7
Favel sagte nachsichtig: »Daß Charles sich zu freuen scheint, bedeutet nicht, daß er den Ernst der Situation nicht erfaßt. Es ist nur, daß er es gern mit der Wirklichkeit zu tun hat – er ist kein Schattenboxer.«
Im Speisesaal des Imperiale war es unerträglich heiß, und Causton hätte es gern gesehen, wenn die Ventilatoren funktioniert hätten. Favel hatte versprochen, das städtische Elektrizitätswerk so schnell wie möglich wieder in Betrieb zu setzen, aber das hatte jetzt keinen Sinn mehr. Er löste das am Rücken klebende Hemd und sah zu Wyatt hinüber. Manning ist nicht der einzige frohe Mensch hier drin, dachte er; Wyatt hat endlich seine Ansichten bewiesen.
Aber wenn Wyatt sich auch entspannter fühlte, war er doch nicht sehr glücklich; es gab viel zu tun, und die Zeit verrann, während Favel inkonsequente Anordnungen traf. Er zuckte verärgert mit den Schultern und blickte auf, als Favel ihn direkt ansprach. »Was würden Sie mir raten, Mr. Wyatt?«
»Evakuieren«, sagte Wyatt. »Völlige Evakuierung von St. Pierre.«
Manning schnaufte verächtlich. »Wir sind im Krieg, verdammt! Wir können nicht zweierlei gleichzeitig tun.«
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Favel leise. »Charles, kommen Sie hierherüber – ich will Ihnen etwas zeigen.« Er nahm Manning an den Arm und führte ihn zu einem Tisch, wo sie sich über eine Karte beugten und leise miteinander sprachen.
Wyatt sah zu Causton hinüber und dachte daran, was der eben vor Beginn dieser Besprechung gesagt hatte. Er hatte ein wenig zynisch über Favel und seine Sorgen um ›sein Volk‹ gesprochen. »Natürlich macht er sich Sorgen«, hatte Causton gesagt. »St. Pierre ist die größte Stadt auf der Insel. Es ist die Quelle der Macht – deshalb ist er jetzt hier. Aber die Macht geht von der Bevölkerung aus und nicht von den Gebäuden, und als Politiker weiß er das sehr gut.«
Wyatt hatte gesagt, daß er Favel für einen Idealisten hielte, und Causton hatte gelacht. »Unsinn! Er ist ein durch und durch praktischer Politiker, und es gibt herzlich wenig Idealismus in der Politik. Serrurier ist nicht der einzige Mörder – Favel hat auch schon einiges geleistet.«
Wyatt dachte an das Blutbad auf der Place de la Libération Noire und war gezwungen, ihm recht zu geben. Aber er konnte nicht zugeben, daß Favel schlimmer sein sollte als Serrurier, nachdem er sie beide in Aktion erlebt hatte.
Favel und Manning kamen zurück, und Favel sagte: »Wir haben Sorgen, Mr. Wyatt. Die Räumung von Cap Sarrat durch die Amerikaner hat unsere Schwierigkeiten verzehnfacht – sie hat eine ganz neue Armee freigesetzt, die mir in die Flanke fallen kann.« Er lächelte. »Glücklicherweise können wir annehmen, daß Serrurier selbst das Kommando übernommen hat, und ich weiß schon von früher her, daß er ein schlechter General ist. Rocambeau auf meiner linken Flanke ist ein ganz anderer Fall, obwohl seine Leute müde und geschlagen sind. Ich sage Ihnen – wären die Positionen von Serrurier und Rocambeau vertauscht, wäre dieser Krieg in zwölf Stunden zu Ende, und ich wäre ein toter Mann.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Und in dieser Lage erwarten Sie von mir, daß ich die gesamte Bevölkerung evakuiere.«
»Es muß getan werden«, sagte Wyatt unnachgiebig.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Favel. »Aber wie?«
»Sie werden einen Waffenstillstand schließen müssen. Sie müssen …«
Manning warf den Kopf zurück und lachte schallend. »Einen Waffenstillstand«, höhnte er. »Glauben Sie, Serrurier wird einen Waffenstillstand annehmen, jetzt, da er weiß, daß er uns wie eine Nuß knacken kann?«
»Er wird es, wenn er weiß, daß ein Hurrikan kommt.«
Favel beugte sich vor und sagte: »Serrurier ist verrückt; er kümmert sich nicht um Hurrikane. Er weiß, daß es auf dieser Insel keine Hurrikane gibt. Das haben Sie mir selbst gesagt, als Sie mir von Ihrer Unterredung mit ihm berichteten.«
»Er muß es jetzt glauben«, rief Wyatt aus. »Wie könnte er sonst die Räumung von Cap Sarrat erklären?«
Favel winkte ab. »Er wird dafür leicht eine Erklärung finden. Die Amerikaner zogen ab, weil sie einen Angriff der mächtigen Armee Serruriers fürchteten, des Schwarzen Stars der Antillen. Die Amerikaner rannten, weil sie Angst hatten.«
Wyatt sah ihn verwundert an und wußte, daß Favel recht hatte. Ein Mann, der einen Hurrikan verbieten konnte, würde automatisch in dieser großspurigen und paranoischen Art denken. Widerwillig sagte er: »Vielleicht haben Sie recht.«
»Ich habe recht«, sagte Favel mit Bestimmtheit. »Was bleibt uns also jetzt zu tun? Ich will es Ihnen zeigen.« Er führte Wyatt zum Kartentisch. »Hier haben wir St. Pierre – und hier haben wir Ihre Linie, die die Flutgrenze markiert. Die Bevölkerung von St. Pierre wird evakuiert ins Negrito-Tal, aber vom Fluß weg. Während das durchgeführt wird, muß die Armee Serrurier und Rocambeau aufhalten.«
»Und das wird nicht so leicht sein«, sagte Manning.
»Ich werde es noch weniger leicht haben«, sagte Favel. »Ich brauche zweitausend Mann zur Überwachung der Evakuierung. Dann bleiben noch tausend zur Verteidigung gegen Serrurier im Westen und zweitausend, um Rocambeau im Osten aufzuhalten. Sie behalten natürlich die gesamte Artillerie.«
»Julio, haben Sie ein Herz!« schrie Manning. »Es läßt sich so nicht machen. Wir haben nicht genug Leute. Wenn wir nicht genug Infanterie zum Schutz der Geschützstellungen haben, werden sie überrannt.«
»Es muß zu machen sein«, sagte Favel. »Wir haben nicht viel Zeit. Wenn wir eine ganze Stadtbevölkerung evakuieren wollen, brauchen wir die Männer, um die Leute aus den Häusern zu jagen, notfalls mit Gewalt.« Er sah auf seine Uhr. »Es ist jetzt halb zehn. In zehn Stunden will ich kein einziges lebendes Wesen mehr in der Stadt finden, außer den Soldaten. Sie sind für die Evakuierung verantwortlich, Charles. Nehmen Sie keine Rücksicht! Wenn sie nicht gehen wollen, lassen Sie sie mit Bajonetten kitzeln; wenn das noch nicht genügt, erschießen Sie ein paar, um den andern Beine zu machen! Aber schaffen Sie sie hinaus!«
Wyatt hörte Favels unbewegte Anordnungen und erkannte zum erstenmal die Wahrheit hinter Caustons Andeutungen. Das war ein Mann, der die Macht wie eine Waffe handhabte und wie ein Politiker ein Volk als eine Masse und nicht als eine Gruppe von Individuen betrachtete. Vielleicht konnte er gar nicht anders sein; er hatte die Unbarmherzigkeit eines Chirurgen, der das Messer in einer Notoperation führt – um den Gesamtorganismus zu erhalten, war er bereit, einen Teil zu zerstören.
