5
Causton marschierte nach dem Donner der Geschütze.
Er schwitzte in der Sonnenhitze, während er frisch ausschritt nach der peitschenden Stimme des Sergeanten und überlegte, wie er sich aus dieser Patsche befreien könnte. Wenn er für einige Minuten aus der Marschkolonne herauskommen könnte, brauchte er nur die Bluse und das Gewehr wegzuwerfen, und er wäre wieder ein Zivilist; aber dafür bestand wohl wenig Aussicht. Die schon einmal Desertierten wurden sorgsam bewacht von Soldaten mit Maschinenpistolen, und der Offizier fuhr ständig in seinem Jeep vom einen zum anderen Ende der Kolonne.
Er stolperte ein wenig und nahm dann wieder Schritt auf. Der Mann neben ihm sprach ihn in der Inselsprache an, offensichtlich fragte er etwas. Causton spielte den Stummen – im wahrsten Sinne des Wortes; er machte einige Bewegungen mit den Fingern und hoffte inbrünstig, daß der Soldat nicht merkte, daß er nur so tat. Der Mann stieß ein schrilles Lachen aus und stieß den Mann vor ihm ins Kreuz. Er hielt es offenbar für äußerst spaßig, daß sie einen stummen Soldaten in ihren Reihen hatten, und neugierige Blicke trafen Causton. Er hoffte, daß der Schweiß die Schuhkreme nicht zum Laufen brachte.
Nicht weit voraus hörte er den Lärm von Infanteriewaffen – das Tack-tack eines Maschinengewehres und das unregelmäßige und sporadische Gewehrgeknatter – viel näher, als er erwartet hatte. Favel hatte die Front weit in die Vororte von St. Pierre vorgeschoben und verschoß, nach den Geräuschen zu urteilen, Unmengen von Munition. Causton zuckte zusammen, als hundert Meter rechts von ihnen eine Granate einschlug und einen Schuppen zerstörte, und das Marschtempo der Kolonne verzögerte sich merklich.
Der Sergeant schrie, der Offizier schimpfte, die Kolonne wurde wieder schneller. Bald darauf bogen sie in eine Seitenstraße ab und hielten dort. Causton betrachtete interessiert die Armeelastwagen, die dicht aufgefahren am Straßenrand abgestellt waren. Er bemerkte, daß die meisten von ihnen leer waren. Er sah auch, daß Männer Benzin aus den Tanks einiger der Fahrzeuge abzapften und damit die Tanks anderer füllten.
Der Offizier trat vor sie und redete wieder auf sie ein. Auf etwas, das offenbar eine Frage war, hoben mehrere der Männer die Gewehre und schwenkten sie, also tat Causton dasselbe. Auf ein kurzes Kommando von dem Offizier traten diese Männer heraus und stellten sich auf der anderen Seite der Straße an, Causton mit ihnen. Der Offizier zog offensichtlich die Bewaffneten heraus, so daß die übrigblieben, die ihre Gewehre weggeworfen hatten.
Ein Sergeant ging an der dünnen Linie von bewaffneten Männern entlang. Jedem der Männer stellte er eine Frage und verteilte Munition aus einer Kiste, die zwei Mann ihm hinterhertrugen. Als er zu Causton kam und die Frage stellte, riß Causton nur das Schloß seines Gewehres auf, um zu zeigen, daß das Magazin leer war. Der Sergeant drückte ihm zwei Streifen Munition in die Hand und ging weiter.
Causton sah zu den Lastwagen hinüber. Gewehre wurden von einem abgeladen und an die unbewaffneten Männer ausgegeben. Sie reichten bei weitem nicht für alle. Er spielte nachdenklich mit der Munition in seiner Hand und sah einen der Lastwagen wegfahren, mit Benzin, das aus den anderen stammte. Serrurier gingen Treibstoff, Waffen und Munition aus, oder, was wahrscheinlicher war, er hatte genug davon, aber am falschen Ort zur falschen Zeit. Es war sehr wahrscheinlich, daß seine Nachschuborganisation schrecklich durcheinander war, als Folge von Favels unerwartet erfolgreichem Vorstoß.
Er lud sein Gewehr und steckte den anderen Streifen Munition in die Tasche. Serruriers Nachschubschwierigkeiten würden möglicherweise den Tod eines guten Auslandskorrespondenten herbeiführen; dies war ganz bestimmt kein gesunder Aufenthaltsort. Trotz seiner Abneigung gegen Schußwaffen hielt er es doch für gut, bereit zu sein. Er sah sich um und wägte seine Chancen davonzukommen. Aber er mußte leider feststellen, daß sie gleich Null waren. Aber wer wußte, was ein Wechsel des Kriegsglücks bringen würde?
Es wurden wieder Befehle geschrien, und die Männer trotteten wieder los, diesmal im rechten Winkel zu ihrer ursprünglichen Marschrichtung aus dem Stadtzentrum, und Causton schloß daraus, daß sie sich parallel zur Kampffront bewegten. Sie gerieten in eine der ärmsten Gegenden von St. Pierre, eine Ansammlung von Hütten aus flachgeklopften Kerosintrommeln und Wellblech. Es waren keine Zivilisten zu sehen; entweder hielten sie sich in den primitiven Behausungen verborgen, oder sie hatten sich eilig davongemacht.
Die Marschrichtung änderte sich wieder auf den Kampflärm zu und sie kamen auf ein offenes Gelände, eine der sich in die Vororte hineinschiebenden Landzungen. Hier wurden sie angehalten und zu einer langen Linie auseinandergezogen, und Causton dachte sich, daß sie hier wohl Stellung beziehen sollten. Die Männer begannen sich einzugraben. Sie hatten keine Werkzeuge und benutzten nur ihre Bajonette, und Causton tat eifrig das gleiche.
Er fand, daß man ihm einen übelriechenden Fleck zum Sterben zugeteilt hatte. Dieses offene Gelände in der Nähe der Hüttenstadt war ein Müllplatz, auf den die wenig hygienebewußten Bürger alles warfen, wofür sie keine Verwendung mehr hatten. Unvorsichtigerweise stach er mit seinem geliehenen Bajonett in einen aufgedunsenen Hundekadaver, der unter einem Haufen Asche halb vergraben war – schrecklich stinkende Gase entwichen mit einem leisen Zischen, und Causton würgte es. Er begab sich etwas zur Seite und fing wieder zu graben an. Diesmal hatte er mehr Erfolg und fand, daß das Graben auf einem Müllplatz einen Vorteil hatte – es war sehr leicht, ein mannsgroßes Loch auszuheben.
Als er sich eingegraben hatte, sah er sich um, zuerst nach hinten, in der Hoffnung auf einen Fluchtweg. Direkt hinter ihm lag der Sergeant. Er sah hart und unerbittlich aus, und der Lauf seines Gewehres zeigte nach vorn, vielleicht absichtlich, direkt auf Causton. Hinter dem Sergeanten, eben vor der ersten Reihe von Hütten, lagen des Hauptmanns Bullenbeißer, ihre leichten Maschinengewehre in Stellung, bereit, jeden niederzumähen, der davonlaufen wollte. Und hinter den Soldaten war der Hauptmann selbst, von hinten führend, aus der Deckung hinter einer Hütte. Neben der Hütte stand der Jeep mit laufendem Motor, und Causton vermutete, daß der Hauptmann sich absetzen würde, wenn die Linie durchbrochen würde. In der Richtung war nichts zu machen.
Er wandte sich nach vorn. Der offene Geländestreifen dehnte sich nach beiden Seiten aus, so weit er sehen konnte, und er war wohl einen halben Kilometer breit – oder vielleicht vierhundert Meter. Auf der anderen Seite standen die besser gebauten Häuser der wohlhabenderen Bürger von St. Pierre, deren Exklusivität durch diesen Streifen Niemandsland hervorgehoben und gegen die Hütten abgeschirmt wurde. Dort drüben wurde offensichtlich gekämpft; Granaten krepierten mit schrecklicher Regelmäßigkeit und warfen großzügig Teile von brauchbaren Wohnhäusern durch die Luft; das Geknatter der Infanteriewaffen war pausenlos. Einmal landete eine schlecht gezielte Mörsergranate nur fünfzig Meter vor Causton, und er zog den Kopf ein und spürte das Aufschlagen von Erdklumpen rings um sich.
Er schätzte, daß dies die Hauptkampflinie war und daß es den Regierungsstreitkräften schlechtging. Warum hätte sonst die Armee mit solcher Hast eine zweite Verteidigungslinie aus schlecht ausgerüsteten Deserteuren aufgestellt? Die Stellung war allerdings nicht schlecht gewählt; wenn die erste Linie nachgab, mußten Favels Leute vierhundert Meter weit über offenes Gelände vorgehen. Aber dann dachte er an die lumpigen zehn Schuß Munition, die man ihm gegeben hatte – vielleicht würden Favels Leute es doch nicht so schwer haben. Es hing davon ab, ob die Regierungstruppen dort drüben sich geordnet zurückziehen konnten.
