er, »kann man in jeder Bar seinen eigenen Planter's Punch mixen. Dort gibt es so viel Rum, daß er gar nicht berechnet wird – man zahlt nur für den Limonensaft und den Sirup.«
Causton schnupperte. »Riecht interessant.«
Wyatt lächelte. »Rum riecht immer ein wenig muffig.«
»Warum haben wir das nie früher gemacht, Dave?« fragte Julie. Sie blickte interessiert in die Terrine.
»Du hast mich nie darum gebeten.« Wyatt rührte noch einmal um. »So, das wär's. Manche Leute tun noch eine Menge Salat hinein, wie in einen Fruchtbecher, aber mir liegt nichts an Getränken, die man essen muß.« Er schöpfte eine Kelle voll aus. »Julie?«
Sie hielt ihr Glas hin und ließ es sich füllen. Er füllte auch die anderen Gläser und sagte dann: »Willkommen in der karibischen Inselwelt, Mr. Causton!«
»Er schmeckt wundervoll«, sagte Julie. »So süffig.«
»Süffig und stark«, sagte Wyatt. »Du würdest nicht viele davon brauchen, um in die Tischbeine zu beißen.«
»Das wäre kein schlechter Auftakt für den Abend«, sagte Julie. »Sogar der Maraca Club würde mir dann schön erscheinen.« Sie wandte sich an Causton. »Das ist überhaupt eine Idee – kommen Sie doch mit uns!«
»Vielen Dank«, sagte Causton. »Ich hatte wirklich schon überlegt, was ich heute abend anfangen sollte. Ich hatte gehofft, daß Mr. Wyatt als ein alter Insulaner mir einige Tips geben könnte, was ich mir hier auf San Fernandez ansehen könnte.«
Wyatt sah Julie verständnislos an und sagte dann höflich: »Mit Vergnügen.« Er fühlte sich niedergedrückt. Er hatte gehofft, daß es sie zu ihm nach San Fernandez gezogen hatte, aber anscheinend flirtete Julie auch gern mit anderen. Aber warum zum Donnerwetter war sie dazu bis nach San Fernandez gekommen?
Es stellte sich heraus, daß Causton Auslandskorrespondent einer großen Londoner Tageszeitung war, und während des Essens unterhielt er sie mit einem atemberaubenden Bericht einiger seiner Erlebnisse. Dann gingen sie zum Maraca, dem Besten, was St. Pierre an Nachtklubs zu bieten hatte. Er wurde von einem Griechen geführt, Eumenides Papegaikos, der eine dürftige südamerikanische Atmosphäre mit einem Minimum an Service zu höchstmöglichen Preisen bot; aber außer dem Offiziersklub im Stützpunkt auf Cap Sarrat war er die einzige Möglichkeit für einen zivilisierten Abend, und das Leben im Stützpunkt hing einem schließlich einmal zum Hals heraus.
Als sie den raucherfüllten, trübe beleuchteten Raum betraten, winkte jemand. Wyatt winkte zurück, als er Hansen erkannte, der mit seiner Besatzung einen hob. Am anderen Ende des Raumes schwadronierte ein Amerikaner aus vollem Hals, und sogar aus dieser Entfernung konnte man leicht hören, daß er eingehend über seine neuesten Abenteuer als Sportfischer berichtete. Sie fanden einen Tisch, und während Causton Getränke bestellte, in einwandfreiem und flüssigem Französisch, das der Kellner nicht verstand, forderte Wyatt Julie zum Tanz auf.
Sie hatten immer gut miteinander getanzt, aber diesmal schien etwas Steifes und eine gewisse Spannung zwischen ihnen zu liegen. Es war nicht die Schuld der Kapelle, so schlecht sie auch war, denn während sich die Melodie zwar fürchterlich anhörte, stimmte der Rhythmus einwandfrei. Sie tanzten eine Weile schweigend, und dann sah Julie ihn an und sagte leise: »Hallo, Dave! Hast du in letzter Zeit einen schönen Hurrikan gesehen?«
»Hat man einen gesehen, kennt man sie alle«, sagte er leichthin. »Und du?«
»Etwa dasselbe. Ein Flug ist wie der andere. Die gleichen Orte, die gleiche Luft, die gleichen Passagiere. Ich möchte manchmal schwören, daß Luftreisende einer anderen Rasse angehören als wir gewöhnlichen Menschen; wie Dawson – der Mann dort drüben.«
Wyatt hörte die rauhe Stimme, die unaufhörlich ihr Garn spann. »Kennst du ihn?«
»Kennst du ihn nicht?« fragte sie überrascht. »Das ist Dawson, der Schriftsteller – Big Jim Dawson. Jeder kennt ihn. Er ist ein regelmäßiger Passagier auf meinen Strecken, und er ist ein ziemliches Ekel.«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Wyatt. Julie hatte recht – es konnte keinen Ort auf der Welt geben, wo man noch nichts von Big Jim Dawson gehört hatte. Er galt als recht guter Schriftsteller, obwohl Wyatt selbst sich nicht in der Lage fühlte, das zu beurteilen; auf alle Fälle schienen die Kritiker dieser Meinung zu sein.