»Wir schaffen sie also hinaus«, sagte Manning. »Was dann?«
Favel zeigte auf die Karte und sagte leise: »Dann lassen wir Serrurier und Rocambeau St. Pierre einnehmen. Zum erstenmal in der Geschichte werden Menschen einen Hurrikan als Kriegswaffe einsetzen.«
Wyatt hielt den Atem an, bis in sein Innerstes erschüttert. Er trat vor und sagte mit brüchiger Stimme: »Das können Sie nicht tun.«
»Kann ich nicht?« Favel drehte sich zu Wyatt um. »Ich habe versucht, diese Männer mit Stahl zu töten, und wenn ich könnte, würde ich sie allesamt töten. Und sie wollen mich und meine Männer töten. Warum sollte ich sie nicht dem Hurrikan überlassen? Gott weiß, wie viele von meinen Männern ihr Leben lassen werden, um die Einwohner von St. Pierre zu retten; sie werden einer fünffachen Übermacht gegenüberstehen, und viele werden fallen – warum sollte der Hurrikan sie nicht rächen?«
Die flammenden blauen Augen schüchterten Wyatt für einen Augenblick ein. Dann sagte er: »Ich habe Sie gewarnt, um Menschenleben zu retten, nicht um sie zu vernichten. Das ist unzivilisiert.«
»Und die Wasserstoffbombe ist zivilisiert?« fuhr Favel ihn an. »Denken Sie nach! Was kann ich denn tun? Heute nachmittag, wenn die Evakuierung abgeschlossen ist, werden meine Leute im alleinigen Besitz von St. Pierre sein. Ich werde sie ganz gewiß nicht dort lassen. Wenn sie sich zurückziehen, werden die Regierungstruppen nachrücken und denken, wir seien auf der Flucht. Was sollten sie auch sonst denken? Ich bitte sie nicht darum, in St. Pierre zu ertrinken – sie dringen auf eigene Gefahr in die Stadt ein.«
»Wie weit werden Sie sich zurückziehen?« fragte Wyatt.
»Sie haben die Linie selbst gezogen«, sagte Favel ungerührt. »Wir werden, soweit wir dazu imstande sind, die Fünfundzwanzigmeter-Konturlinie halten.«
»Sie könnten weiter zurückgehen«, sagte Wyatt hitzig. »Sie würden Ihnen auf das höhere Gelände folgen.«
Favels Hand knallte hart auf den Tisch. »Ich habe keine Lust, noch weitere Schlachten zu schlagen. Es ist genug getötet worden. Die Arbeit kann der Hurrikan besorgen.«
»Das ist Mord.«
»Ein Krieg ist immer Mord«, sagte Favel und drehte Wyatt den Rücken zu. Causton kam herüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich nicht den Kopf schwer, wegen der Handlungsweise der Großen!« riet er. »Das ist gefährlich.«
»Das geht gegen alles, wofür ich bisher gearbeitet habe«, sagte Wyatt mit leiser Stimme. »Das habe ich nie beabsichtigt.«
»Otto Hahn und Lise Meitner hatten auch nichts Böses im Sinn, als sie 1939 das Uranatom spalteten.« Causton zeigte mit einer Kopfbewegung zu Favel hinüber. »Wenn Sie eine Möglichkeit zur Steuerung von Hurrikanen finden, sind es Männer wie diese, die entscheiden, wie sie einzusetzen sind.«
»Er könnte alle retten«, sagte Wyatt mit fester Stimme. »Das könnte er wirklich. Wenn er sich in die Berge zurückzöge, würden die Regierungstruppen folgen.«
»Ich weiß«, sagte Causton.
»Aber er tut es nicht. Er hält sie in St. Pierre fest.«
Causton kratzte sich am Kopf. »Das wird vielleicht nicht so einfach sein, wie es sich anhört. Er muß Rocambeau und Serrurier aufhalten, bis die Evakuierung abgeschlossen ist, dann muß er eine planmäßige Absetzbewegung durchführen, ohne dabei zerschlagen zu werden. Dann muß er eine Verteidigungslinie entlang der Fünfundzwanzigmeterlinie aufbauen, und das ist eine höllisch lange Front für fünftausend Mann – minus denen, die er bei all dem verloren haben wird. Und dazu muß er sich noch gegen den Sturm eingraben.« Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Eine äußerst riskante Operation.«
Wyatt sah Favel an. »Ich glaube, er ist genauso machtbesessen wie Serrurier.«
»Hören Sie, mein Freund«, sagte Causton, »denken Sie einmal vernünftig darüber nach! Er tut, was er unter diesen Umständen tun muß. Er hat etwas angefangen und muß es zu Ende führen, und in der heiklen Lage, in der er sich jetzt befindet, wird er jede greifbare Waffe einsetzen – auch einen Hurrikan.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Vielleicht ist er doch nicht so schlecht, wie ich dachte. Als er sagte, er wollte keine weiteren Schlachten, glaube ich, meinte er es ehrlich.«
»Das tut er vielleicht«, sagte Wyatt. »Solange er als Sieger hervorgeht.«
Causton grinste. »Sie lernen etwas über die Tatsachen des politischen Lebens. Manche Wissenschaftler sind doch verdammt naiv.«
Wyatt sagte mit Verzweiflung in seiner Stimme: »Ich wäre gern in die Atomphysik gegangen – mein Lehrer hätte es gern gesehen –, aber mir gefielen die Ergebnisse ihrer Arbeit nicht. Jetzt geht es mir hier ebenso.«
»Sie können nicht Ihr ganzes Leben lang in einem Elfenbeinturm leben«, sagte Causton schroff. »Sie können der Umwelt nicht entfliehen.«
»Vielleicht nicht«, sagte Wyatt mit gefurchter Stirn. »Aber etwas muß ich tun. Was wird aus Julie und den andern? Wir müssen etwas unternehmen.«
Causton schluckte trocken. »Woran denken Sie denn?« fragte er vorsichtig.
»Wir müssen irgend etwas tun«, sagte Wyatt zornig. »Ich brauche ein Fahrzeug – ein Auto oder etwas – und eine Eskorte für einen Teil des Weges.«
Causton brauchte eine Weile, um seine Gemütsregungen wieder zu ordnen. Schließlich sagte er: »Sie haben doch nicht etwa die Absicht, mitten unter Rocambeaus Streitkräfte zu fahren?«
»Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein«, sagte Wyatt. »Mir fällt nichts anderes ein.«
»Nun, ich würde Favel damit jetzt nicht belästigen«, riet Causton. »Er hat zu tun.« Er musterte Wyatt nachdenklich und überlegte, ob er ganz bei Verstand sein konnte. »Außerdem wird Favel Sie nicht gern verlieren wollen.«
»Was meinen Sie damit?« wollte Wyatt wissen.
»Er wird erwarten, daß Sie den Himmel beobachten und ihm einen Zeitplan für seine Operationen aufstellen.«
»Ich gebe mich zu so etwas nicht her«, sagte Wyatt mit zusammengebissenen Zähnen.
»Also, jetzt hören Sie!« sagte Causton hart. »Favel hat an sechzigtausend Menschen zu denken – und Sie denken tatsächlich nur an einen. Er schafft die Leute aus St. Pierre heraus, bedenken Sie, – und das ist für seine militärischen Pläne nicht notwendig. In Wirklichkeit könnte dieser Versuch ihn sogar verdammt leicht ruinieren. Ich überlasse es Ihnen zu beurteilen, wo Ihre Pflicht liegt.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon.
Wyatt sah ihm niedergeschmettert nach. Causton hatte natürlich recht; leider nur zu recht. Er war in dieser Sache mit drin, ob es ihm paßte oder nicht – durch die Rettung der Bevölkerung von St. Pierre würde er mithelfen, die Armee der Regierung zu vernichten. Vielleicht war es besser, es andersherum zu sehen – durch seine Mithilfe bei der Vernichtung der Armee würde er die Bevölkerung retten. Er dachte daran, aber er fühlte sich nicht viel wohler dabei.
***
Um elf Uhr kochte St. Pierre über. Mannings Plan war brutal einfach. Seine Evakuierungskommandos begannen gleichzeitig im Osten und Westen, gleich hinter den kampfbereiten Verteidigungskräften, und warfen die Einwohner auf die Straßen, systematisch von Haus zu Haus gehend. Die Leute durften mitnehmen, was sie am Leibe hatten, und soviel Lebensmittel, wie sie tragen konnten – sonst nichts. Das Ergebnis war, als hätte jemand mit einem Stock in ein Ameisennest gestochen und ihn dann einmal umgedreht.
Manning gab seinen Offizieren Stadtpläne, in die rote und blaue Linien eingezeichnet waren. Die roten Linien bezeichneten die Verbindungswege für die Armee; Zivilisten war es bei Todesstrafe verboten, diese Straßen zu betreten – die Armee mußte um jeden Preis geschützt und versorgt werden, und es durfte ihr niemand im Weg stehen. Die blauen Linien führten zu der Hauptstraße, die durch das Negrito-Tal hinaufführte, der Straße, auf der Wyatt mit Julie gefahren war, vor hundert Jahren, wie ihm jetzt scheinen mochte.
Es gab Zwischenfälle. Die blauen Linien galten für Einbahnverkehr, und diese Verkehrsregelung wurde mit Gewalt durchgesetzt. Wer sich gegen den Strom bewegen wollte, wurde brüsk zur Umkehr aufgefordert, und wenn das nicht genügte, half eine Bajonettspitze überzeugend nach. Aber manchmal war für einen verzweifelten Vater, der seine Familie suchte, sogar eine Bajonettspitze nicht wirksam genug, und das Gewehr hinter dem Bajonett mußte ein lauteres Wort sprechen. Die Leiche wurde an den Wegrand geschleppt, damit sie den ununterbrochenen Strom von hastenden Füßen nicht behinderte.