Nichts rührte sich für eine lange Zeit, und Causton lag in der heißen Sonne in dem Loch und wurde tatsächlich schläfrig. Von Soldaten hatte er gehört, daß der Krieg ein Zeitraum sei, in dem lange Strecken Langeweile durch kurze Augenblicke von Angst unterbrochen würden, und er war gern bereit, es zu glauben, obwohl er es selbst noch nicht erlebt hatte. Aber seine Tätigkeit hatte hauptsächlich daraus bestanden, von einem Brennpunkt zum anderen zu flitzen, und die Zwischenräume wurden damit ausgefüllt, von den Fleischtöpfen rund eines Dutzends verschiedener Länder zu probieren. Er fand diese kleine Probe aus dem Soldatenleben entschieden langweilig.
Gelegentlich blickte er zurück, um zu sehen, ob sich die Fluchtgelegenheiten verbessert hatten, aber da änderte sich nie etwas. Der Sergeant starrte ihn mit steinernem Gesicht an, und die ›Rückendeckung‹ war immer in Stellung. Der Hauptmann paffte hastig Zigaretten und suchte zwischendurch mit einem Feldstecher die Front ab. Um sich bei dem Sergeanten einzuschmeicheln, in der Hoffnung auf spätere Vergünstigungen, warf Causton ihm einmal eine Zigarette zu. Der Sergeant streckte einen Arm aus, sah die Zigarette verwundert an, lächelte dann und zündete sie an. Causton lächelte zurück und wandte sich dann wieder nach vorn; er hoffte, daß damit ein dünnes Freundschaftsband angeknüpft war.
Bald darauf schwoll der Tumult an der Front zu einem Crescendo an, und Causton erspähte die ersten menschlichen Bewegungen – einige kleine rennende Figuren vor den Wänden der fernen Häuser. Er strengte seine Augen an und wünschte, er hätte des Hauptmanns Feldstecher haben können. Von hinten hörte er die Stimme des Hauptmanns scharfe Befehle erteilen und das nähere blecherne Schreien des Sergeanten, aber er achtete nicht darauf, denn er hatte eben die entfernten Figuren als Regierungssoldaten erkannt, und sie rannten, so schnell sie konnten – die Front war zusammengebrochen.
Der Mann, der ihm am nächsten lag, schob sein Gewehr nach vorn und lud durch, und Causton hörte, wie sich das metallische Klicken die Reihe entlang fortpflanzte. Aber er ließ seinen Blick nicht von der Szene, die vor ihm lag. Die erste blaugekleidete Figur war halb über den Streifen – noch etwa zweihundert Meter entfernt –, als der Mann plötzlich die Arme hochwarf und hilflos vornüberfiel, als wäre er über etwas gestolpert. Er fiel zu einem kleinen Häufchen zusammen, bäumte sich auf und lag dann still.
Das Feld war nun voll von rennenden Männern, die völlig unordentlich zurückwichen. Manche liefen nach ihrer Kampferfahrung, in kurzen, geduckten Zickzackbewegungen, ständig die Richtung wechselnd, um den Schützen hinter ihnen das Zielen zu erschweren, das waren die intelligenteren. Die Dummen oder die vor Angst Wahnsinnigen rannten geradeaus, und es waren diese, die von den ratternden Maschinengewehren und den Gewehren herausgepickt wurden.
Causton stellte plötzlich erstaunt fest, daß er unter Feuer lag. In der Luft um ihn herum hörte er ein ständiges Zwitschern, das er zuerst nicht deuten konnte. Aber als der Hund am Rande seines Gesichtsfeldes plötzlich mit seinem Hinterbein zuckte, als ob er im Traum Hasen jagte, und aus dem trockenen Boden zehn Meter vor ihm eine Reihe von Staubfontänen aufspritzten, zog er sich in sein Loch zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Seine journalistische Neugier erwies sich jedoch als stärker, und er hob den Kopf noch einmal, um zu sehen, was vorging.
Mörsergranaten begannen jetzt auf dem Feld einzuschlagen und riesige Staubwolken aufzuwirbeln, die langsam vom Wind abgetrieben wurden. Der erste der Fliehenden war schon recht nahe, und Causton sah seinen weit offenen Mund und den starren Blick und hörte das Stampfen seiner Stiefel auf dem trockenen Boden. Er war keine zehn Meter mehr entfernt, als er fiel. Arme und Beine schlenkerten durch die Luft, und als er zur Ruhe kam, sah Causton das klaffende Loch in seinem Hinterkopf.
Der Soldat hinter ihm machte einen Bogen und rannte weiter, seine Beine arbeiteten wie Motorkolben. Er sprang über Causton weg und rannte von panischer Angst getrieben weiter. Dann kam ein anderer – und noch einer – und noch mehr – alle preschten in Panik durch die Auffangstellung hindurch. Der Sergeant schrie laut, als die Männer in den Schützenlöchern unruhig wurden und den Anschein erweckten, als wollten sie auch weglaufen, und in der Nähe knallte ein Schuß. Wir werden erschossen, wenn wir weglaufen, und – später – erschossen, wenn wir nicht weglaufen, dachte Causton. Es war besser, nicht wegzulaufen – noch nicht.
Über eine halbe Stunde lang kamen die demoralisierten Überlebenden von der vorderen Front vorbei, und bald hörte Causton vereinzelte Schüsse hinter sich. Die Überlebenden wurden wieder in Reih und Glied gebracht. Er starrte über das Feld und erwartete den Angriff von Favels Armee zu sehen, aber nichts tat sich, außer daß das Mörserfeuer für eine Weile aufhörte und die Einschläge dann wieder einsetzten, diesmal direkt in ihrer Stellung. In dieser kurzen Zeitspanne, als der Rauch vom Schlachtfeld weggeweht wurde, sah Causton Dutzende von Leibern auf dem Feld verstreut und hörte einige entfernte Rufe und Wehgeschrei.
Dann hatte er keine Zeit mehr, auch nur etwas anderes zu denken, als die Granaten wie ein Stahlhagel herniederregneten. Er drückte sich in sein Schützenloch und grub seine Finger in die ekelerregenden Abfälle, als der Boden unter ihm bebte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, obwohl es, nach späteren Überlegungen, nicht länger als fünfzehn Minuten gedauert haben konnte. Aber zu der Zeit dachte er, es würde nie enden. Jesus, mein Gott! betete er; laß mich hier heil herauskommen.
***
Das Sperrfeuer endete so plötzlich, wie es angefangen hatte. Causton war benommen und lag eine Weile in seinem Schützenloch, bevor er den Kopf heben konnte. Als er es tat, erwartete er die erste Welle von Favels Angriff vor sich zu sehen, und strengte sich an, durch den sich langsam verziehenden Staub und Rauch zu spähen. Aber da war immer noch niemand – das Feld war leer, bis auf die Gefallenen.
Langsam sah er sich um. Die Blechhütten direkt hinter der Stellung waren zerstört, manche völlig, und der Boden war mit Kratzern übersät. Des Hauptmanns Jeep hatte ein Hinterrad verloren, und er brannte heftig. Vom Hauptmann selbst war nichts zu sehen. In der Nähe lag der Torso eines Mannes – ohne Kopf, Arme und Beine –, und Causton überlegte, ob das wohl der Sergeant war. Er streckte seine schmerzenden Beine aus und dachte, wenn er weglaufen wollte, dann war dies die beste Zeit dafür.
Aus dem nächsten Schützenloch stand ein Mann auf, sein Gesicht grau von Staub und Angst. Sein Blick war glasig und ausdruckslos, als er sich mühsam aufrichtete und davonschwankte. Der Sergeant tauchte über dem Erdboden auf und schrie ihn an, aber der Mann nahm keine Notiz von ihm, daher hob der Sergeant sein Gewehr und schoß, und der Mann klappte komisch zusammen.
Causton duckte sich wieder in sein Loch, als eine Tirade in vermanschtem Französisch aus dem Schützenloch des Sergeanten erscholl. Er mußte den Mann bewundern – das war ein zäher Berufssoldat, der kein Verdrücken oder Weglaufen vor dem Feind durchgehen ließ – aber er war verdammt unbequem.
Er sah nach, wie viele Köpfe sich erhoben, und zählte flüchtig. Er war erstaunt, wie viele von den Männern das Trommelfeuer überlebt hatten. Er hatte gelesen, daß gut eingegrabene Soldaten enormen Artilleriebeschuß überleben konnten – das war die Tatsache, die den ersten Weltkrieg so verlängerte – aber das persönlich zu erleben –, war eine andere Sache. Er blickte über das Feld, konnte aber keine Bewegung entdecken, die auf einen Angriff hindeutete. Sogar das Gewehrfeuer hatte aufgehört.