Er sah auf Julie herab und sagte: »Du scheinst Causton nicht für ein Ekel zu halten.«
»Ich mag ihn. Er ist einer dieser höflichen, unerschütterlichen Engländer, von denen man immer liest, – du weißt, die Stillen mit den verborgenen Tiefen.«
»Ist er einer deiner regelmäßigen Passagiere?«
»Ich habe ihn auf meinem letzten Flug zum erstenmal gesehen. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn hier auf San Fernandez zu treffen.«
»Du hast dir bestimmt alle Mühe gegeben, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen.«
»Das war nur Gastfreundschaft – Sorge für einen Fremden in einem fremden Land.« Julie sah mit einem schalkhaften Funkeln in ihren Augen zu ihm auf. »Na, Mr. Wyatt, ich glaube gar, du bist eifersüchtig.«
»Ich wäre es vielleicht«, sagte Wyatt kurz, »wenn ich ein Recht dazu hätte.«
Julie senkte ihre Augen und wurde ein wenig blaß. Sie tanzten steif und schweigend, bis das Stück zu Ende war, und wollten zum Tisch zurückgehen. Aber Julie wurde von dem übersprudelnden Hansen weggeschnappt. »Julie Marlowe! Was machen Sie denn in diesem elenden Nest? Ich raub' sie Ihnen, Dave, ich bringe sie unbeschädigt zurück.« Er schleppte sie in einem komisch übertriebenen Rumba auf die Tanzfläche, und Wyatt kehrte bedrückt zu Causton zurück.
»Starkes Zeug«, sagte Causton und hielt die Flasche ins Licht. Er schwenkte sie. »Nehmen Sie einen?«
Wyatt nickte. Er sah zu, wie Causton sein Glas füllte, und fragte dann unvermittelt: »Sind Sie geschäftlich hier?«
»Guter Gott, nein!« sagte Causton. »Ich hatte eine Woche Urlaub zugute, und da ich gerade in New York war, flog ich hier herunter.«
Wyatt warf einen Blick auf Caustons intelligente Augen und überlegte, wieviel davon wohl Wahrheit war. Er sagte: »Es wird hier nicht viel geboten für einen Urlaub; Sie hätten lieber nach den Bermudas fliegen sollen.«
»Möglich«, sagte Causton unverbindlich. »Erzählen Sie mir etwas über San Fernandez! Hat es eine Geschichte?«
Wyatt lächelte säuerlich. »Genau wie jede andere der karibischen Inseln – bloß ein bißchen mehr noch. Zuerst war die Insel spanisch, dann englisch und schließlich französisch. Die Franzosen hinterließen den tiefsten Eindruck – Sie merken es an der Sprache –, obwohl Sie Einwohner treffen können, die St. Pierre noch heute San Pedro oder Peter's Port nennen und die Sprache so stark vermischt ist wie kaum eine andere.«
Causton nickte bestätigend und dachte an seine eben erlebten Schwierigkeiten mit dem Kellner.