Es war brutal. Es war notwendig. Es wurde durchgeführt.
Causton trug die Armbinde eines Rebellenoffiziers und durchstreifte die Stadt. An all den Brennpunkten dieser geplagten Welt, von denen er in seinem Berufsleben berichtet hatte, war ihm so etwas noch nicht begegnet. Er war gleichzeitig entsetzt und begeistert – entsetzt über das ungeheure Ausmaß der Tragödie, die er miterlebte, und begeistert, weil er der einzige Reporter am Ort war. Da die Batterien seines Tonbandgerätes leer waren, machte er sich Notizen in Stenografie, die er als junger Reporter gelernt hatte, in Heften aus einem geplünderten Papierwarengeschäft, und beschrieb den Schauplatz für die nachrichtenhungrige Welt.
Die Menschen waren apathisch. Seit Jahren hatte Serrurier systematisch die Führerpersönlichkeiten herausgezogen, und was blieb, waren die Schafe. Sie weigerten sich mit Worten, wenn sie aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen, aber der Anblick der Gewehre brachte sie zum Schweigen, und sobald sie auf der Straße waren, reihten sie sich gehorsam in die lange Kolonne ein und hasteten mit voran, mit Favels Leuten auf den Fersen, die sie zu größerer Eile anfeuerten. Es gab unvermeidliche Verwirrungen und Engpässe, als die große Masse der Bevölkerung auf der Straße war; an einer Ecke, wo zwei breite Straßen in eine dritte einmündeten, herrschte ein Chaos – ein wirres, unentwirrbares Knäuel von Leibern, das Favels schimpfende Unteroffiziere erst nach zwei Stunden aufgelöst hatten. Und als diese Verstopfung beseitigt war, lagen zwei Dutzend Totgetrampelte und Erstickte auf der Straße, als stumme Zeugen der Anarchie.
Causton fuhr in seinem geliehenen Wagen durch die Stadt und wandte sich dann zum Negrito. Er suchte sich auf seiner Karte die schnellste Verbindung auf einer rot markierten Strecke. Auf einer Nebenstraße gelangte er zu der Hauptstraße ins Negrito-Tal, nicht weit von der Stelle, wo Serruriers Artillerie erbeutet wurde, und er sah die lange Flüchtlingskolonne in einiger Entfernung dahinziehen. Hier war eine größere Gruppe von aufständischen Soldaten, etwa zweihundert Mann stark. Sie suchten arbeitsfähige Männer aus dem vorbeiziehenden Flüchtlingsstrom heraus, stellten sie zu Einheiten zusammen und führten sie weg. Neugierig folgte Causton einer der Einheiten, um zu sehen, wohin sie gebracht wurden. Er sah sie unter bewaffneter Aufsicht graben. Favel baute seine letzte Abwehrlinie an der Fünfundzwanzigmeter-Konturlinie aus.
***
Als Causton zu seinem Wagen zurückkehrte, sah er einen kleinen Leichenhaufen am Wegrand – die gewissenhaften Arbeitsverweigerer, die nicht für Favels Sieg schaufeln wollten.
Krank von den grausigen Bildern, wollte er sich am liebsten weiter oben im Negrito-Tal in Sicherheit bringen. Statt dessen wendete er aber und fuhr in die Stadt zurück, weil er dort noch zu tun hatte, und sein Beruf war sein Leben. Er fuhr zum Hauptquartier im Imperiale zurück und erkundigte sich nach Wyatt. Der war gerade auf dem Dach und betrachtete den Himmel.
Causton sah auch hinauf und bemerkte einige zerfaserte Wolkenschleier, die kaum merklich die glühende Sonne verschleierten. »Tut sich schon was?« fragte er.
Wyatt drehte sich um. »Diese Wolken«, sagte er. »Mabel ist im Anzug.«
Causton sagte: »Die sehen nicht nach viel aus. Solche Wolken haben wir auch in England.«
»Sie werden den Unterschied bald kennenlernen.«
Causton kniff ein Auge zu. »Haben Sie Ihre Aufsässigkeit überwunden?«
»Habe ich wohl«, sagte Wyatt düster.
»Ich habe einen Gedanken, der Sie trösten könnte«, sagte Causton. »Die Leute, die es erwischen wird, sind Serruriers Soldaten, und Soldaten werden fürs Sterben bezahlt. Das kann man von den Frauen und Kindern von St. Pierre nicht sagen.«
»Wie sieht es draußen aus?«
»Grausig«, sagte Causton. »Es hat Plündereien gegeben, aber Favels Leute haben ihnen schnell ein Ende gemacht.« Er unterließ es mit Absicht zu erwähnen, mit welchen Methoden die Leute in Marsch gesetzt wurden; statt dessen sagte er: »Das Üble ist, daß nur eine benutzbare Straße aus der Stadt hinausführt. Haben Sie einen Begriff, wieviel Straßenfläche eine Stadtbevölkerung bedeckt?«
»Ich bin noch nie darauf gekommen, das auszurechnen«, sagte Wyatt.
»Ich habe einige schnelle Berechnungen angestellt«, sagte Causton. »Und ich kam auf zwanzig Kilometer. Da sie nur etwa drei Kilometer pro Stunde zurücklegen, braucht die Kolonne mehr als sechs Stunden, bis sie einen Punkt passiert hat.«
»Ich habe eine Stunde lang Karten studiert«, sagte Wyatt. »Favel wollte, daß ich sichere Gebiete für die Leute anzeichnete. Ich tat mein Bestes, prüfte die Konturlinien, aber – er schlug mit der Faust in die flache Hand »sicher? Ich weiß nicht. Diese Stadt hätte einen Hurrikanplan fertig in der Schublade haben müssen«, sagte er böse.
»Das ist nicht Favels Schuld«, stellte Causton zutreffend fest. »Sie müssen diesen Vorwurf Serrurier machen.« Er sah auf die Uhr. »Ein Uhr, und Rocambeau ist noch nicht angetreten. Er muß mehr abbekommen haben, als wir gedacht hatten. Haben Sie schon gegessen?«
Wyatt schüttelte den Kopf, und Causton sagte deshalb: »Lassen Sie uns sehen, was wir auftreiben können. Es könnte die letzte Mahlzeit für eine ziemliche Weile sein.«
Sie gingen nach unten und wurden von Manning abgefangen, der gerade hereingekommen war. »Wann wird dieser Hurrikan hiersein?« fragte er abrupt.
»Ich kann es noch nicht sagen«, sagte Wyatt. »Aber geben Sie mir noch zwei Stunden, dann sage ich es Ihnen genau.«
Manning war enttäuscht, sagte aber nichts. Causton sagte: »Gibt es hier etwas zu essen? Ich werde allmählich hungrig.«
Manning grinste. »Wir haben ein paar verirrte Hühner gefunden. Kommen Sie mit!«
Er nahm sie mit in das Büro des Geschäftsführers, das jetzt als Offiziersmesse diente, und dort trafen sie Favel beim Essen an. Er fragte Wyatt ebenfalls aus, viel gründlicher als Manning. Dann ging er wieder in seinen Kartenraum und ließ sie in Ruhe essen.
Causton nagte an einem Hühnerbein, hielt auf einmal inne und zeigte damit auf Manning. »Welche Rolle spielen Sie bei dieser ganzen Geschichte?« fragte er. »Wie sind Sie an Favel geraten?«
»Geschäftliche Dinge«, sagte Manning leichthin.
»Zum Beispiel fachliche Beratung bei der Organisation eines Krieges?«
Manning grinste. »Favel braucht dafür keinen Lehrer.«
Causton blickte tiefsinnig drein. »Ah«, sagte er, als wäre ihm plötzlich die Erleuchtung gekommen. »Ihr Geschäft ist das Geschäft der AFC.«
Wyatt sah auf. »Was ist das?«
»Die Antilles Fruit Corporation – die große Fruchtgesellschaft. Big Business in diesen Gegenden. Ich hatte mich schon gewundert, woher Favel das Geld hat.«
Manning legte einen Knochen hin. »Ich werde Ihnen das schwerlich auf die Nase binden. Einem Reporter? Oder dachten Sie das?«
»Nicht auf normale Art«, gab Causton zu. »Aber wenn ein Reporter ungefähr richtig getippt hätte und geschickt genug wäre, den Rest aus Ihnen herauszuholen, würden Sie doch Wert darauf legen, daß er die Geschichte richtig berichtete, nicht wahr? Von Ihrem Standpunkt, meine ich.«
Manning lachte. »Sie gefallen mir, Causton; das tue ich wirklich. Nun, ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen – aber sie ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Zitieren Sie mich bitte nicht! Sagen wir, ich habe eine kleine nette Unterhaltung hier mit Wyatt und Sie belauschen uns mit Ihren großen Reporterohren.« Er sah Wyatt an. »Wir nehmen einmal an, da war eine große amerikanische Gesellschaft, die zu einer Zeit eine Menge Kapital auf San Fernandez investiert hatte, und all ihr Vermögen wurde von Serrurier enteignet.«
»AFC«, sagte Causton.