Er drehte sich um und sah den Sergeanten aus seinem Loch steigen und kühn die Front ablaufen, um die Männer zu überprüfen. Immer noch kam kein Schuß von der anderen Seite, und Causton begann sich Gedanken zu machen, was wohl geschehen war. Er blickte unruhig nach dem stahlblauen Himmel, als ob er ein neuerliches Stahlgewitter erwartete, und kratzte sich nachdenklich die Wange, während er den Sergeanten beobachtete.
Plötzlich setzte das Gewehrfeuer wieder ein. Ein Maschinengewehr schoß in erschreckender Nähe und aus einem unerwarteten Winkel. Ein Kugelhagel fegte über die Stellung, und der Sergeant tanzte wie ein Kreisel, von Kugeln durchsiebt, und fiel in ein Schützenloch. Causton zog den Kopf ein und lauschte nach dem schweren Feuerhagel, der von links und von hinten kam.
Die Stellung war umgangen worden.
Er hörte die Schreie und die Schritte, als die übrigen Männer aufsprangen und wegrannten, aber er blieb liegen. Er hatte das Gefühl, sie liefen in ihr Verderben, und er hatte auch sowieso keine Lust mehr, noch länger in Serruriers Armee zu dienen; je weiter die Entfernung zwischen dieser Einheit und ihm sein würde, desto wohler würde er sich fühlen. So blieb er in dem Loch liegen und stellte sich tot.
Das Maschinengewehrfeuer hörte plötzlich auf, aber er lag noch eine Viertelstunde länger dort, bevor er auch nur seine Nase über den Grund erhob. Als er es tat, sah er als erstes eine lange Kette von Männern aus den Häusern auf der anderen Seite des Feldes auftauchen – Favels Leute kamen, um aufzuräumen. Eilig rutschte er aus dem Loch heraus und kroch auf dem Bauch nach rückwärts zu den Hütten. Jeden Augenblick erwartete er das Einschlagen von Kugeln. Aber er hatte genug Deckung, denn der Boden war von Mörsern aufgewühlt worden, und er fand es nicht schwer, von Trichter zu Trichter zu kriechen, um nicht gesehen zu werden.
Schließlich gelangte er in den Schutz der Hütten und blickte von dort zurück. Favels Männer hatten das Feld fast überquert, und er hatte das Gefühl, sie würden auf alles schießen, was sich bewegte. Daher mußte er sich wohl einen sichereren Platz suchen. Er hörte den Lärm von der linken Flanke – jemand leistete dort Widerstand, aber der würde zusammenbrechen, sobald diese ankommenden Soldaten auf ihn stießen. Er machte sich nach rechts davon, von einer Hütte zur nächsten huschend und immer bestrebt, weiter nach rückwärts zu kommen.
Im Laufen riß er sich die Bluse vom Leib und rieb an seinem Gesicht. Vielleicht würde der Anblick eines weißen Gesichts den Finger am Abzug zögern lassen – man mußte es wenigstens versuchen. Er sah nichts von Regierungstruppen, und alles deutete darauf hin, daß Favel im Begriff war, in der Mitte durchzubrechen – was konnte ihn auch daran hindern? Es schien nicht mehr viel dazusein.
Augenblicklich kam ihm eine Idee, und er faßte an die Tür einer der Hütten. Es war ihm aufgegangen, daß es nicht viel Zweck hatte wegzulaufen; schließlich wollte er ja Serruriers Streitkräfte gar nicht einholen. Es würde viel besser sein, sich zu verbergen und dann mitten in Favels Armee wieder aufzutauchen.
Die Tür war nicht verrammelt. Er drückte sie auf und ging hinein. Die Hütte war verlassen; sie bestand nur aus zwei Räumen, und man konnte ohne Mühe feststellen, daß niemand anwesend war. Er sah sich um, und sein Blick fiel auf eine Waschschüssel auf einem wackligen Ständer unter einem von Fliegen beschmutzten, abblätternden Spiegel. Neben dem Spiegel hing auf der einen Seite ein schönfarbiger Öldruck einer Madonna und auf der anderen Seite das übliche offizielle Porträt von Serrurier.
Schnell riß er das idealisierte Foto von Serrurier herunter und stieß es mit dem Fuß unters Bett. Wenn jemand ihn überraschte, sollte er nicht auf falsche Gedanken kommen. Dann goß er lauwarmes Wasser in die Schüssel und begann sein Gesicht zu waschen, seine Ohren dabei ständig nach draußen gerichtet. Nach fünf Minuten erkannte er entsetzt, daß er immer noch ein hellhäutiger Neger war; die Schuhkrem war wasserfest und ließ sich nicht entfernen, so hart er auch rieb. Viele der Einwohner von San Fernandez hatten noch hellere Haut und hatten auch europäische Gesichtszüge.
Da kam ihm eine Idee. Er knöpfte sein Hemd auf, um seine Brust anzusehen. Noch vor zwei Tagen war ihm seine Blässe etwas peinlich gewesen, aber jetzt dankte er Gott, daß er keine Lust zum Sonnenbaden gehabt hatte. Er zog sein Hemd aus und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor.
Was ihn hinauslockte, war das Brummen eines Motors. Er dachte, wer in dieser Gegend mit einem Fahrzeug herumfuhr, würde zivilisiert genug sein, ihn nicht beim ersten Anblick zu erschießen, deshalb stieg er aus dem Schrank, ging in den vorderen Raum und sah zum Fenster hinaus. Der vorbeifahrende Landrover wurde von einem Weißen gesteuert.
»He – Sie!« rief er und stürzte zur Tür. »Sie dort – arrêtez!«
Der Mann in dem Landrover sah sich um und hielt an. Causton rannte hin, und der Mann sah ihn neugierig an.
»Teufel, wer sind Sie?« fragte er.
»Gott sei Dank!« sagte Causton. »Sie sprechen Englisch – Sie sind Engländer. Meine Name ist Causton – ich glaube, man kann mich einen Kriegsberichter nennen.«
Der Mann sah ihn ungläubig an. »Sie haben es aber früh gerochen, nicht wahr? Der Krieg hat erst gestern nachmittag begonnen. Sie sehen auch nicht sehr nach einem Kriegsberichter aus – eher nach einem angemalten Negersänger, der ans falsche Publikum geraten ist.«
»Ich bin durchaus echt«, versicherte Causton.
Der Mann hob eine Maschinenpistole auf, die auf dem zweiten Sitz gelegen hatte. »Ich glaube, Favel sollte sich Sie einmal ansehen«, sagte er. »Steigen Sie ein!«
»Genau der Mann, den ich sprechen möchte«, sagte Causton, während er in den Landrover kletterte und dabei die Maschinenpistole sorgfältig im Auge behielt. »Sind Sie ein Freund von ihm?«
»Ich glaube, das könnte man sagen«, sagte der Mann. »Mein Name ist Manning.«
***
»Es ist zu heiß«, nörgelte Mrs. Warmington.
Julie empfand das auch, sagte es aber nicht laut – sie hatte nicht die geringste Lust, ausgerechnet mit Mrs. Warmington in irgendeiner Sache übereinzustimmen. Sie bewegte sich ein wenig, um die auf der Haut klebende Bluse am Rücken abzulösen, und sah durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie sah genau dasselbe, was sie schon die letzte halbe Stunde gesehen hatte – einen kleinen Handwagen, der gefährlich hoch mit schäbigem Hausrat beladen war und von einem alten Mann und einem kleinen Jungen geschoben wurde. Sie hielten sich stur in der Mitte der Straße und waren nicht bereit, an die Seite zu fahren.
Rawsthorne schaltete ärgerlich wieder vom zweiten Gang in den ersten herunter. »Der Motor wird bald kochen, wenn wir so weiterfahren müssen«, sagte er.
»Wir dürfen nicht anhalten«, sagte Julie erschrocken.
»Anhalten könnte sich als schwieriger erweisen, als weiterzufahren«, sagte Rawsthorne. »Haben Sie sich in letzter Zeit mal umgesehen?«
Julie drehte sich auf ihrem Sitz um und sah durch das Heckfenster des Wagens, der gerade über einen kleinen Hügel fuhr. Hinter ihnen folgte, so weit sie die Straße übersehen konnte, die lange Schlange von Flüchtlingen aus St. Pierre. Sie hatte so etwas in alten Wochenschaufilmen gesehen, hatte aber nie erwartet, es einmal in Wirklichkeit zu sehen. Das war ein Volk auf der Wanderung. Sie trotteten müde dahin, weg von der kommenden Verwüstung durch den Krieg, und schleppten soviel wie möglich von ihren Habseligkeiten auf einem unglaublichen Sammelsurium von Fahrzeugen mit sich. Sie sah Kinderwagen, in denen keine Babys, sondern Zimmeruhren, Kleidung, Bilder, Ornamente gefahren wurden; es waren da Karren, die geschoben oder von einem Esel gezogen wurden; da waren ramponierte Autos von unglaublichem Alter, Autobusse, Lastwagen und die besseren Personenwagen der wohlhabenden Leute.
