8
Wyatt hatte zur Evakuierung geraten – jetzt sah er die Wirklichkeit und war entsetzt.
Der Wagen fuhr durch die verlassenen Straßen der Innenstadt, während ringsherum der Kampflärm von den nackten Hauswänden widerhallte, als die Rebellenarmee sich verbissen kämpfend in dem enger werdenden Bogen zurückzog. Der Himmel verdunkelte sich, und ein kräftiger Wind fegte Papierfetzen über die schmutzigen Gehsteige. Die Stadt stank nach Feuer, und der Rauch stieg nicht auf, sondern wurde jetzt in die Straßen heruntergedrückt und kratzte im Hals.
Wyatt hustete und starrte auf eine Leiche auf dem Gehsteig. Etwas weiter hin sah er noch eine und noch eine – alles Männer, alles Zivilisten. Er warf seinen Kopf herum und fragte Favel: »Zum Teufel, was ist hier vorgegangen?«
Favel blickte geradeaus. Er fragte tonlos: »Haben Sie eine Vorstellung davon, was es heißt, in wenigen Stunden eine Stadt zu evakuieren? Wenn die Leute nicht gehen wollen, müssen sie gezwungen werden.«
Der Wagen wich einer anderen Leiche mitten auf der Straße aus – eine Frau in einem auffällig gemusterten roten Blumenkleid mit einem gelben Kopftuch. Sie lag hingeworfen wie ein weggeworfenes Kinderspielzeug, ihre Glieder taktlos verrenkt durch den gewaltsamen Tod. Favel sagte: »Wir teilen uns die Schuld, Mr. Wyatt. Sie hatten das Wissen; ich hatte die Macht. Ohne Ihr Wissen wäre dies hier nicht geschehen, aber Sie brachten Ihr Wissen zu einem, der die Macht hatte, es geschehen zu lassen.«
»War es wirklich notwendig, Menschen zu töten?« fragte Wyatt leise.
»Wir hatten keine Zeit für Erklärungen, keine fertigen Pläne, keine Kenntnisse bei den Leuten selbst.« Favels Gesicht war hart. »Jedermann weiß, daß wir auf San Fernandez keine Hurrikane haben«, sagte er, als zitierte er. »Die Leute wußten nichts. Das ist ein weiteres Verbrechen von Präsident Serrurier – vielleicht das schlimmste von allen. Also mußten die Leute gezwungen werden.«
»Wie viele sind tot?« fragte Wyatt finster.
»Wer soll das wissen? Aber wie viele werden gerettet werden? Zehntausend? Zwanzig- oder Dreißigtausend? Man muß abwägen bei solchen Dingen.«
Wyatt schwieg. Er wußte, daß sein Gewissen mit dieser Sache belastet war und daß es ihn immer schmerzen würde. Aber er konnte immer noch versuchen, Favel von seinem Entschluß abzubringen, die Regierungstruppen einzukesseln und zu vernichten. Er sagte: »Ist noch weiteres Töten notwendig? Müssen Sie vor St. Pierre stehenbleiben und kämpfen? Wie viele werden Sie in der Stadt umbringen, Julio? Fünftausend? Zehn- oder Fünfzehntausend?«
»Es ist zu spät«, sagte Favel nüchtern. »Ich kann nicht mehr anders, auch wenn ich wollte. Die Evakuierung hat viel Zeit gebraucht – sie ist noch nicht beendet –, und meine Leute haben Glück, wenn sie noch rechtzeitig in ihre vorbereiteten Stellungen kommen.« Er wurde sardonisch. »Ich bin kein Christ – das ist ein Luxus, den sich nur wenige ehrliche Politiker leisten können –, aber ich kann mich doch auf die Bibel berufen. Der Herrgott teilte die Wasser und ließ die Kinder Israels trockenen Fußes durch das Meer ziehen; aber er hielt seine Hand an und ertränkte die verfolgenden Ägypter – mit Mann und Roß und Wagen wurden sie im Roten Meer vernichtet.«
Der Wagen hielt an einem Kontrollpunkt, hinter dem Wyatt eine lange Kolonne von Flüchtlingen sah, die sich aus einer Seitenstraße ergoß. Ein Rebellenoffizier kam heran und konferierte mit Favel, und ein Weißer winkte und kam herübergeeilt. Es war Causton. »Sie haben sich aber Zeit gelassen«, sagte er. »Wie weit ist die Regierungsarmee in die Stadt vorgedrungen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Wyatt. Er kletterte von dem Wagen herunter. »Was geht hier oben vor?«
Causton zeigte auf die Flüchtlinge. »Die letzten von den vielen«, sagte er. »In einer Viertelstunde müßten sie alle durch sein.« Er streckte seine Arme nach beiden Seiten aus. »Hier wird Favel in Stellung gehen – hier ist die Fünfundzwanzigmeter-Konturlinie.« Seine Hemdsärmel flatterten in dem stärker werdenden Wind. »Ich habe schon ein Loch für uns ausgesucht – es sei denn, Sie möchten weiter hinauf ins Negrito-Tal.«
»Sie bleiben also hier?«
»Natürlich«, sagte Causton erstaunt. »Hier spielt sich doch die Hauptsache ab. Dawson ist auch hier; er sagte, er wartet auf Sie.«
Wyatt drehte sich um und sah über die Stadt hin. In der Ferne sah er die See, die nicht mehr wie ein gehämmerter Silberteller aussah, sondern die schmutzige Farbe von ungeputztem Zinn angenommen hatte. Der südliche Himmel war von der niedrigen eisengrauen Wand des heranziehenden Nimbostratus erfüllt, der schwere Regengüsse und heulenden Sturm mitbrachte. Schon war es merklich dunkler durch das Absinken der Wolken und den Rauch von der Stadt.