»Könnte sein«, sagte Manning. »Aber ich sage so etwas nicht laut. Die Geschäftsleitung dieser Gesellschaft war natürlich stinkwütend – ihre Verluste betrugen über fünfundzwanzig Millionen Dollar –, und die Aktionäre waren auch nicht begeistert. Das ist die eine Hälfte der Geschichte. Die andere ist Favel – er ist der Mann, der etwas ändern konnte – er hatte seine eigenen Gründe. Aber er hatte kein Geld, um Waffen zu kaufen und Soldaten auszubilden, was war also natürlicher, als daß sie sich zusammentaten?«
»Aber warum wählte man Sie als Verbindungsmann?« fragte Causton.
Manning zuckte mit den Schultern. »Ich arbeite in dieser Branche – ich verdinge mich. Sie wollten einen Amerikaner; das hätte nicht gut ausgesehen. Ich ging jedenfalls mit dem Geld der Gesellschaft einkaufen – es gibt einen Mann in der Schweiz, einen Amerikaner, der so viele Kanonen hat, daß es für die ganze britische Armee reichen würde, und erst recht für unsere mickrige Angelegenheit. Favel wußte genau, was er haben wollte – Gewehre, Maschinengewehre, Mörser, die einen schweren Koffer abschießen können und doch leicht zu transportieren sind, rückstoßfreie Gewehre und einige Gebirgshaubitzen. Er schickte seine besten Leute von der Insel weg und errichtete eine Ausbildungsstätte – und ich will Ihnen lieber nicht sagen, wo. Er heuerte einige Artilleriestruktoren zur Ausbildung seiner Leute an und begann dann nach und nach wieder mit der Rekrutierung auf der Insel. Als er genug Leute hatte, schickten wir die Waffen her.«
Wyatt fragte ungläubig: »Soll das heißen, daß all dies hier unternommen wurde, damit eine Gesellschaft ein paar Dollar mehr Profit machen kann?«
Manning sah ihn scharf an, und seine Hand ballte sich zur Faust. »Das wurde es nicht«, sagte er hart. »Wie kommen Sie auf diese Idee?«
Causton sagte eilig: »Bitte vergeben Sie meinem jungen Freund. Er ist noch naß hinter den Ohren – er versteht das Leben noch nicht, ich hatte schon Grund, ihm das zu sagen.«
Manning zeigte mit dem Finger auf Wyatt. »Sagen Sie das Favel, er läßt Ihnen den Kopf abhacken. Jemand mußte Serrurier beseitigen, und Favel war der einzige, der den Mut dazu hatte. Und es ließ sich nicht verfassungsmäßig machen, denn Serrurier hatte die Verfassung abgeschafft, also mußte es mit Blut gemacht werden – ein chirurgischer Eingriff. Es ist bedauerlich, aber nicht zu ändern.«
Er lehnte sich zurück und grinste Causton an. »Unsere hypothetische Fruchtgesellschaft hat vielleicht einen Tiger beim Schwanz gepackt – Favel läßt sich nicht als Strohmann verwenden. Er ist für Reformen, und er wird auf fairen Löhnen und guten Arbeitsbedingungen in den Plantagen bestehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gehöre der Gesellschaft nicht an; es kratzt mich nicht, wenn Favel die Hand beißt, die ihn fütterte.«
Wyatt schauderte es. Es schien, daß Causton wieder recht hatte. Er fand sich in dieser verworrenen Welt der Politik nicht zurecht. Es war eine Welt, in der sich Schwarz und Weiß zu einem unbestimmten Grau vermischten, wo böse Taten einem guten Zweck dienten und gute Taten verdächtig waren. Das war nicht seine Welt, und er wünschte sich weit weg, zurück in seine eigene Sphäre der Zahlen und Formeln, wo er keine anderen Sorgen hatte als, ob ein Hurrikan sich ordentlich benehmen würde oder nicht.
Er wollte sich entschuldigen, aber er merkte, daß Manning immer noch mit Causton sprach. »… wird besser sein, wenn San Fernandez Kapital für die Entwicklung ansammeln kann, statt daß alles in Serruriers Taschen fließt. Ein bißchen zusätzliches Geld könnte hier schon einen gewaltigen Wandel schaffen – der Insel könnte es gutgehen.«
Causton fragte: »Kann man Favel trauen?«
»Ich glaube schon. Er hat liberale Neigungen, aber er ist kein saftloser Liberalist, und er hat nicht die Absicht, sich von den Russen über den Schnabel nehmen zu lassen, wie Castro. Er wird auch den Amerikanern die Stirn bieten.« Manning grinste. »Sie werden ihm eine ganze Menge mehr für Cap Sarrat bezahlen müssen, als sie bisher bezahlt haben.« Er wurde ernst. »Er wird ein Diktator sein, weil er zur Zeit kaum etwas anderes sein könnte. Serrurier hat dem Volk das Rückgrat gebrochen, hat die natürlichen Führer umgebracht und den Leuten den Mumm genommen – sie taugen noch nicht zum Selbstregieren. Aber ich glaube nicht, daß er ein schlechter Diktator sein wird, sicher kein so schlechter wie Serrurier.«
»Hm«, machte Causton. »Er wird sich eine Menge Kritik von wohlmeinenden Tröpfen anhören müssen, die nicht wissen, was hier vorgegangen ist.«
»Das wird ihn nicht stören«, sagte Manning. »Er kümmert sich keinen Dreck darum, was andere Leute über ihn sagen. Und er kann ebenso gut austeilen wie einstecken.«
Der Tisch zitterte, und dann kam ein Donnergrollen aus dem Osten. Manning hob den Kopf. »Der Tanz geht los – Rocambeau greift an.«
***
Julie spähte durch einen Spalt in der Tür des Wellblechschuppens und achtete nicht auf die schrille Stimme von Mr. Warmington, die hinter ihr auf einer Kiste hockte. Es schienen immer noch viele Lastwagen in dem Steinbruch zu sein, obwohl sie viele hatte wegfahren hören. Und es waren immer noch viele Soldaten da. Manche standen in Gruppen herum, rauchten und unterhielten sich, und manche liefen geschäftig hin und her. Sie war froh, daß der Offizier es nicht für nötig gehalten hatte, eine Wache vor den Schuppen zu stellen; er hatte nur den Riegel an der Außenseite der Tür geprüft, bevor er sie hineingeschoben hatte.
Sie hatte es mit Mrs. Warmington nicht einfach gehabt – die Frau war unmöglich. Als sie festgenommen und in den Steinbruch gebracht wurden, hatte Mrs. Warmington versucht, sich herauszureden, und hatte ihren Standpunkt laut schreiend an den Mann zu bringen versucht – daß sie eine Amerikanerin sei und nicht wie eine Verbrecherin behandelt werden dürfte, wo sie doch nur ihr Leben und ihre Ehre verteidigt hatte. Sie hatte keinen Erfolg damit gehabt, weil niemand Englisch verstand, auch wenn sie noch so laut schrie. Man hatte sie in den Schuppen gesperrt und, wie Julie hoffte, vergessen.
Sie drehte sich um, ärgerlich über Mrs. Warmingtons Monolog. »Um Gottes willen, halten Sie den Mund!« sagte sie überdrüssig. »Was wollen Sie denn – daß sie hereinkommen und Sie mit der Pistole zur Ruhe bringen? Das tun sie, das können Sie mir glauben, sobald Sie ihnen so auf die Nerven fallen wie mir.«
Mrs. Warmingtons Mund klappte zu – aber nicht für lange. »Dies ist unerträglich«, sagte sie im Tonfall des armen Opfers. »Das Außenministerium wird davon erfahren, wenn ich nach Hause komme.«
»Wenn Sie nach Hause kommen«, sagte Julie brutal. »Sie haben einen Mann erschossen. Sie haben ihn mit Eumenides' Pistole erschossen.« Sie zeigte mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Denen wird das nicht gefallen.«
»Aber die wissen es doch nicht«, sagte Mrs. Warmington gerissen. »Die denken, es war dieser Grieche.«
Julie sah sie einen Augenblick voll Abscheu an. »Sie wissen es jetzt noch nicht«, sagte sie. »Aber sie werden es wissen, wenn ich es ihnen sage.«
Mrs. Warmington schluckte schwer. »Aber das würden Sie doch nicht tun – nein – nicht wahr?« Sie wurde kleinlaut, als sie den Ausdruck auf Julies Gesicht sah.