Aber in erster Linie waren da Menschen: Männer und Frauen, alte und junge, reiche und arme, gesunde und kranke. Es waren Menschen, die nicht lachten und nicht sprachen, die still dahintrotteten wie eine Viehherde, mit grauen Gesichtern und gesenkten Blicken, deren einziger sichtbarer Ausdruck von Bewegung das nervöse Herumwerfen des Kopfes war, wenn sie nach rückwärts spähten.
Julie drehte sich wieder um, als Rawsthorne hupte. »Der verdammte Kerl macht nicht Platz«, schimpfte er. »Wenn er nur ein wenig zur Seite führe, käme ich vorbei.«
Eumenides sagte: »Die Straße – sie fällt auf Seite.« Er zeigte auf den Karren. »Er Angst, er fällt um.«
»Ja«, sagte Rawsthorne. »Der Karren ist mächtig überladen, und die Straße ist wirklich stark gewölbt.«
Julie sagte: »Wie weit sollen wir noch?«
»Etwa drei Kilometer.« Rawsthorne zeigte durch eine Kopfbewegung nach vorn. »Sehen Sie, wo die Straße um die Landzunge dort herumführt? Wir müssen auf die andere Seite kommen.«
»Wie lange werden wir brauchen?«
Rawsthorne stoppte, um den Alten nicht anzufahren. »Bei diesem Tempo wird es noch zwei Stunden dauern.« Der Wagen bewegte sich ruckweise weiter. Die Flüchtlinge zu Fuß kamen tatsächlich schneller voran als die in Fahrzeugen, und Rawsthorne dachte schon daran, den Wagen stehenzulassen. Aber er verwarf den Gedanken so schnell, wie er ihm gekommen war; sie hätten die Lebensmittel und das Wasser tragen müssen und auch noch die Decken – sie würden in der kommenden Woche viel zu nützlich sein, um sie im Wagen zu lassen. Er sagte: »Wenigstens hat dieser Krieg auch sein Gutes – er jagt die Menschen aus St. Pierre heraus.«
»Sie werden nicht alle gehen«, sagte Julie. »Und was wird aus dem Militär?«
»Es ist Pech für Favel«, sagte Rawsthorne. »Man stelle sich vor, eine Stadt zu erobern und dann von einem Hurrikan zerschlagen zu werden. Ich habe viel Militärhistorisches gelesen, aber mir ist kein ähnlicher Fall zur Kenntnis gekommen.«
»Er wird auch Serrurier zerschlagen«, sagte Julie.
»Ja, das wird er«, sagte Rawsthorne nachdenklich. »Ich möchte wissen, wer die Scherben aufsammeln wird.« Er starrte voraus. »Ich mag Wyatt, aber ich hoffe, er behält nicht recht mit diesem Hurrikan. Es ist möglich, daß er nicht kommt, wissen Sie. Wyatt verläßt sich zum großen Teil auf seine Intuition. Ich würde Favel eine ehrliche Chance gönnen.«
»Ich hoffe auch, daß er nicht recht behält«, sagte Julie ernst. »Er sitzt dort in der Falle.«
Rawsthorne warf einen Blick auf ihr trauriges Gesicht, biß sich auf die Lippen und verfiel in Schweigen. Die Zeit schleppte sich so langsam dahin wie der Wagen. Kurz danach zeigte Rawsthorne auf eine Gruppe junger Männer, die an ihnen vorbeihasteten. Sie waren gesund und kräftig, wenn auch ärmlich gekleidet; einer von ihnen hatte eine Handvoll Banknoten, die er im Gehen zählte, und ein anderer ließ eine glitzernde Halskette am Zeigefinger kreisen. »Ich wünschte, Causton hätte Ihre Pistole nicht mitgenommen, Eumenides«, sagte Rawsthorne. »Wir könnten sie vielleicht brauchen. Diese Burschen haben geplündert. Sie haben Geld und Schmuck genommen, aber bald werden sie Hunger bekommen und versuchen, Eßwaren zu nehmen, wo sie sie finden.«
Eumenides zuckte mit den Schultern. »Zu spät; Pistole weg – ich gucken.«
Endlich waren sie um die Landzunge herum, und Rawsthorne sagte: »Nur noch einige hundert Meter. Halten Sie Ausschau nach einer günstigen Stelle zum Abbiegen – wir brauchen einen Seitenweg.«
Sie quälten sich weiter, immer noch im ersten Gang, und nach einer Weile sagte Eumenides: »Gut 'ier?«
Rawsthorne verdrehte den Hals. »Ja, das scheint nicht schlecht zu sein. Ich möchte wissen, wohin der Weg führt.«
»Wir wollen es probieren«, sagte Julie. »Es fährt sonst niemand hier hinauf.«
Rawsthorne bog auf den unbefestigten Feldweg ein und konnte sofort in den zweiten Gang hochschalten. Sie fuhren einige hundert Meter auf dem schlechten Weg und kamen dann in einen großen Steinbruch. »Verdammt!« sagte Rawsthorne. »Es ist eine Sackgasse.«
Julie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. »Wir können wenigstens aussteigen und uns die Beine vertreten, bevor wir zurückfahren. Und ich meine, wir sollten auch wieder etwas essen, da wir die Gelegenheit haben«, sagte sie. Das Brot war trocken, die Butter geschmolzen und schon ein wenig ranzig, das Wasser war lauwarm, und dazu hatte die Hitze auch ihren Appetit nicht gerade erhöht, aber sie aßen ein wenig, während sie im Schatten der Steinbruchschuppen saßen und ihre nächsten Schritte besprachen. Mrs. Warmington sagte: »Ich sehe nicht ein, warum wir nicht hierbleiben können – es ist doch ein ruhiger Platz.«
»Leider nicht«, sagte Rawsthorne. »Wir können von hier aus immer noch die See sehen – im Süden. Nach Wyatts Reden wird der Hurrikan von Süden kommen.«
Mrs. Warmington sagte: »Ach, ich glaube, dieser junge Mann ist ein Bangemacher; ich glaube nicht an den Hurrikan. Als wir den Stützpunkt noch sehen konnten, lagen immer noch Schiffe dort vor Anker. Commodore Brooks rechnet nicht mit einem Hurrikan, weshalb sollten wir es dann?«
»Wir können nicht darauf bauen, daß er unrecht behält«, sagte Julie ruhig. Sie wandte sich an Rawsthorne. »Wir müssen wohl zurück auf die Straße und es woanders versuchen.«
»Das meine ich nicht«, sagte Rawsthorne. »Ich glaube nicht, daß wir die Möglichkeit haben. Dieser Weg bog in einem spitzen Winkel von der Straße ab – ich kann mir nicht vorstellen, wie wir mit dem Wagen wieder in den Verkehrsstrom hineinkommen sollen. Niemand würde anhalten, um uns dazwischenzulassen.« Er sah an der Steinbruchwand hinauf. »Wir müssen auf die andere Seite dieses Berges kommen.«
Mrs. Warmington schnarrte: »Ich mache keinen Versuch, hier hinaufzuklettern. Ich bleibe hier.«
Rawsthorne lachte. »Wir müssen ja nicht klettern – wir können rundherum gehen. Weiter unten am Weg war eine Stelle, wo wir bequem aufsteigen können.« Er kaute mit Widerwillen auf dem Brot. »Wyatt hat gesagt, wir müssen auf die Nordseite eines Berges kommen, war es nicht so? Nun, das werden wir also tun.«
Eumenides fragte kurz: »Wir lassen Wagen 'ier?«
»Das müssen wir wohl. Wir werden alles, was wir brauchen, herausnehmen und ihn hinter dem Schuppen abstellen. Wenn wir Glück haben, wird ihn keiner finden.«
Sie beendeten ihr kurzes Mahl und begannen einzupacken. Julie sah die schlappe Mrs. Warmington an und zwang etwas Humor in ihre Stimme. »Wie schön, daß wir wenigstens kein Geschirr abzuwaschen haben.« Aber Mrs. Warmington war das schon alles egal; sie saß nur im Schatten und keuchte, und Julie dachte boshaft, daß sie so ihre überflüssigen Pfunde besser loswerden würde als durch eine Hungerkur.
Rawsthorne fuhr den Wagen den Weg hinunter, und sie packten all ihre Vorräte aus. Er sagte: »Es ist besser, wenn wir das hier tun; es ist ein ruhiger, abgelegener Platz, wo keiner von diesen jungen Rowdys herumlungert.« Er sah den Hang hinauf. »Es ist nicht weit bis auf den Gipfel – ich glaube, dieser Berg ist nicht viel höher als fünfzig, sechzig Meter.«
Er fuhr den Wagen in den Steinbruch zurück. Mrs. Warmington sagte kläglich: »Ich glaube, das müssen wir wohl, obwohl ich das alles für unsinnig halte.« Sie wandte sich an Eumenides. »Stehen Sie nicht einfach herum! Packen Sie was an!«
Julie sah Mrs. Warmington mit einem Funkeln im Auge an. »Ich glaube, Sie werden sich am Tragen beteiligen müssen.«
Mrs. Warmington betrachtete zweifelnd den mit Gestrüpp bewachsenen Hang. »Aber das kann ich nicht – mein Herz, wissen Sie.«
Julie meinte, daß Mrs. Warmingtons Herz kerngesund, aber steinhart war. »Die Decken sind nicht schwer«, sagte sie. »Nehmen Sie ein paar davon!« Sie drückte Mrs. Warmington ein Bündel Decken in die unwilligen Arme, und diese ließ ihre Handtasche fallen. Sie fiel mit einem dumpfen Laut in den Staub, und sie bückten sich beide gleichzeitig danach.