Wyatt sagte: »Als Toussaint und Christophe die Franzosen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aus Haiti hinauswarfen, taten die Inselbewohner hier das gleiche, obzwar man davon nicht viel gehört hat.«
»Hm«, machte Causton. »Und wie kam der amerikanische Stützpunkt hierher?«
»Das passierte um die Jahrhundertwende«, sagte Wyatt. »Etwa um die Zeit, als die Amerikaner anfingen, sich ihres Bizeps bewußt zu werden. Sie hielten sich für stark genug, der Monroe-Doktrin Nachdruck zu verleihen, und sie hatten eben zwei Kriege geführt, die es bewiesen. Man redete viel von Interessensphäre, und die Yankees bildeten sich ein, wie ein großer Bruder die Leute hier unten beaufsichtigen zu müssen. Auf San Fernandez ging es 1905 ziemlich drunter und drüber, mit Aufständen und Revolution, also wurde die Marineinfanterie an Land gesetzt. Die Insel war bis 1917 unter amerikanischer Verwaltung, und dann zogen die Amerikaner ab – aber sie behielten Cap Sarrat.«
»Passierte auf Haiti nicht etwas Ähnliches?«
»Es passierte den meisten Inselstaaten – Kuba, Haiti und der Dominikanischen Republik.«
Causton grinste. »Der Dominikanischen Republik ist es mehr als einmal passiert.« Er nippte von seinem Glas. »Ich nehme an, über Cap Sarrat existiert irgendein Vertrag?«
»Ich glaube, so könnte man es nennen«, gab Wyatt zu. »Die Amerikaner pachteten die Halbinsel 1906 für tausend Golddollar pro Jahr – keine schlechte Summe für die damaligen Zeiten –, aber die Geldentwertung hat nicht für San Fernandez gearbeitet. Präsident Serrurier erhält jetzt 1.693 Dollar.« Wyatt machte eine Pause. »Und zwölf Cent«, fügte er dann hinzu.
Causton lachte. »Kein schlechter Handel für die Amerikaner – ein bißchen hart allerdings.«
»Sie haben es mit dem Stützpunkt Guantanamo auf Kuba genauso gemacht«, sagte Wyatt. »Castro bekommt zweimal soviel – aber ich glaube, er hätte lieber Guantanamo und keine Amerikaner.«
»Das glaube ich auch.«
»Die Marine versucht, Cap Sarrat als Ersatz für Guantanamo auszubauen, für den Fall, daß Castro ungemütlich wird und es ihnen nimmt. Ich halte das für möglich.«
»Durchaus«, sagte Causton. »Ich glaube nicht, daß er es ihnen einfach mit Gewalt wegnehmen könnte, aber ein bißchen Erpressung bei geeigneten politischen Verhältnissen könnte ausreichen.«
»Na, und hier haben wir Cap Sarrat«, sagte Wyatt. »Aber es ist bei weitem nicht so gut wie Guantanamo. Die Reede in der Santego Bay ist seicht – es können höchstens leichte Kreuzer hier liegen –, und der Ausbau der Einrichtungen des Stützpunkts würde zwanzig Jahre und rund 200 Millionen Dollar erfordern, wenn er an Guantanamo heranreichen sollte. Er ist jedoch als Luftstützpunkt sehr gut eingerichtet; deshalb benutzen wir ihn als Hurrikanforschungszentrum.«
»Miß Marlowe hat mir davon erzählt …«, begann Causton, aber er wurde dadurch unterbrochen, daß Hansen mit Julie zurückkam, und er benutzte die Gelegenheit, Julie um einen Tanz zu bitten.
»Wollen Sie mir nichts zu trinken anbieten?« fragte Hansen.
»Bedienen Sie sich selbst!« sagte Wyatt. Er sah Schelling mit einem anderen Offizier den Raum betreten. »Sagen Sie, Harry, wie hat es Schelling in Ihrer Marine bis zum Commander gebracht?«
»Weiß ich nicht«, sagte Hansen und setzte sich. »Wohl weil er ein guter Meteorologe ist und weil er als Offizier so brauchbar ist wie ein Bulle mit einem Euter.«
»Nicht viel, eh?«
»Herrgott, ein Offizier muß doch Männer führen können, und Schelling würde sich nicht einmal als Heimmutter für eine Jungmädchengruppe eignen. Er muß als Spezialist befördert worden sein.«