»Ich werde es tun, wenn Sie jetzt nicht Ihre Klappe halten«, sagte Julie kalt. »Sie haben Eumenides umgebracht – Sie haben ihn umgebracht, so als hätten Sie selbst auf ihn geschossen und ein Bajonett in seinen Rücken gestochen. Er war ein netter Kerl; nicht sehr tapfer vielleicht – wer ist das schon? –, aber ein netter Kerl. Er hatte das nicht verdient. Ich werde das nicht vergessen, wissen Sie, deshalb sehen Sie sich lieber vor! Wenn ich Sie hier auf der Stelle töte, ist das kein Mord, sondern eine ordentliche Hinrichtung.«
Julie sprach ohne besondere Betonung, aber ihre Worte ließen Mrs. Warmington frieren. Sie zog sich voll Grauen in eine Ecke zurück. Julie sagte: »Also kommen Sie mir nicht zu nahe, Sie Windmacherin, ich könnte sonst in Versuchung kommen! Ich könnte Sie töten, es würde mir nicht schwerfallen.« Ihre Stimme klang gleichgültig, aber als sie auf ihre Hände blickte, sah sie, daß sie zitterten.
Sie drehte sich um und spähte wieder durch den Spalt in der Tür, über sich selbst erstaunt. Nie vorher hatte sie sich auf diese Art gegen einen anderen Menschen gewandt, mit der klaren Absicht, ihn zu verletzen, und nie vorher hatte sie vor Wut gezittert. Viel zu lange hatte sie die Höflichkeit gewahrt, die ihr als Stewardeß eingedrillt worden war, und es tat ihr gut, diesem unnützen und gefährlichen Weib die Peitsche zu geben. Sie spürte Kraft in sich aufsteigen und wußte, daß sie richtig gehandelt hatte.
Sie spürte etwas warm über ihren Schenkel rinnen und sah nach dem trocknenden Blut an ihrem Arm, wo sie mit einem Bajonett gestochen worden war. Es war viel Betrieb draußen, aber niemand schien sich sehr für den Schuppen zu interessieren. Deshalb zog sie ihre Hose aus und untersuchte die Wunde an ihren Beinen.
Unglaublicherweise hatte Mrs. Warmington ihre Handtasche behalten, als sie den Berg hinuntergezerrt wurden, und Julie hob sie jetzt auf und kippte den Inhalt auf den Boden aus. Sie enthielt nicht mehr als den üblichen Kram in einer Damenhandtasche: Lippenstift, Puderdose, Kamm, Geldscheine und Münzen – eine ganze Menge davon, Reiseschecks, Federhalter, Notizbuch, ein Päckchen Papiertaschentücher, ein Röhrchen Aspirin, eine kleine Flasche Alkohol, der sich als Bourbon herausstellte, eine Kollektion Haarnadeln, einige Papierfetzen – und einen widerlichen Geruch nach verschüttetem Gesichtspuder.
Sie rührte mit ihrem Finger in dem Häufchen und sage sardonisch: »Sie haben Ihre Juwelen verloren.« Sie nahm die Papiertaschentücher und legte sie auf ihre Wunden. Sie waren nicht allzu schlimm; die schlimmste war nicht einmal einen Zentimeter tief, aber sie bluteten stark, und sie wußte, wenn sie zu bluten aufhörten, würden ihre Beine sehr steif werden und sich nur unter Schmerzen bewegen lassen. Sie nahm zwei von den Aspirintabletten und stopfte sich den halben Inhalt des Röhrchens in ihre Blusentasche. Als sie die Aspirintabletten hinunterschluckte, wurde ihr klar, daß ihnen Wasser fehlte, und sie überlegte, was sich da machen ließe. Dann zog sie ihre Hose wieder an und warf Mrs. Warmington den Rest der Taschentücher zu. »Machen Sie sich sauber!« befahl sie barsch und ging wieder an die Tür.
Sie beobachtete die Szene eine lange Zeit. Der Steinbruch bildete offenbar einen praktisch gelegenen Militärpark, nahe der Hauptstraße, aber abseits vom Verkehrsstrom. Es fuhren viele Lastwagen herein und hinaus, aber sie bemerkte, daß allmählich immer weniger Fahrzeuge stehenblieben. Sie hoffte für einen Augenblick, daß alle Soldaten wegfahren und die in dem Schuppen eingesperrten weißen Frauen vergessen würden. Und sie überlegte, wie groß die Aussicht darauf wohl war.
Nach einer Weile wurde sie müde davon, den Betrieb zu beobachten, der sich doch nicht änderte, und begann den Schuppen zu untersuchen. Mrs. Warmington saß stumm in ihrer Ecke und sah Julie angstvoll an, aber Julie ignorierte sie. Die meisten der Kisten waren leer, aber hinter einer großen Teekiste, die mit allerlei altem Eisen gefüllt war, fand sie einen Vorschlaghammer und eine Spitzhacke, beide in brauchbarem Zustand.
Julie hob den Hammer und sah sich dann die Wände des Schuppens an. Der hölzerne Rahmen war morsch, und die Nägel, die die rostigen Wellblechtafeln festhielten, waren verrostet, und sie hielt es nicht für schwierig, sich einen Ausgang zu verschaffen, vorausgesetzt, daß niemand in Hörweite war – was kaum der Fall sein würde. Sie stellte die Werkzeuge hinter der Tür bereit, wo sie nicht gleich zu sehen waren, und begab sich wieder an ihren Ausguck. Der Vormittag ging dahin, und langsam leerte sich der Steinbruch von Fahrzeugen. Als die Sonne höher stieg, erwärmte sich der Schuppen auf Backofenhitze, und die Eisenwände wurden zu heiß zum Anfassen. Die zwei Frauen saßen da und schwitzten. Sie hörten das laute Schalten und das Aufheulen der Motoren, während die schweren Lastwagen hin und her fuhren.
Sie dachte darüber nach, was aus Rawsthorne geworden sein mochte, und kam zu dem Schluß, daß er wohl auch festgenommen oder gar getötet worden war. Es war nur das glückliche Dazwischentreten des Negeroffiziers gewesen, das sie gerettet hatte, und vielleicht hatte Rawsthorne nicht soviel Glück gehabt. Sie hielt sich kühl die Tatsache vor Augen, daß sie sterben würde, wenn sie nicht aus diesem Schuppen herauskäme. Rawsthorne hatte den Steinbruch schon als unsicheren Aufenthalt während des Hurrikans bezeichnet. Ganz gleich, wie der Bürgerkrieg ausgehen sollte, sie würde sterben, wenn es ihr nicht gelänge zu fliehen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Wyatt. Es war so schade, daß sie jetzt, da sie endlich zusammengekommen waren, schon wieder auseinandergerissen wurden und vielleicht beide sterben sollten. Im Augenblick hielt sie nicht viel von ihren eigenen Chancen, und obwohl sie nicht wußte, was aus Wyatt geworden war, bezweifelte sie, daß er den Krieg in St. Pierre überlebt haben könnte.
Sie wurde von Mrs. Warmington aus ihren Gedanken herausgerissen. »Ich bin durstig.«
»Das bin ich auch«, sagte Julie. »Halten Sie den Mund!« Etwas ging draußen vor – oder ging vielmehr nicht mehr vor –, und sie winkte schnell mit der Hand und bedeutete Mrs. Warmington, still zu sein. Es war plötzlich ruhig geworden. Da war noch der Verkehrslärm von der Hauptstraße, aber das Lastwagengebrumm im Steinbruch hatte aufgehört. Sie spähte wieder durch den Spalt in der Tür und fand den Steinbruch leer, bis auf einen Soldaten, der gut zehn Meter entfernt im Schatten hockte und zu dösen schien. Da war also doch eine Wache.