Julie hob sie auf und fand sie merkwürdig schwer. »Was haben Sie nur da drin?«
Mrs. Warmington entriß ihr die Tasche und ließ die Decken fallen. »Meine Juwelen, meine Liebe. Sie glauben doch nicht etwa, ich wollte die zurücklassen?«
Julie zeigte auf die Decken. »Diese können Ihnen vielleicht das Leben retten, die Juwelen nicht.« Sie warf Mrs. Warmington einen harten Blick zu. »Ich empfehle Ihnen, sich mehr auf Mitarbeit zu konzentrieren und weniger aufs Kommandieren; Sie haben bis jetzt noch kein einziges Mal recht gehabt und sind nur eine Belastung für uns.«
»Schon gut«, sagte Mrs. Warmington, vielleicht beunruhigt durch den Ausdruck auf Julies Gesicht. »Treiben Sie mich nicht so! Sie sind zu herrisch, meine Liebe; es ist kein Wunder, daß Sie sich noch keinen Mann geangelt haben.«
Julie ignorierte sie und hob einen Pappkarton mit Sodawasserflaschen auf. Sie lächelte, während sie den Berg hinaufstieg. Noch vor wenigen Tagen hätte eine solche spitze Bemerkung sie vielleicht getroffen, aber jetzt nicht mehr. Früher hatte sie manchmal gedacht, daß sie vielleicht zu selbständig war, um einen Mann anzuziehen; vielleicht mochten die Männer wirklich den anhänglichen ultraweiblichen Typ am liebsten. Sie selbst hatte diese Frauen immer für Parasiten gehalten, die nicht genug gaben für das, was sie empfingen. Ach was! Sie würde ihre natürliche Intelligenz nie vor einem Mann verbergen, und einen Mann, der sich auf solche Art täuschen ließe, würde sie lieber gar nicht heiraten. Sie wollte lieber sie selbst sein als eine törichte, untaugliche, überfütterte Kreatur wie diese Warmington.
Aber es drehte ihr das Herz um bei dem Gedanken, daß sie Wyatt vielleicht nicht wiedersehen würde.
***
Sie brauchten ziemlich lange, bis sie ihre Vorräte auf den Gipfel transportiert hatten. Rawsthorne war zwar willig, aber er war kein junger Mann mehr und hatte weder die Kraft noch die Ausdauer für die lange Anstrengung. Mrs. Warmington war völlig untauglich für irgendwelche Arbeiten, und nachdem sie ihr kleines Bündel Decken mühsam nach oben geschleppt hatte, setzte sie sich hin und sah den andern zu. Julie war kräftig genug, aber sie war an die große Hitze nicht gewöhnt, und die Sonne machte sie schwindelig. Also war es Eumenides, der den größten Teil der Sachen nach oben trug, willig und ohne zu klagen. Er erlaubte sich lediglich einen verächtlichen Seitenblick auf Mrs. Warmington, jedesmal wenn er eine Traglast oben absetzte.
Endlich war alles oben, und sie ruhten sich eine Weile auf dem Gipfel aus. Auf der Seeseite sahen sie die Küstenstraße, auf der es immer noch von Flüchtlingen wimmelte, die von St. Pierre wegstrebten. Die Stadt selbst war hinter der Landzunge verborgen, aber sie hörten in der Ferne den Kanonendonner und sahen eine wachsende Rauchwolke am westlichen Himmel.
Auf der anderen Seite fiel der Berg in ein kleines grünes Tal ab, das in dichten Reihen mit Bananenstauden bepflanzt war. Etwa zwei Kilometer entfernt standen ein langes, niedriges Gebäude und mehrere darum herum verstreute kleinere Hütten. Rawsthorne betrachtete zufrieden die Bananenplantage. »Wenigstens werden wir genug Schatten haben. Und der Boden ist bearbeitet und erleichtert das Graben. Und eine umgewehte Bananenstaude wird einen nicht erschlagen.«
»Ich habe schon immer gern Bananen gegessen«, sagte Mrs. Warmington.
»Ich würde keine von denen essen, die Sie dort unten finden; sie sind grün, von denen würden Sie schönes Bauchgrimmen bekommen.« Rawsthorne dachte einen Augenblick nach. »Ich bin kein Hurrikanexperte wie Wyatt, aber ich weiß eines. Wenn ein Hurrikan aus dem Süden kommt, wird der Wind zuerst von Osten kommen – also müssen wir Schutz von dieser Seite haben. Später wird der Wind von Westen kommen, und das macht die Sache kompliziert.«
Eumenides zeigte. »Da unten – kleine Loch.«
»Richtig«, sagte Rawsthorne. Er stand auf und ergriff einen der Spaten. »Ich dachte mir, diese würden vielleicht nützlich sein, als ich sie in den Wagen packte. Sollen wir gehen? Wir können die Sachen hierlassen, bis wir genau wissen, wohin wir sie schaffen sollen.«
Sie stiegen in die Plantage hinunter, die verlassen aussah. »Wir wollen uns von den Gebäuden fernhalten«, sagte Rawsthorne. »Das sind die Unterkünfte für die Zwangsarbeiter. Ich nehme an, Serrurier hat angeordnet, die Leute einzusperren, aber wir wollen nichts riskieren.« Er stach in den Boden unter einer Bananenstaude und schnaubte verächtlich. »Schlecht kultiviert; diese Pflanzen müssen dringend beschnitten werden. Wenn sie nicht aufpassen, werden sie die Panamakrankheit bekommen. Aber es ist auf der ganzen Insel dasselbe, seit Serrurier an der Macht ist – es geht alles bergab.«
Sie erreichten die Mulde, und Rawsthorne hielt die Stelle für gut geeignet. »Sie ist schön geschützt«, sagte er und stieß den Spaten in die Erde. »Also graben wir!«
»Wie graben?«
»Deckungslöcher – wie die Soldaten.« Rawsthorne zeichnete sie am Boden an. »Fünf – eins für jeden von uns und eins für die Vorräte.«
Sie gruben abwechselnd – Rawsthorne, Eumenides und Julie – während Mrs. Warmington im Schatten hockte und jappte. Es war keine sehr schwere Arbeit, weil der Boden weich war, wie Rawsthorne vorausgesagt hatte, aber es war heiß, und sie schwitzten stark. Gegen Ende ihrer Arbeit machte Julie eine Pause, um zu trinken, und blickte auf die fünf – Gräber? Sie dachte an das inoffizielle Motto der berühmten Seabees, der Marinebautruppen: ›Erst graben wir sie, dann begraben sie uns in ihnen.‹ Trotz der Hitze fröstelte sie.
Als sie schließlich die Löcher fertig und die Vorräte heruntergeholt hatten, war es kurz vor Sonnenuntergang, obwohl es noch heißer geworden zu sein schien. Rawsthorne schnitt einige der riesigen Blätter von einigen Stauden ab und deckte sie über die frische Erde. »In einem Bürgerkrieg kann ein wenig Tarnung nicht schaden. Und diese Pflanzen müssen sowieso dringend beschnitten werden.«
Julie hob den Kopf. »Weil Sie gerade den Krieg erwähnen – klingen die Kanonen nicht lauter – näher?«
Rawsthorne lauschte gespannt. »Das tun sie tatsächlich, nicht wahr?« Er runzelte die Stirn. »Ich möchte wissen, ob …« Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf.
»Ob was?«
»Ich überlegte, ob die Schlacht sich hierherziehen würde«, sagte er. »Aber ich glaube es nicht. Wenn Favel St. Pierre einnimmt, muß er sich gegen Serruriers Streitkräfte zwischen St. Pierre und Cap Sarrat wenden – und das ist auf der anderen Seite.«
»Aber die Kanonen klingen wirklich näher«, sagte Julie.
»Das kann der Wind machen«, sagte Rawsthorne. Er sagte es zweifelnd. Es wehte kein Wind.
Als die Sonne unterging, bereiteten sie sich auf die Nacht vor und teilten Wachen ein. Mrs. Warmington durfte die ganze Nacht schlafen, weil sie zu unzuverlässig war. Sie plauderten noch eine Weile und legten sich dann hin, bis auf Julie, die die erste Wache hatte.