»Ich will Ihnen was erzählen«, sagte Wyatt und erzählte Hansen von seiner Unterhaltung mit Schelling am Vormittag. Er endete mit der Bemerkung: »Er hält die Meteorologie für eine exakte Wissenschaft und glaubt, was in den Lehrbüchern steht, stimmt. Solche Leute machen mir immer angst.«
Hansen lachte. »Dave, Sie sind an einen Offizierstyp geraten, der in unserer guten alten Navy gar nicht selten ist. Im Pentagon wimmelt es von ihnen. Er geht aus einem bestimmten Grund nach dem Buch, und nur aus diesem Grund – wenn er nach dem Buch geht, kann man ihm nie einen Fehler nachweisen, und ein Offizier, der nie einen Fehler macht, gilt als gut. Man kann ihn ohne Gefahr überall einsetzen.«
»Ohne Gefahr!« Wyatt versagte beinahe die Stimme. »In seiner Stellung ist der Mann etwa so ungefährlich wie eine Klapperschlange. Dem Mann sind Menschenleben anvertraut.«
»Den meisten Offizieren in der Marine werden dann und wann Menschenleben anvertraut«, sagte Hansen. »Hören Sie, Dave, ich will Ihnen sagen, wie man mit Männern vom Schlage Schellings umgeht. Er hat ein Brett vor dem Kopf, und man kommt bei ihm nicht durch – er ist zu stur. Deshalb muß man um ihn herumgehen.«
»Das ist etwas schwierig für mich«, sagte Wyatt. »Ich habe keinen Status. Ich bin nicht in der Marine – ich bin nicht einmal Amerikaner. Er ist es, der an das Wetteramt berichtet, er ist der Mann, dem sie Glauben schenken.«
»Sie sind ziemlich aufgebracht, nicht wahr? Worum geht es denn?«
»Ich weiß es selbst nicht«, gestand Wyatt. »Ich habe nur einfach das Gefühl, daß etwas schiefläuft.«
»Machen Sie sich Sorgen wegen Mabel?«
»Ich glaube, es ist Mabel – ich bin aber nicht sicher.«
»Ich hatte Sorgen wegen Mabel, als ich in seinen Eingeweiden herumkurvte«, sagte Hansen. »Aber jetzt läßt er mich ziemlich kalt.«
Wyatt sagte: »Harry, ich bin hier draußen geboren, und ich habe schon wunderliche Dinge erlebt. Ich entsinne mich, daß uns, als ich noch ein Kind war, gemeldet wurde, da sei ein Hurrikan im Anzug, aber er würde mit dreihundert Kilometern Abstand an Grenada vorbeiziehen. Daher machte sich niemand Sorgen, außer den Leuten oben in den Bergen, die von der Warnung gar nichts gehört hatten. Es steckt eine Menge Karibenblut in diesem Volk, und sie sind seit Tausenden von Jahren auf den karibischen Inseln zu Hause. Sie verrammelten die Luken und gruben sich ein. Als der Hurrikan auf der Höhe von Grenada ankam, änderte er seine Richtung um neunzig Grad und duckte die Insel fast unter Wasser. Woher wußten diese Bergbewohner, daß der Hurrikan so seine Richtung ändern würde?«
»Sie hatten ein merkwürdiges Gefühl«, sagte Hansen. »Und sie waren vernünftig genug, danach zu handeln. Das ist mir auch schon passiert. Ich flog einmal in den Wolken und bekam plötzlich dieses Gefühl, daher drückte ich das Steuer ein wenig nach vorn und ging etwas tiefer. Und verdammt noch mal, da flog doch so eine zivile Mühle – eine von diesen Geschäftsreisemaschinen – auf der Höhe, die mir zugewiesen war. Er flog um Haaresbreite über mir vorbei.«
Wyatt zuckte die Schultern. »Als Wissenschaftler soll ich danach gehen, was sich messen läßt, nicht nach Gefühlen. Ich kann meine Gefühle nicht Schelling vorlegen.«
»Zum Teufel mit Schelling!« sagte Hansen. »Dave, ich glaube nicht, daß es irgendwo einen kompetenten Wissenschaftler gibt, der sich nicht schon einmal auf sein Gefühl verlassen hätte. Ich bleibe dabei, Sie sollten Schelling umgehen. Warum sprechen Sie nicht mit dem Commodore?«
»Ich will abwarten, wie sich Mabel morgen verhält«, sagte Wyatt. »Ich will sehen, ob es wirklich so schlimm wird.«
»Vergessen Sie Ihre Gefühle nicht!« sagte Hansen.