Julie drehte sich um, riß Mrs. Warmington die Handtasche aus den Händen und nahm das Bündel Banknoten heraus. Mrs. Warmington flog hoch. »Lassen Sie das drin – das gehört mir!«
»Sie wollen doch Wasser haben, oder nicht?« fragte Julie. »Vielleicht können wir etwas Wasser kaufen.« Sie betrachtete das dicke Notenbündel. »Vielleicht können wir uns sogar die Freiheit erkaufen – wenn Sie still sind.« Mrs. Warmington schloß den Mund unvermittelt, und Julie sagte: »Ich bin in dieser Sprache nicht zu Hause, aber ich will es versuchen; das Geld wird schon deutlich genug sprechen.«
Sie ging an die Tür und sah durch den Spalt. »He – Sie dort!«
Der Soldat drehte sich träge um und blinzelte zur Tür. Er sah etwas, das nach einer großen Banknote aussah, aus der Tür herausragen und langsam auf und ab wedeln. Er stand auf, nahm sein Gewehr und näherte sich dem Schuppen mit einer Mischung aus Vorsicht und Habgier. Die Banknote verschwand, als er danach greifen wollte, und eine weibliche Stimme sagte: »L'eau … agua. Können Sie uns was besorgen?«
Julie sah das verdutzte Gesicht des Mannes und sagte dringlich: »Bringen Sie uns Wasser! Wasser … l'eau … agua. Sie kriegen das Geld.«
Der Soldat kratzte sich am Kopf, und dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ah – l'eau!«
»Ja, richtig. Sie kriegen das Geld – das Geld, hier, sehen Sie – wenn Sie uns l'eau bringen.«
Er plapperte in einem unverständlichen Dialekt los und endete mit: »L'argent … la monnaie … pour l'eau?«
»Richtig, mein Lieber; du hast's begriffen.«
Er nickte und ging davon, und Julie seufzte erleichtert. Ihre Kehle war ausgetrocknet und rauh wie Sandpapier, und der Gedanke an kühles Wasser machte sie einen Augenblick schwindeln. Aber da war etwas zu tun, bevor der Soldat zurückkam. Es war nicht wahrscheinlich, daß er die Tür aufschließen würde – vielleicht hatte er gar keinen Schlüssel –, und wie sollte er das Wasser in den Schuppen bringen?
Sie ergriff den schweren Hammer und beklopfte vorsichtig den unteren Rand der Tür, wo sie am schwächsten zu sein schien. Dann schwang sie den Hammer wie einen Golfschläger und ließ ihn einmal gegen das morsche Holz sausen. Ein Stück flog weg und öffnete ein kleines Loch, mehr wagte sie im Augenblick nicht. Sie wußte nicht, wie weit der Soldat gegangen war, und er konnte noch in Hörweite sein – einen scharfen Schlag würde er vielleicht überhören, aber nicht die wiederholten Schläge, die erforderlich wären, um die Tür aufzuschlagen.
Sie sah ihn mit einer Flasche und einem Blechbecher zurückkommen. Er blieb stehen und sah ratlos drein, als sie an der Tür rüttelte. Er sagte etwas und zuckte mit den Schultern, und sie begriff, daß er die Tür nicht öffnen konnte, daher beugte sie sich nieder und streckte ihre Hand durch das Loch, das sie gemacht hatte. »Hier unten«, rief sie und hoffte, er würde nicht merken, daß die Öffnung neu war.
Er hockte sich vor die Tür und stellte die Flasche und den Becher eben außerhalb ihrer Reichweite ab. »L'argent«, sagte er in einem brummigen Baß. »La monnaie.« Sie verfluchte ihn im stillen und schob eine Banknote durch das Loch. Er ergriff sie und schob ihr den Becher hin. Sie zog ihn durch das Loch herein, sehr behutsam, um nichts zu verschütten, und reichte ihn Mrs. Warmington. Als sie nach der Flasche griff, war sie immer noch zu weit weg. Der Soldat grinste und sagte vergnügt: »L'argent?«, und sie war gezwungen, ihm mehr Geld zu geben, bevor sie die Flasche bekam.
Das Wasser war zwar lauwarm, aber es war eine Wohltat für ihre trockene Kehle. Sie trank die Flasche in einem Zug halb leer und setzte dann ab. Sie sah, wie Mrs. Warmington den letzten Tropfen vom Rand des schmutzigen Bechers leckte, und sagte: »Langsam, langsam; das Zeug ist teuer, es kostet Sie über vier Dollar pro Becher.« Sie stellte die Flasche in die Ecke und sah auf die Uhr. Es war halb eins.
Der Soldat hatte sich wieder an seinen Platz im Schatten gesetzt, aber er ließ den Schuppen nicht aus den Augen, anscheinend auf mehr leicht verdientes Geld hoffend. Julie sagte: »Teufel noch eins, ich wünschte, er würde sich wegscheren.«
Sie hörte ein leises Klopfen hinter sich und drehte sich nach Mrs. Warmington um, die hoffnungsvoll in den Becher starrte, als könnte er sich durch Zauberei wieder füllen. Das Klopfen wurde fortgesetzt und kam von der Rückwand des Schuppens. Julie ging hin und horchte aus der Nähe. Es klopfte in einem bekannten, aber unvollständigen Rhythmus, und sie gab die zwei Klopftöne, die fehlten, und rief leise: »Wer ist da?«
»Rawsthorne – machen Sie keinen Lärm!«
Ihr Herz hüpfte. »Wie sind Sie hergekommen?«
»Ich folgte Ihnen, als Sie hierhergebracht wurden. Ich habe vom Steinbruchrand beobachtet. Ich konnte erst herunterkommen, als der verdammte Posten wegging.«
»Wo ging er hin?« fragte Julie erregt.
»Den Weg hinauf und außer Sicht«, sagte Rawsthorne. »Ich glaube, er ging bis zur Hauptstraße.«
»Gut!« sagte Julie. »Ich glaube, ich kann ihn noch einmal schicken. Wenn er so weit geht, kommen wir hier heraus. Können Sie hier warten?«
»Ja«, sagte Rawsthorne. Man hörte ihm sein Alter und seine große Müdigkeit an. »Ich werde warten.«
Julie ging zurück und entdeckte, daß Mrs. Warmington die Flasche leer getrunken hatte. Sie sah trotzig auf und sagte: »Es war schließlich mein Geld, oder nicht?«
Julie riß ihr die Flasche aus der Hand. »Es hat jetzt nichts mehr zu sagen; wir kommen hier heraus. Halten Sie sich bereit – und seien Sie still!«
Sie ging zur Tür und rief: »L'eau … mehr l'eau, bitte!« Dazu wedelte sie mit einem weiteren Geldschein durch den Spalt. Diesmal war sie nicht schnell genug, und der Soldat entriß ihn ihr, bevor sie ihn zurückziehen konnte. Er grinste zufrieden, während er ihn in die Tasche steckte, weigerte sich aber nicht, die Flasche und den Becher anzunehmen.
Sie sah ihn weggehen und zwang sich, volle zwei Minuten zu warten. Dann schlug sie mit aller Kraft mit dem Hammer gegen die Tür; sie war alt und hatte lange keine Farbe gesehen, und ein Schlag zersplitterte sie. Rawsthorne rief: »Warten Sie!« und steckte den Kopf durch die Öffnung, die sie erzeugt hatte. »Schlagen Sie hier unten dagegen«, sagte er und zeigte auf die Gegend des Schlosses.
Sie schwang den Hammer wieder, und Haspe und Krampe rissen aus der morschen Tür, und sie flog quietschend auf. »Kommen Sie!« sagte sie. »Schnell!« Sie rannte hinaus, und es war ihr in Wirklichkeit ganz egal, ob Mrs. Warmington nachkam oder nicht.
»Hier herüber«, rief Rawsthorne, und sie rannte hinter ihm um einen Felsvorsprung, so daß sie von dem Schuppen aus nicht mehr gesehen werden konnten. »Wir sitzen immer noch in der Falle«, sagte ihr Rawsthorne. »Dieser Steinbruch ist eine Sackgasse, und wenn wir den Weg benutzen, laufen wir dem zurückkehrenden Posten in die Hände.«
»Wie sind Sie denn heruntergekommen?«
Rawsthorne zeigte nach oben. »Ich kam dort herunter – und hätte mir fast das Genick gebrochen. Aber wir können nicht den gleichen Weg hinaufklettern – nicht bevor der Posten zurück ist –, er würde uns aus der Wand herunterschießen wie Spatzen.« Er sah sich um. »Wir können uns nur verstecken.«
»Aber wo?«
»Da ist ein Sims, da oben«, sagte Rawsthorne. »Wenn wir uns dort flach hinlegen, wird man uns von unten nicht sehen. Kommen Sie, Mrs. Warmington!«
Es war eine schwierige Kletterei. Julie und Rawsthorne schoben die schwerfällige Mrs. Warmington hinauf, und dann stieg Rawsthorne hinauf und zog Julie nach. Sie rollte sich mit abgeschürften Knien auf den schmalen Sims und machte sich platt. Obwohl sie ihren Kopf unten hatte, sah sie immer noch die Ecke des Schuppens und erwartete jeden Augenblick, den Posten mit dem Wasser zurückkommen zu sehen.