Sie saß in der plötzlich hereingebrochenen Dunkelheit und horchte nach dem Geschützlärm. Für ihr ungeschultes Ohr hörte es sich an, als wären die Kanonen eben hinter dem Berg, aber sie tröstete sich mit Rawsthornes Erklärung. Sie sah einen zuckenden roten Schein im Westen, aus der Richtung von St. Pierre – es brannte in der Stadt.
Sie suchte in ihren Taschen und fand eine zerdrückte Zigarette. Sie steckte sie an und zog den Rauch gierig ein. Es war ein schlimmer Tag gewesen; sie war angespannt, und die Zigarette gab ihr Entspannung. Sie lehnte sich an einen Bananenstamm – oder eine Staude oder was es war – und dachte über Wyatt nach und fragte sich, was mit ihm geschehen sein mochte. Vielleicht war er schon tot. Vielleicht rannte er in einer Zelle auf und ab und wartete auf den tödlichen Sturm, von dem nur er allein wußte, daß er kommen würde. Sie bedauerte von ganzem Herzen, daß sie getrennt worden waren – was immer auch geschehen würde, wenn sie nur bei ihm sein könnte.
Und Causton – was war aus Causton geworden? Wenn er zum Hotel zurückkäme, würde er den Zettel finden, den sie an die Tür der Besenkammer unter der Treppe geheftet hatten, und würde wissen, daß sie sich in Sicherheit gebracht hatten. Aber er würde nicht genug wissen, um sie hier zu finden. Sie hoffte, daß er in Sicherheit war – aber ihre Gedanken verweilten länger bei Wyatt.
***
Der Mond war eben aufgegangen, als sie Eumenides wie verabredet weckte. »Alles ruhig«, sagte sie leise. »Es rührt sich nichts.«
Er nickte und sagte: »Kanonen sehr nache – mehr nache jetzt.«
»Meinen Sie?«
Er nickte, sagte aber nichts weiter. Daher ging sie zu ihrem eigenen Deckungsloch und legte sich zum Schlafen hin. Es ist wie ein Grab, dachte sie, als sie sich auf der Decke ausstreckte, die auf dem Boden lag. Sie dachte wieder an Wyatt, sehr verschwommen und schläfrig, und schlief dann ein, bevor sie den Gedanken vollendet hatte. Sie erwachte von einer Berührung am Gesicht und kam hoch. Sie wurde aber gleich wieder niedergedrückt.
»Sssch«, zischte jemand. »Still bleiben!«
»Was ist los, Eumenides?« flüsterte sie.
»Weiß nicht«, sagte er leise. »Viele Leute 'ier – 'ören Sie!«
Sie hörte ein undefinierbares Geräusch, das von keiner bestimmten Stelle, sondern von überall gleichzeitig zu kommen schien. »Es ist der Wind in den Bananenblättern«, murmelte sie.
»Nix Wind«, sagte Eumenides bestimmt.
Sie horchte wieder und hörte etwas, das sich wie Sprechen in der Ferne anhörte. »Ich weiß nicht, ob Sie recht haben«, sagte sie, »aber wir sollten wohl die andern wecken.«
Er ging und schüttelte Rawsthorne, während Julie Mrs. Warmington weckte, die überrascht aufheulte. »Verdammt, seien Sie still!« fuhr Julie sie an und legte Mrs. Warmington ihre Hand auf den Mund, als dieser sich wieder öffnete. »Wir sind vielleicht in Gefahr. Bleiben Sie liegen und stellen Sie sich darauf ein, daß wir vielleicht schnell weg müssen! Und machen Sie keinen Lärm!«
Sie ging hinüber zu Rawsthorne und Eumenides, die leise berieten. »Da ist etwas los«, sagte Rawsthorne. »Das Artilleriefeuer hat auch aufgehört. Eumenides, Sie gehen auf den Berg hinauf und sehen nach, was auf der Seeseite vorgeht; ich werde das Tal erkunden. Der Mond scheint hell genug, da kann man ziemlich weit sehen.« In seiner Stimme lag Verblüffung. »Aber diese verflixten Geräusche scheinen aus allen Richtungen zu kommen.«
Er stand auf. »Können wir Sie hier allein lassen, Julie?«
»Aber sicher«, sagte sie. »Und ich werde das verdammte Weib ruhighalten, und wenn ich sie erschlagen muß.«
Die beiden Männer gingen und verschwanden zwischen den Bananenstauden. Rawsthorne huschte zwischen den Reihen dahin und schob sich immer näher an die Gefangenenunterkünfte heran. Bald kam er an einen Wirtschaftsweg, der die Plantage durchzog, und er wartete, bevor er ihn überquerte – was nur gut war, denn er hörte eine Stimme ganz in der Nähe.
Er erstarrte und ließ eine Gruppe von Männern auf dem Weg vorbeigehen. Es waren Regierungssoldaten, und ihren Stimmen nach waren sie müde und mutlos. Aus einem Wort und einem halb gehörten Satz entnahm er, daß sie in einer Schlacht besiegt worden waren und darüber gar nicht glücklich waren. Er wartete, bis sie vorbei waren, huschte dann über den Weg und drang auf der anderen Seite in die Plantage ein.
Hier stolperte er buchstäblich über einen Verwundeten, der nicht weit vom Weg lag. Der Mann schrie vor Schmerz laut auf, und Rawsthorne lief weg. Er fürchtete, daß der Lärm Aufmerksamkeit erregen würde. Er irrte in der Plantage umher und bemerkte plötzlich rings um sich Männer im Schatten der Bananenblätter. Sie kamen aus der Richtung von St. Pierre und bewegten sich ohne Ordnung oder Disziplin zwischen den Staudenreihen dahin.
Plötzlich sah er eine Flamme aufzüngeln und dann die wachsende Glut eines eben entfachten Feuers. Er zog sich erschrocken zurück und ging in eine andere Richtung, aber da stieß er auf ein anderes eben angezündetes Feuer. Überall um ihn herum leuchteten Feuer auf wie Glühwürmchen, und als er sich einem vorsichtig näherte, sah er ein Dutzend Männer. Sie saßen und lagen vor dem Feuer und rösteten unreife Bananen an Zweigen, um sie eßbar zu machen.
Da wußte er, daß er sich mitten unter Serruriers geschlagenen Streitkräften befand, und als er einen Lastwagen auf dem Weg hörte, den er eben überquert hatte, und scharfe Kommandos hinter sich, wußte er auch, daß diese Streitkräfte für die morgigen Kämpfe umgruppiert wurden, die sich vielleicht genau hier abspielen würden.
***
Dawson fühlte sich wohler, als die Place de la Libération Noire und die schrecklichen Bilder hinter ihm lagen. Seine Beine waren ganz in Ordnung, und er fand es nicht schwer, mit Wyatt Schritt zu halten, der es sehr eilig hatte. Obwohl der Stadtkern nicht mehr beschossen wurde, hatte sich der Kampflärm im Norden der Stadt sehr verstärkt, und Wyatt wollte unbedingt das Imperiale erreichen, bevor die Kämpfe sich dorthin zogen. Er mußte sich vergewissern, ob Julie in Sicherheit war.
Als sie den Platz und das Gebiet der Regierungsgebäude hinter sich hatten, trafen sie Menschen, erst vereinzelt, dann in größeren Zahlen. Bis sie am Imperiale ankamen, das glücklicherweise nicht weit entfernt war, herrschte schon ein großes Gedränge auf der Straße, und Wyatt wurde bewußt, daß er die Panik einer vom Krieg bedrohten Stadtbevölkerung erlebte.
Schon begannen die kriminellen Elemente die Gunst der Stunde zu nutzen, und die meisten der teuren Läden in der Nähe des Imperiale waren schon aufgebrochen und geplündert. Leichen auf dem Bürgersteig bewiesen, daß die Polizei hart durchgegriffen hatte, aber Wyatts Züge wurden hart, als er zwei tote Polizisten vor einem Juwelierladen hingestreckt sah – die Straßen von St. Pierre wurden zusehends unsicherer.
Er schob sich durch die schreiende, erregte Menge, rannte die Stufen zum Hotel hinauf und durch die Drehtür in die Halle. »Julie!« rief er. »Causton!«
Er erhielt keine Antwort.
Er rannte durch die Halle und stolperte über die Leiche eines Soldaten, die bei einem umgestürzten Tisch vor dem Eingang zur Bar lag. Er rief wieder und wandte sich dann an Dawson. »Ich gehe nach oben – sehen Sie nach, was Sie hier unten finden können!«
Dawson ging in die Bar, zertrat Glasscherben unter seinen Füßen und sah sich um. Irgendwer hat hier eine wilde Party gefeiert, dachte er. Er stieß mit seiner verbundenen Hand an eine halb leere Flasche Scotch und schüttelte traurig den Kopf. Er hätte gern einen getrunken, aber es war nicht die Zeit dafür.