Julies kühle Stimme erscholl hinter Wyatt. »Na, na, Gefühle für Mabel?«
Hansen lachte und machte Anstalten aufzustehen, aber Julie winkte ihm, sitzen zu bleiben. »Ich tanze mir die Füße wund und habe noch nicht einmal etwas zu trinken bekommen. Diesen Tanz möchte ich jetzt auslassen.« Sie sah Wyatt an. »Wer ist Mabel?«
Hansen gluckste. »Eine von Daves Freundinnen. Er hat eine ganze Reihe. Dave, erinnern Sie sich an Isobel im vorigen Jahr? Mit Isobel haben Sie wirklich eine Menge Spaß gehabt.«
Wyatt sagte: »Wenn ich mich recht entsinne, wurden Sie von Isobel ziemlich in die Mangel genommen.«
»Ah, ich entkam aber doch.«
Causton schnippte plötzlich mit den Fingern, als er begriffen hatte. »Sie reden von Hurrikanen, stimmt's?«
Julie sagte schroff: »Warum gibt man ihnen eigentlich Mädchennamen?«
»Die sind so leicht zu behalten«, sagte Wyatt, ohne das Gesicht zu verziehen. »Und so schwer zu vergessen. Der Verband der amerikanischen Frauenvereine richtete schon einmal eine Beschwerde an das Wetteramt, aber sie wurde verworfen. Eine Runde für uns im Kampf der Geschlechter.«
»Ich würde mir gern Ihre Arbeiten ansehen«, sagte Causton. »Vom professionellen Standpunkt, meine ich.«
»Ich dachte, Sie seien auf Urlaub hier.«
»Zeitungsleute haben nie wirklich Urlaub – und man nimmt Nachrichten, wo man sie findet.«
Wyatt merkte, daß ihm Causton sympathisch war. Er sagte: »Ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht zum Stützpunkt kommen sollten.«
Hansen grinste. »Schelling wird nichts dagegen haben; er ist scharf auf Publicity – der richtigen Art.«
»Ich würde mir Mühe geben, nichts Unfreundliches zu schreiben«, sagte Causton. »Wann darf ich kommen?«
»Wie wäre es mit morgen vormittag um elf?« fragte Wyatt. Er wandte sich an Julie. »Interessierst du dich für meine Hurrikane? Möchtest du nicht mitkommen?« Er sprach unpersönlich.
»Vielen Dank«, sagte sie ebenso unpersönlich.
»Abgemacht«, sagte Causton. »Ich werde Miß Marlowe mitbringen – ich miete einen Wagen.« Er wandte sich an Hansen. »Haben Sie in dem Stützpunkt Ärger mit der Inselregierung?«
Hansens Blicke schärften sich plötzlich, und dann sagte er gleichgültig: »In welcher Hinsicht?«
»Ich schätze, daß Amerikaner hier nicht allzu beliebt sind. Man sagt auch, daß Serrurier ein rauher Bursche ist, der nicht zart im Umgang und nicht sehr wählerisch in seinen Methoden ist. Manche der Geschichten, die ich über ihn gehört habe, machen mir eine Gänsehaut – und ich bin kein übermäßig zimperlicher Mann.«
Hansen sagte kurz: »Wir mischen uns nicht in ihre Angelegenheiten, und sie mischen sich nicht in unsere – das ist eine Art stillschweigendes Übereinkommen. Die Besatzung des Stützpunktes hat ziemlich strenge Vorschriften in dieser Hinsicht. Es hat tatsächlich einige Zwischenfälle gegeben, und der Commodore hat hart durchgegriffen.«
»Welche Art von …«, begann Causton zu fragen, aber eine dröhnende Stimme ließ seine Frage untergehen:
»Sagen Sie, waren Sie nicht die Stewardeß auf meinem Flug nach Puerto Rico?«
Wyatt erblickte die bullige Gestalt von Dawson über sich. Er warf einen Blick zu Julie, deren Gesicht sich zu einem strahlenden, professionellen Lächeln verzogen hatte. »Ja, das war ich, Mr. Dawson.«
»Ich hätte nicht erwartet, Sie hier zu finden«, brüllte Dawson. Er schien nicht fähig zu sein, in einem normalen, ruhigen Ton zu sprechen, aber vielleicht kam es auch daher, daß er ein wenig angetrunken war. »Sie und ich müssen miteinander trinken, sollen wir?« Er fuchtelte mit den Armen. »Laßt uns alle einen trinken!«
Causton sagte ruhig: »Ich habe hier den Vorsitz, Mr. Dawson. Wollen Sie mit mir einen trinken?«
Dawson beugte sich herab und sah Causton an, wobei er leicht schielte. »Kenne ich Sie nicht irgendwoher?«
»Ich glaube, wir haben uns getroffen – in London.«
Dawson richtete sich auf und ging um den Tisch herum, damit er Causton genau sehen konnte. Eine Weile stand er recht albern da und dachte nach, dann schnippte er mit den Fingern. »Das stimmt«, sagte er. »Ich kenne Sie. Sie sind einer dieser neunmalklugen Reporter, die mich zerpflückten, als ›The Fire Game‹ in England herauskam. Ich vergesse nie ein Gesicht, müssen Sie wissen. Sie waren einer von den Burschen, die meinen Whisky austranken und mir dann einen Dolch in den Rücken stießen.«
»Ich glaube nicht, daß ich an dem Vormittag etwas getrunken habe«, bemerkte Causton gleichmütig.