Sie flüsterte: »Wenn wir wirklich den oberen Rand des Steinbruchs erreichen, was dann?«
»Alle Truppen dort oben sind weg«, sagte Rawsthorne. »Sie verließen die Plantage und fuhren in Richtung auf St. Pierre davon. Ich glaube, General Rocambeau wird bald angreifen. Ich dachte, wir könnten hinter seinen Truppen über die Berge ins Negrito-Tal marschieren. Dort dürften wir sicher sein.« Er machte eine Pause. »Aber vielleicht haben wir nicht mehr genug Zeit; haben Sie einmal zum Himmel geschaut?«
Julie verdrehte ihren Hals und sah hinauf. Die Sonne stach ihr in die Augen. »Ich kann nicht viel sehen – nur einige hohe Wolken. Federwolken.«
»Die Sonne hat einen Hof«, sagte Rawsthorne. »Ich glaube, der Hurrikan wird bald hier sein.«
Julie sah eine Bewegung neben dem Schuppen. »Still, er ist zurück!«
Der Soldat sah den Schuppen verwundert an und ließ Flasche und Becher fallen. Das Wasser floß über den staubigen Boden. Er nahm sein Gewehr von der Schulter, und Julie hörte ganz deutlich das Knacken, als er den Sicherungsflügel umlegte. Er sah sich im Steinbruch um, und sie erstarrte – wenn sie ihn sehen konnte, dann mußte auch er sie sehen, wenn er genau genug in die richtige Richtung sah.
Der Soldat ging langsam um den Schuppen herum; er lief bedachtsam, mit schußbereitem Gewehr, und sie hörte seine Stiefel auf dem trockenen Boden knirschen. Er kam heran, in der Absicht, den Steinbruch abzusuchen. Er beschrieb einen weiten Bogen und sah in alle Ecken und Winkel, die durch die Sprengungen entstanden waren. Als er näher kam, verschwand er aus ihrem Gesichtsfeld, und Julie hielt den Atem an und hoffte, Mrs. Warmington würde keinen Lärm machen, denn jetzt war der Mann sehr nahe – sie konnte ihn sogar atmen hören, als er unter dem Sims stand.
Und er stand lange dort. Man hörte keine Bewegung seiner Füße, und Julie stellte sich vor, wie er wohl zu dem Sims hinaufsah und sich überlegte, ob es sich lohnen würde, hinaufzuklettern und nachzusehen. Es gab ein Klacken und ein Geräusch, wie wenn Metall auf Stein rutscht, und sie dachte: er hat sein Gewehr weggelegt; er braucht beide Hände zum Klettern. Er kommt herauf!
Sie flog zusammen von einer gewaltigen Explosion, dann folgte noch eine – und noch eine. Sie hörte schwere Fußtritte, und nach einigen Sekunden sah sie den Mann durch den Steinbruch laufen und mit den Händen über den Augen den Weg entlangsehen. Die Explosionen folgten einander in kurzen Abständen. Es war ein Lärm, mit dem Julie nun schon vertraut war – Artilleriefeuer. Rocambeau hatte angegriffen, und Favel legte Sperrfeuer.
Der Soldat zögerte und sah sich noch einmal in dem Steinbruch um. Dann hängte er sein Gewehr auf die Schulter und verschwand in schnellem Trab in Richtung auf den Weg. »Ich glaube, er ist weg«, sagte sie nach einer ganzen Weile.
Rawsthorne richtete sich auf und sagte: »Dann müssen wir auch gehen. Wir müssen sehen, daß wir auf höheres Gelände kommen.«
***
Favels Streitkräfte im Osten widerstanden dem ersten Ansturm. Sie zerschlugen die erste Welle der Regierungstruppen, die versuchten, das offene Gelände vor den äußersten Vororten zu überwinden, mit einem Feuerhagel aus Geschützen und Mörsern. Rocambeau hatte keine Artillerie und war gegen diese Feuerkraft machtlos, aber er hatte die Männer – siebentausend gegen Favels zweitausend –, und er setzte sie rücksichtslos ein.
Er verlor fünfhundert Mann bei diesem ersten Angriff, aber als er abgeschlagen war, hielt er eine Linie, die weniger als zweihundert Meter von den ersten Häusern entfernt war, und seine Soldaten verschanzten sich in den Granattrichtern, mit denen der Boden besät war, und er ließ Verstärkung von hinten nachkommen. Sie krochen von Trichter zu Trichter, bis seine Stellung unangreifbar war. Nicht daß Favel einen Gegenangriff versuchen wollte – oder konnte. Mehr als die Hälfte seiner Leute bedienten die Geschütze, und er hatte nur neunhundert Infanteristen zu ihrem Schutz – eine gefährlich kleine Streitmacht. Aber seine Infanterie war außerordentlich gut für einen Abwehrkampf ausgerüstet; sie hatten alle automatischen Waffen, die den Männern abgenommen wurden, die zur Zeit die Stadt evakuierten, und sie hatten Zeit genug gehabt, gute Stellungen auszusuchen. Rocambeau würde noch viele seiner Männer verlieren, bevor er diese mörderischen Schnellfeuerwaffen ausheben könnte, die seine Streitkräfte behämmerten, – wenn er überhaupt an sie herankäme. Denn sie waren auf einen schnellen Stellungswechsel vorbereitet; ihre Protzen und Zugfahrzeuge lagen in der Nähe, und sie konnten sich gestaffelt in vorbereitete Stellungen zurückziehen, sobald der Befehl dazu kam, und dann müßte Rocambeau den ganzen männermordenden Prozeß wieder von neuem beginnen.
Favel verließ nicht einmal seinen Gefechtsstand. Seine Offiziere wußten, was er von ihnen erwartete, und er konnte sich darauf verlassen, daß sie den Generalplan ausführen würden. So konnte er sich auf den erwarteten Angriff von Westen konzentrieren. Am Vormittag war er zum Hafen gefahren und hatte durch einen starken Feldstecher die Räumung des amerikanischen Stützpunkts auf Cap Sarrat beobachtet. Ein Schiff nach dem anderen lief aus, und die Flugzeuge dröhnten nach Nordosten davon, in die Richtung Puerto Rico, in Sicherheit. Eine schwarze Qualmwolke schwebte über dem Cap, als die Öltanks in Flammen aufgingen. Commodore Brooks hinterließ nichts, was jemand hätte nützen können.
Favel überlegte, was Serrurier tun würde. Er würde wohl das letzte zuerst tun und unverzüglich den Stützpunkt besetzen. Die amerikanische Besetzung von Cap Sarrat war ihm immer ein Dorn im Auge gewesen, und mehrere Male hatte er versucht, den Vertrag zu brechen. Immer war er an dem unbeugsamen Willen der amerikanischen Regierung gescheitert. Jetzt lag der Stützpunkt verlassen vor ihm, und er würde ihn nehmen – ein wertloser Sieg, hinter dem schon die Niederlage lauerte. Er würde auf Cap Sarrat Zeit verschwenden, statt mit seinen Reserven an ausgeruhten, unausgebluteten Truppen einen Angriff auf St. Pierre anzusetzen, jetzt, da die unsinnige Furcht vor einem Dolchstoß in den Rücken weggefallen war.
So kam es, daß Favel, als er die Geschütze im Osten als Antwort auf Rocambeaus Angriff losdonnern hörte, verächtlich lächelte. Rocambeau mit seiner geschlagenen und demoralisierten Armee war zuerst angetreten, während sich Serrurier noch in seinem Schlaraffenland auf Cap Sarrat erging. Gut! Mochte er dort bleiben. Wenn er wüßte, daß seinen achttausend Mann nur tausend gegenüberstanden, würde er es sich vielleicht anders überlegen – aber das erzählte ihm ja niemand, und wenn es ihm einer gesagt hätte, hätte er es nicht geglaubt. Er war ein sehr mißtrauischer Mensch und würde aus Angst vor einer Falle so etwas geradezu Lächerliches nicht glauben.
Favel rief eine Ordonnanz und befahl ihr, Manning und Wyatt zu ihm zu schicken, sobald man sie finden würde. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und zündete sich gelassen eine lange, dünne Zigarre an.
Wyatt war wieder auf dem Dach, als die Ordonnanz ihn fand, und suchte den Horizont mit einem Feldstecher ab. Die hohen, faserigen Zirruswolken bedeckten jetzt den Himmel und gingen im Süden in Zirrostratus, eine große, dünne Schicht, über. Es war immer noch ungeheuer heiß und vollkommen windstill. Die Sonne war von einem Hof umgeben – ein ominöses Zeichen für Wyatt, als er die Zeit wieder überprüfte.