Er wandte sich ab und empfand ein Triumphgefühl dabei. Nicht lange vorher hätte er sich zu keiner Zeit einen Drink entgehen lassen, aber seit er Sous-Inspecteur Roseaus Aufmerksamkeiten überlebt hatte, spürte er ein Wachsen seiner Stärke und ein Abfallen von Fesseln. So wie er Roseau widerstand, indem er hartnäckig schwieg, so widerstand er nun dem, was er als das Übelste in sich selbst erkannte, und damit gewann er eine neue Freiheit, die Freiheit, er selbst zu sein. Big Jim Dawson war tot, und ein junger Jim Dawson war geboren – vielleicht etwas älter im Aussehen und etwas ausgefranst, aber noch so neu und strahlend und unverdorben, wie dieser junge Mann vor so vielen Jahren gewesen war. Die einzige hinzugewonnene Eigenschaft war Weisheit, und vielleicht ein tiefes Schamgefühl für das, was er um des Erfolges willen sich selbst angetan hatte.
Er suchte das Erdgeschoß des Hotels ab, entdeckte nichts und kehrte in die Halle zurück, wo er Wyatt antraf. »Nichts hier unten«, sagte er.
Wyatts Gesicht sah hager aus. »Sie sind weg.« Er blickte auf den toten Soldaten mit dem blutigen Oberkörper neben dem umgekippten Tisch. Er war von Fliegen umsummt.
Dawson fragte kleinlaut: »Glauben Sie, daß – möglicherweise – die Soldaten sie mitgenommen haben?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wyatt tonlos.
»Es tut mir so leid, daß das passierte«, sagte Dawson. »Es tut mir leid, daß es durch meine Schuld passierte.«
Wyatt drehte den Kopf. »Wir wissen nicht, ob es durch Ihre Schuld passierte. Vielleicht wäre es sowieso passiert.« Er fühlte sich plötzlich schwindelig und setzte sich.
Dawson sah ihn besorgt an. »Wissen Sie, was?« sagte er. »Ich glaube, wir könnten beide etwas zu essen vertragen. Wann haben wir zuletzt was gegessen?« Er hielt ihm seine verbundenen Hände hin und sagte entschuldigend: »Ich würde es selbst besorgen, aber ich glaube nicht, daß ich eine Dose öffnen kann.«
»Was haben sie mit Ihnen gemacht?«
Dawson zuckte mit den Schultern und versteckte seine Hände hinter dem Rücken. »Mich geprügelt – rauh behandelt. Nichts, das nicht durchzustehen wäre.«
»Sie haben natürlich recht«, sagte Wyatt. »Wir müssen essen. Ich will sehen, was ich finden kann.«
Zehn Minuten später verschlangen sie kaltes Schmorfleisch direkt aus den Dosen. Dawson konnte mit der linken Hand so eben einen Löffel halten, und wenn er die Dose in die rechte Armbeuge klemmte, konnte er ganz gut allein essen. Es war schmerzhaft, denn seine linke Hand tat höllisch weh, wenn er den Löffel hielt, aber er wollte auf keinen Fall, daß Wyatt ihn fütterte wie ein Baby – das hätte er nicht ertragen können.
Er fragte: »Was tun wir jetzt?«
Wyatt horchte nach den Kanonen. »Ich weiß es nicht«, sagte er langsam. »Ich wünschte, Causton oder Julie hätten eine Nachricht hinterlassen.«
»Vielleicht haben sie das.«
»In ihren Zimmern war nichts.«
Dawson dachte darüber nach. »Vielleicht waren sie nicht in ihren Zimmern; vielleicht waren sie im Keller. Die Artillerie hat den Platz beschossen, und das ist nicht weit weg – vielleicht haben sie im Keller Schutz gesucht.«
»Es gibt keinen Keller.«
»Gut – dann haben sie vielleicht woanders Schutz gesucht. Wo würden Sie sich bei Beschuß hinflüchten?« Er drehte sich in seinem Stuhl um, und das Rohrgeflecht knarrte. »Ich kenne einen Mann, der den ›Blitz‹ in London erlebt hat; er sagte, daß es unter der Treppe am sichersten war. Vielleicht dort unter der Treppe.«
Mühsam legte er den Löffel hin und ging zu der Treppe hinüber. »He!« rief er. »Da ist etwas an die Tür geheftet.«
Wyatt ließ die Dose fallen und rannte Dawson hinterher. Er riß den Zettel von der Tür ab. »Causton ist verschwunden«, sagte er, »aber die andern sind in Rawsthornes Wagen abgefahren. Sie sind nach Osten gefahren – von der Bucht weg.« Er holte tief Luft. »Gott sei Dank dafür.«
»Ich bin so froh, daß sie weggekommen sind«, sagte Dawson. »Was tun wir jetzt – ihnen folgen?«
»Sie sollten das am besten tun«, sagte Wyatt. »Ich werde Ihnen alle notwendigen Hinweise geben.«
Dawson sah ihn überrascht an. »Ich? Was haben Sie vor?«
»Ich habe die Artillerie gehört«, sagte Wyatt. »Ich glaube, Favel bricht durch. Ich will mit ihm sprechen.«
»Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Wenn Sie sich hier mitten im Kampfgebiet herumtreiben, wird man Sie erschießen. Sie sollten sich lieber mit mir nach Osten absetzen.«
»Ich bleibe hier«, sagte Wyatt unbeugsam. »Jemand muß Favel über den Hurrikan informieren.«
»Was gibt Ihnen den Glauben, Favel wird auf Sie hören?« wollte Dawson wissen. »Was gibt Ihnen den Glauben, daß Sie ihn auch nur zu Gesicht bekommen werden? Es wird mörderisch zugehen in der Stadt, wenn Favel hereinkommt – Sie werden nicht durchkommen.«
»Ich schätze Favel nicht so ein. Ich glaube, er ist ein vernünftiger Mensch und kein Psychopath wie Serrurier. Wenn ich zu ihm gelange, wird er sicher auf mich hören.«
Dawson stöhnte, aber ein Blick auf Wyatts entschlossenes Gesicht zeigte ihm, daß alle weiteren Argumente nutzlos waren. Er sagte: »Sie sind ein gottverdammter sturer Trottel, Wyatt; ein Dummkopf, der sich absichtlich in die Nesseln setzt. Aber wenn das Ihre Einstellung ist, werde ich wohl bei Ihnen bleiben, wenigstens so lange, bis Sie Ihre Strafe haben.«
Wyatt sah ihn erstaunt an. »Das brauchen Sie nicht«, sagte er freundlich.
»Das weiß ich«, antwortete Dawson. »Aber ich bleibe eben. Vielleicht hatte Causton keine schlechte Idee – vielleicht ist hier der Stoff für ein gutes Buch.« Er warf Wyatt einen Seitenblick zu, halb spöttisch, halb ernst. »Sie würden einen guten Helden abgeben.«
»Lassen Sie mich aus dem Spiel, wenn Sie etwas schreiben!« warnte ihn Wyatt.
»Ach, wieso?« sagte Dawson. »Ein toter Held kann mich nichtverklagen.«
»Und ein toter Schriftsteller kann keine Bücher schreiben, Sie sollten lieber sehen, daß Sie wegkommen.«
»Ich bleibe«, sage Dawson. Er fühlte sich bei Wyatt in der Schuld. Er hatte ihm etwas zu vergelten; vielleicht würde sich eine Möglichkeit ergeben, wenn er in seiner Nähe blieb.
»Wie Sie wünschen«, sagte Wyatt gleichgültig und ging zur Tür.