Dawson atmete hörbar aus. »Ich glaube nicht, daß ich mit Ihnen trinken werde, Mr. Sowieso. Ich bin wählerisch im Umgang mit Menschen.« Er schwankte, und sein unsteter Blick fiel auf Julie. »Nicht wie manche Leute.«
Wyatt und Hansen sprangen gleichzeitig auf, aber Causton sagte scharf: »Bleiben Sie sitzen, Sie beiden; machen Sie doch keinen Unsinn!«
»Oh, ach was«, murmelte Dawson und wischte sich mit seiner großen Hand übers Gesicht. Er torkelte davon, stieß einen Stuhl um und nahm Richtung auf die Toiletten.
»Kein feiner Mann«, sagte Causton trocken. »Entschuldigen Sie bitte den Auftritt.«
Wyatt stellte den umgeworfenen Stuhl wieder auf. »Ich dachte, Sie seien Auslandskorrespondent?«
»Bin ich auch«, sagte Causton. »Aber ich war vor zwei Jahren in London, als die Hälfte der Belegschaft an Grippe erkrankt war, und half für eine Zeitlang als Lokalreporter aus.« Er lächelte. »Ich bin kein Literaturkritiker, deshalb schrieb ich einen Artikel über den Mann, nicht den Schriftsteller. Dawson gefiel der kein bißchen.«
»Mir gefällt Dawson kein bißchen«, sagte Hansen. »Er ist gewiß der ›Häßliche Amerikaner‹.«
»Das Komische an ihm ist, daß er tatsächlich ein guter Schriftsteller ist«, sagte Causton. »Mir gefallen seine Sachen jedenfalls, und man sagt mir, daß die Kritiker ihn sehr gut beurteilen. Das Üble ist, daß er glaubt, Papa Hemingways Mantel sei auf seine Schultern gefallen – aber ich meine, er steht ihm nicht.«
Wyatt sah Julie an. »Wie weit hat er sich dir gegenüber häßlich gezeigt?« fragte er leise.
»Stewardessen lernen es, sich ihrer Haut zu wehren«, sagte sie leichthin, aber er merkte, daß sie ein ernstes Gesicht dabei behielt.
Der Vorfall schien die Stimmung verscheucht zu haben. Julie mochte nicht mehr tanzen, und daher gingen sie recht früh nach Hause. Nachdem er Julie und Causton zum Imperiale gefahren hatte, nahm Wyatt Hansen mit zurück zum Stützpunkt.
Sie wurden gleich auf der Place de la Libération Noire angehalten. Eine Kolonne Militärlastwagen donnerte vor ihnen vorbei, dahinter folgte ein Bataillon Infanterie. Die Sodaten schwitzten unter ihrer schweren Ausrüstung, und ihre schwarzen Gesichter glänzten wie Schuhleder im Licht der Straßenlampen.
Hansen sagte: »Die Insulaner sind unruhig heute abend; diese Burschen sind kriegsmäßig ausgerüstet. Da muß was los sein.«
Wyatt sah sich um. Der große, um diese Abendzeit gewöhnlich stark bevölkerte Platz war leer, bis auf Gruppen von Polizisten und den unverkennbaren Geheimpolizisten aus Serruriers Sicherheitsdienst. Das fröhliche Stimmengewirr, von dem dieser Stadtteil sonst erfüllt war, wurde durch das Getrampel marschierender Soldaten ersetzt. Alle Cafés waren geschlossen, die Rolläden herabgelassen, und der Platz wirkte dunkel und unfreundlich.
»Da ist etwas los«, pflichtete er bei. »Wir hatten das schon einmal – vor sechs Monaten. Ich habe nie herausgefunden, warum.«
»Serrurier war schon immer ein nervöser Mann«, sagte Hansen. »Hat Angst vor Schatten. Man sagt, er habe seinen Präsidentenpalast seit mehr als einem Jahr nicht mehr verlassen.«
»Er hat vielleicht wieder einmal einen Alptraum«, sagte Wyatt.
Die Marschkolonne war vorbei, er kuppelte ein und fuhr um den Platz, vorbei an dem unmöglichen Bronzestandbild von Serrurier in Heldenpose, und auf die Straße, die zum Stützpunkt führte. Den ganzen Weg bis zum Cap Sarrat dachte er über Julie nach und über ihr Verhalten.
Er dachte auch an Mabel.