Er ging hinunter zu Favel und fand dort Manning schon vor, der einen Lagebericht gab. »Wir machen gute Fortschritte und arbeiten, so schnell wir können«, sagte er, »aber es braucht seine Zeit.«
Wyatt unterbrach: »Zeit ist etwas, was wir nicht haben. Mabel zieht schneller, als ich gedacht hatte.«
»Wann kommt er?« fragte Manning.
»Er wird etwa um fünf hiersein.«
»Herr Jesus!« sagte Manning. »Das schaffen wir nicht.«
»Es muß geschafft werden«, sagte Favel barsch. Er wandte sich Wyatt zu. »Was meinen Sie, wenn Sie sagen, daß er um fünf hiersein wird?«
»Dann werden wir Windgeschwindigkeiten um hundert Kilometer pro Stunde haben.«
»Und die Flut?«
Wyatt zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht«, sagte er offen. »Das ist ein Aspekt von Hurrikanen, den ich nicht studiert habe. Ich weiß nicht genau, wann mit der Flutwelle zu rechnen ist – aber ich würde sagen, nicht viel später als sechs Uhr.«
Favel sagte nachdenklich: »Es ist jetzt zwei Uhr – das läßt uns noch vier Stunden, oder drei, im ungünstigsten Fall. Was wird von jetzt ab bis dahin vorgehen?«
»Nicht viel«, sagte Wyatt. »Die Wolken werden in der nächsten Stunde merklich dichter werden, und ein leichter Wind wird aufkommen. Danach wird er einfach laufend stärker.«
»Charles, wie sieht es mit der Evakuierung im Osten aus? Können wir schon auf die zweite Linie zurückgehen?«
Manning nickte unwillig. »Ich habe das ganze Gebiet schon geräumt – aber Sie machen es ziemlich knapp. Wenn Rocambeau durchbricht – und das könnte er, wenn wir bei diesem Rückzug nicht aufpassen –, ist er mitten unter uns, und wir sind erledigt.«
Favel zog ein Telefon heran. »Wir gehen zurück«, sagte er fest. »Beschleunigen Sie die Dinge, Charles! Ich möchte, daß alle Anstrengungen gemacht werden.«
»In Ordnung, Julio«, sagte Manning matt. »Ich werde mein Bestes tun.« Er schritt hinaus. Wyatt stand noch da und überlegte, ob er auch gehen sollte, aber Favel hob die Hand, während er telefonierte. Daher lehnte er sich an den Tisch und wartete.
Favel legte den Hörer sachte hin und sagte: »Sie erwähnten Regen, Mr. Wyatt. Wird der große Schwierigkeiten bereiten?«
»Sie müssen mit einer Menge Regen rechnen – mehr, als Sie bisher erlebt haben; er wird das Flutproblem im Negrito-Tal verschärfen, aber ich habe das schon einkalkuliert, als Sie mich baten, sichere Gebiete zu markieren. Der stärkste Regen wird im rechten vorderen Quadranten des Hurrikans fallen, aber ich glaube, das wird westlich von hier sein. Sie können aber zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Zentimeter Niederschlag in vierundzwanzig Stunden erwarten.«
»Eine Menge Regen«, bemerkte Favel. »Das dürfte größere militärische Operationen unmöglich machen.«
Wyatt lachte auf. »Ich hoffe, Sie denken überhaupt nicht an militärische Operationen. Für etwa einen Tag werden gar keine möglich sein. Der Sturm wird Sie daran hindern, wenn der Regen es nicht tut.«
Favel sagte: »Ich dachte an nachher. Vielen Dank, Mr. Wyatt. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn sich etwas Wichtiges ergibt!«
Wyatt stieg wieder auf das Dach und beobachtete den sich am Horizont vergrößernden dunklen Streifen des Nimbostratus.
***
Rocambeaus zweiter Schlag traf ins Leere. Gewiß, das Artilleriefeuer war ebenso schwer wie vorher, aber es kam kein Gewehrfeuer, bis seine Leute fast einen Kilometer weit in die Stadt eingedrungen waren. Sie stießen schnell in dieses unerwartete Vakuum hinein und dehnten sich zu weit aus, und als sie auf Widerstand stießen, waren sie sehr auseinandergerissen. Die Zurückhängenden hatten Glück, aber die Übereifrigen in der vordersten Front erlitten schwere Verluste durch Maschinengewehrfeuer und zogen sich ein Stück zurück, um sich zu erholen. Aber es machte ihnen nicht viel aus, weil sie plötzlich Geschützdonner von der anderen Seite der Stadt hörten und wußten, daß Serrurier endlich auch angriff. Jetzt würde Favel mit seinen Aufständischen sicher zwischen ihnen zermalmt.
Serrurier jagte seine Leute noch brutaler und kaltherziger hinein als Rocambeau. Sein ungestümer Angriff gegen die erbärmlich dünne Verteidigungslinie war durchschlagend. Trotz der Artillerie und der vielen Maschinengewehre durchbrach er Favels Front an drei Stellen und drohte, die kleine Streitmacht in einzelne Gruppen aufzusplittern. Favel nahm die Sache sofort energisch in die Hand und befahl den sofortigen Rückzug in die Stadt. Im offenen Gelände hatte er keine Chance gegen eine achtfache Übermacht, aber Straßenkämpfe waren etwas anderes.
Die Kämpfe wurden an beiden Fronten recht lebhaft, und Favels Leute wurden langsam zurückgedrängt und erlitten schwere Verluste, aber bei weitem nicht so schwere wie die Regierungstruppen. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen im Imperiale, während Favel Berichte und immer neue Berichte über die Evakuierungsaktion verlangte und sein Rückzugstempo an beiden Fronten sorgfältig so einrichtete, daß der langsam abebbende Menschenstrom aus St. Pierre hinauskommen konnte. Schrittweise gab er Boden auf, den der Feind mit Menschenverlusten bezahlte. Es war eine riskante Sache, und er verlor mehr tüchtige Leute, als ihm lieb war, aber er hielt sich hartnäckig an seinen Plan und setzte ihn auch durch.
Die Stadt brannte im Osten und im Westen, wo er sich zurückzog. Seine Truppen hatten Befehl, alle Häuser anzuzünden, um eine Flammenbarriere vor die vorrückenden und siegenden Regierungstruppen zu legen. Die Flammen wurden von der kräftigen Brise angefacht, die inzwischen aufgekommen war, und schlugen prasselnd zum Himmel, und der Rauch wurde nach Norden ins Negrito-Tal getrieben.
Um vier Uhr kam er zu dem Schluß, daß er seine Artillerie nicht mehr retten konnte, und gab Befehl, die Geschütze unbrauchbar zu machen und zurückzulassen. Den Zeitpunkt sollten die Kommandeure selbst bestimmen. Die Straße zum Negrito war mit Flüchtlingen verstopft, und es war unmöglich, da auch noch die Artillerie durchzuschleusen, und er wußte, die Geschütze würden nach dem Hurrikan nicht mehr gebraucht werden. Schon jetzt lagen mehr als fünfzehnhundert Soldaten, die Manning zur Evakuierung der Stadt gebraucht hatte, in der Verteidigungsstellung an der Fünfundzwanzigmeter-Konturlinie, und Serrurier und Rocambeau drückten immer schneller und ungestümer nach.
Fünf Minuten später gab er Befehl zur Aufgabe des Hauptquartiers, und eine Ordonnanz überbrachte Wyatt die Nachricht. Er warf schnell noch einmal einen Blick auf den dunklen Horizont und eilte dann nach unten. Favel wartete in der Halle und sah zu, wie Karten in einen draußen stehenden Lastwagen geladen wurden, und widmete anscheinend dem Anbrennen seiner Zigarre mehr Aufmerksamkeit als dem Schlachtenlärm.
»Wir wollen Serrurier und Rocambeau sich die Hände reichen lassen«, sagte er. »Ich glaube, sie werden einige Zeit mit der Begrüßung verschwenden, und vielleicht leeren sie auch eine Flasche Rum miteinander. Wir werden auch eine Front bilden – aber wir sind uns einig.« Er lächelte. »Ich glaube nicht, daß Rocambeau besonders freudig das Kommando an Serrurier abgibt.«
Ein Soldat rief etwas von dem Lastwagen, und Favel hielt das noch brennende Streichholz, nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Zigarre richtig brannte, an einen Papierfidibus. »Entschuldigen Sie mich!« sagte er und ging in die Bar zurück. Als er zurückkam, sah Wyatt Feuer hinter ihm auflodern.
»Kommen Sie, wir müssen gehen«, sagte Favel und schob Wyatt durch die Tür hinaus. Als der Wagen anfuhr, blickte Wyatt sich noch einmal nach dem Imperiale um. Rauch quoll aus den Fenstern und wurde vom Wind weggerissen.
Es war halb fünf Uhr nachmittags.