»Warten Sie einen Augenblick!« sagte Dawson. »Wir wollen nicht sofort erschossen werden. Lassen Sie uns überlegen, was vor sich geht. Woraus schließen Sie, daß Favel durchbricht?«
»Wir hatten noch vor kurzem schweren Artilleriebeschuß – jetzt hat er aufgehört.«
»Aufgehört? Mir kommt vor, es ist noch immer dasselbe.«
»Hören Sie genau hin!« sagte Wyatt. »Die Kanonen, die man jetzt hört, sind im Osten und im Westen – in der Mitte ist nichts zu hören.«
Dawson hielt seinen Kopf schief. »Sie haben recht. Glauben Sie, Favel ist in der Mitte durchgebrochen?«
»Vielleicht.«
Dawson setzte sich hin. »Dann brauchen wir nicht mehr zu tun, als hier sitzenzubleiben, und Favel wird zu uns kommen. Machen Sie's sich bequem, Wyatt!«
Wyatt sah durch ein glasloses Fenster. »Sie könnten recht haben; die Straße ist jetzt verlassen – keine Menschenseele zu sehen.«
»Diese Leute haben Verstand«, sagte Dawson. »Niemand läßt sich gern von einer vorrückenden Armee erwischen, nicht einmal von Favels. Vielleicht ist er so vernünftig, wie Sie sagen, aber hinter einer Gewehrmündung ist Vernunft schwer zu erkennen. Es ist klüger, hier abzuwarten, was als nächstes passiert.«
Wyatt begann in der Halle auf und ab zu laufen, und Dawson beobachtete ihn und sah, wie er immer gereizter wurde. Er sagte plötzlich: »Haben Sie eine Zigarette? Meine haben mir die Polizisten weggenommen.«
»Meine haben sie mir auch abgenommen.« Wyatt hielt in seinem ruhelosen Laufen inne. »Da müßten in der Bar welche zu finden sein.«
Er ging in die Bar, fand ein Päckchen Zigaretten, steckte Dawson eine in den Mund und zündete sie an. Dawson zog kräftig daran und sagte dann: »Wann erwarten Sie diesen Hurrikan?«
»Er könnte morgen hiersein; vielleicht auch erst übermorgen. Ich habe ja leider keine Informationsmöglichkeiten mehr.«
»Zum Kuckuck, dann nehmen Sie es doch nicht so tragisch! Favel ist unterwegs, und Ihre Freundin ist in Sicherheit.« Um Dawsons Augen bildeten sich Fältchen, als Wyatts Kopf herumflog. »Nun, sie ist doch Ihre Freundin, oder nicht?«
Wyatt sagte nichts, daher wechselte Dawson das Thema. »Was soll Favel Ihrer Meinung nach wegen des Hurrikans unternehmen? Der Mann ist doch mit dem Krieg beschäftigt.«
»In zwei Tagen nicht mehr«, versprach Wyatt. »In zwei Tagen hat er keinen Krieg mehr, und wenn er in St. Pierre bleibt, hat er auch keine Armee mehr. Er muß auf mich hören.«
»Ich hoffe gewiß, er tut es«, sagte Dawson philosophisch. »Denn wir haben sonst keine Hoffnung, hier heil herauszukommen.« Er hob seine linke Hand, um die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, und stieß dabei gegen die Tischkante. Er zuckte zusammen, und ein unterdrückter Laut kam über seine Lippen.
Wyatt sagte: »Wir müssen wohl lieber einmal nach Ihren Händen sehen.«
»Die sind in Ordnung.«
»Sie wollen doch nicht, daß sie brandig werden. Lassen Sie sehen!«
»Sie sind in Ordnung, sage ich Ihnen doch«, protestierte Dawson.
Wyatt sah Dawsons schmerzverzerrtes Gesicht. »Ich will sie sehen«, sagte er. »Was sonstwo in Ordnung sein mag, wird in den Tropen brandig.« Er begann einen der Verbände zu lösen, und sein Atem ging zischend, als er sah, was darunter war. »Guter Gott! Was haben sie mit Ihnen gemacht?«
Die Hand war zu Brei geschlagen. Als er langsam den Verband abzog, kamen zu seinem Entsetzen zwei Fingernägel mit, und die Finger waren blau, wo sie nicht rot wie rohes Beefsteak aussahen.
Dawson hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt. »Sie hielten mich fest und schlugen mir mit einem Gummischlauch über die Hände. Ich glaube nicht, daß sie Knochen gebrochen haben, aber ich werde wohl für eine Weile keine Schreibmaschine bedienen können.«
Wyatt hatte sich einmal einen Finger in einer Tür gequetscht – eine unbedeutende Verletzung, aber die schmerzhafteste in seinem Leben. Der Fingernagel war blau geworden, aber der Arzt konnte ihn retten, und er hatte seit der Zeit sehr auf seine Hände aufgepaßt. Als er jetzt Dawsons Hände sah, wurde ihm ganz übel; er konnte sich vorstellen, wie die zerschlagenen Nervenenden schmerzen mußten. Er sagte: »Jetzt braucht es mir nicht länger leid zu tun, daß ich Roseau umbrachte.«
Dawson grinste schwach. »Mir hat es nie leid getan.«
Wyatt war es ein Rätsel. In dem Dawson steckte mehr, als er gedacht hatte; das war nicht mehr der Mann, der ein Auto stehlen wollte, weil er Angst hatte – es mußte etwas mit ihm vorgegangen sein. »Sie brauchen ein Einreibemittel hier drauf«, sagte er kurz. »Und eine Penicillinspritze würde auch nicht schaden. Da ist eine Apotheke hier drüben – ich will sehen, was sich finden läßt.«
»Machen Sie keine Dummheiten!« sagte Dawson erschrocken. »Es ist jetzt nicht ganz geheuer, über die Straße zu gehen.«
»Ich passe schon auf«, sagte Wyatt und ging zur Tür. Die Apotheke gegenüber war schon geplündert, aber er hoffte, die Medikamente würden noch unangetastet sein. Bevor er hinausging, suchte er sorgfältig die Straße ab, und als er keine Bewegung sah, trat er hinaus und rannte hinüber.
Der Laden war verwüstet, aber er kümmerte sich nicht um das Chaos, sondern ging geradewegs nach hinten durch zum Medikamentenlager, wo er in den Schubladen nach dem Gebrauchten suchte. Er fand Binden und Codeintabletten, aber keine Antibiotika, und er vergeudete nicht viel Zeit mit weiterem Suchen. An der Tür hielt er wieder an, um erst hinauszusehen, und er erstarrte, als er einen Mann über die Straße rennen und in einem Hauseingang Deckung nehmen sah.
Der Mann sah hinter einem Gewehrlauf hervor und winkte, und daraufhin liefen noch drei andere Männer die Straße entlang, sich an die Hauswände drückend und von Tür zu Tür huschend. Sie trugen keine Uniform, und Wyatt dachte, sie müßten die Vorhut von Favels Truppen sein. Sachte öffnete er die Tür und trat hinaus. Er hielt die Hände mit den Medikamenten und Binden über dem Kopf.
Merkwürdigerweise wurde er nicht sofort gesehen und war schon halb über die Straße, bevor er angerufen wurde. Er drehte sich zudem ankommenden Soldaten um, der ihn mißtrauisch musterte. »Hier sind keine von Serruriers Leuten«, sagte Wyatt. »Wo ist Favel?«
Der Mann machte eine Bewegung mit seinem Gewehr. »Was ist das hier?«
»Binden«, sagte Wyatt. »Für meinen Freund, der verletzt ist. Er ist dort drüben im Hotel. Wo ist Favel?«
Er spürte, wie eine Gewehrmündung in seinen Rücken stieß, aber er drehte sich nicht um. Der Mann vor ihm nahm sein Gewehr ein wenig zur Seite. »Zum Hotel«, befahl er. Wyatt zuckte mit der Schulter und schritt aus, umgeben von der kleinen Gruppe. Einer von ihnen schob sich mit schußbereitem Gewehr durch die Drehtür, und Wyatt rief auf englisch: »Bleiben Sie, wo Sie sind, Dawson! Wir haben Besuch.«
Der Mann vor ihm wirbelte herum und drückte ihm die Gewehrmündung in den Bauch. »Pren' gar'«, sagte er drohend.
»Ich habe meinem Freund nur gesagt, er sollte keine Angst haben«, sagte Wyatt unbewegt.
Er ging ins Hotel. Dawson saß gespannt in einem Sessel und sah den Soldaten an, der ihn mit einem Gewehr in Schach hielt. Er sagte: »Ich habe einige Binden und etwas Codein – das dürfte die Schmerzen etwas lindern.«
Favels Leute teilten sich auf und durchsuchten fachgerecht das Erdgeschoß. Sie fanden nichts und scharten sich wieder um ihren Anführer, den Wyatt für einen Sergeanten hielt, obwohl er keine Abzeichen trug. Der Sergeant stieß mit seinem Fuß gegen den toten Soldaten. »Wer hat den getötet?«
Wyatt, der über Dawson gebeugt stand, sah herum und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.
Der Sergeant kam herüber und betrachtete Dawsons Hände. »Wer hat das getan?«
»Serruriers Polizei«, sagte Wyatt, ohne aufzusehen.
Der Sergeant knurrte. »Dann liebst du Serrurier nicht. Gut!«
»Ich muß Favel finden«, sagte Wyatt. »Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.«
»Was für eine Nachricht ist das, Blanc?«
»Sie ist nur für Favel bestimmt. Wenn er möchte, daß Sie davon erfahren, wird er es Ihnen selbst sagen.«
Dawson rührte sich. »Was geht vor?«
»Ich versuche, diesen Mann dazu zu bewegen, mich zu Favel zu führen. Ich kann ihm nicht erzählen, daß ein Hurrikan kommt – er würde mir vielleicht nicht glauben, und dann würde ich Favel nie zu Gesicht bekommen.«
Der Sergeant sagte: »Du führst große Reden, ti blanc; ich hoffe, deine so wichtige Nachricht ist gut, sonst reißt dir Favel die Leber heraus.« Er machte eine Pause und sagte dann mit einem düsteren Lächeln: »Und mir auch.«
Er drehte sich um und gab eine Reihe von schnellen Befehlen, und Wyatt seufzte tief. »Gott sei Dank!« sagte er. »Jetzt kommen wir weiter.«