Über dem schwachen Pfeifen des Windes hörte er den Kampflärm, hauptsächlich Gewehrfeuer und fast keine Artillerie. Der Lärm schwoll mit den Windböen an und ab und schien manchmal weiter weg und manchmal sehr nahe zu sein. Das Gelände fiel zur Stadt hin ab, und zwischen dem kleinen Höhenrücken, auf dem er stand, und den nächsten Häusern war keine Menschenseele zu sehen. »Ich bleibe hier«, sagte er abrupt. »Obwohl ich beim besten Willen nicht weiß, warum.« Natürlich wußte er es wohl. Sein Verlangen war eine merkwürdige Mischung aus dem beruflichen Interesse zu sehen, wie sich der Hurrikan in der seichten Bucht auswirkte, und aus der makabren Anziehungskraft, die der Anblick einer dem Untergang geweihten Stadt und einer dem Untergang geweihten Armee auf ihn ausübte. Er blickte die Straße hinauf. »Wo ist Favels Verteidigungslinie genau?«
»Auf dem Kamm. Dort sind Stellungen auf dem rückwärtigen Hang ausgehoben – die Leute können sich dort hinunter flüchten, wenn das Wetter zu schlimm wird.«
»Ich hoffe, die Löcher haben gute Wasserabläufe«, sagte Wyatt. »Es wird stärker regnen, als Sie es je regnen gesehen haben. Ein Loch ohne Abfluß wird im Nu voll sein.«
»Favel hat daran gedacht«, sagte Causton. »Er ist nicht dumm.«
»Er hat mich über Regenfälle befragt«, sagte Wyatt. »Ich nehme an, das ist der Grund.«
Favel rief: »Mr. Wyatt, der Gefechtsstand ist etwa dreihundert Meter weiter oben eingerichtet worden.«
»Ich bleibe hier bei Causton«, sagte Wyatt, während er sich dem Wagen näherte.
»Wie Sie wollen.« Favels Lippen verzogen sich. »Es gibt jetzt weder für Sie noch für mich noch viel zu tun, außer vielleicht ein Gebet an Hunraken oder einen anderen passenden Gott zu richten.« Er sagte etwas zu seinem Fahrer, und der Lastwagen reihte sich in die dünner werdende Flüchtlingskolonne ein.
»Lassen Sie uns zu Dawson gehen«, sagte Causton. »Wir haben unser Heim dort drüben aufgeschlagen.«
Er führte ihn von der Straße herunter und den rückwärtigen Hang hinab, bis zu der Stelle, wo Dawson mit gekreuzten Beinen neben einem großen Deckungsloch saß. Er freute sich, als er Wyatt sah, und sagte: »Hallo! Ich dachte schon, man hätte Sie wieder eingesperrt.«
Wyatt sah sich das Loch an. Es hatte einen Abflußgraben am hinteren Ende, der offensichtlich nicht ausreichen würde. »Der muß vertieft werden – und wir müssen zwei haben. Ist da irgendwo ein Spaten?«
»Spaten sind zur Zeit knapp«, sagte Dawson. »Aber ich will sehen, was ich finden kann.«
Wyatt blickte den Hang entlang und sah überall Männer, eine lange, dünne Kette von Männern, die sich in die Erde einwühlten wie Maulwürfe. Oben auf dem Kamm, von wo aus man die Stadt überblickte, waren andere damit beschäftigt, Maschinengewehre in Stellung zu bringen und ebenfalls Löcher zu graben, die aber als Deckung gegen feindliches Feuer und weniger gegen Sturm dienen sollten. Sie hielten die Stadt sorgfältig unter Beobachtung für den Fall, daß Serruriers Leute durchbrechen sollten. Causton sagte: »Ich hoffe, Sie behalten recht in bezug auf die Flut. Wenn sie nicht eintrifft, bricht die Hölle los. Favel hat seine Artillerie zurückgelassen – er konnte nicht die Flüchtlinge und auch noch die Geschütze herausbringen.«
Wyatt sagte: »Mabel trifft uns frontal. Das gibt Überflutungen.«
»Wir wollen es hoffen. Militärisch ist Serrurier obenauf. Ich wette, er frohlockt jetzt.«
»Das wird er nicht, wenn er zurückblickt – auf die See.«
Dawson kam mit einem dünnen Stück Blech unter dem Arm zurück. »Keine Spaten da; aber das wird vielleicht auch gehen.«
Causton und Wyatt vertieften den Abflußgraben und hoben einen zweiten aus, während Dawson ihnen zusah. Wyatt sah auf: »Wie geht's Ihren Händen?«
»Gut«, sagte Dawson. »Ein Arzt hat sie behandelt.«
»Weshalb bleiben Sie hier?« fragte Wyatt. »Sie sollten weiter hinauf ins Negrito-Tal gehen, solange Sie Gelegenheit haben.«
Dawson schüttelte den Kopf. »Haben Sie diese Menschen gesehen? Ich habe nie eine niedergeschlagenere und mutlosere Menge gesehen. Ich habe Angst, wenn ich mich ihnen anschließe, werde ich auch so. Außerdem, vielleicht kann ich hier irgendwie helfen.«
»Was meinen Sie denn, was Sie tun könnten?« fragte Causton. »Sie können Ihre Hände nicht gebrauchen, also können Sie weder schießen noch Löcher graben. Ich sehe keinen Sinn darin.«
Dawson zuckte mit den Schultern. »Ich laufe nicht mehr weg«, sagte er störrisch. »Ich bin lange genug, viele Jahre lang, immer weggelaufen. Nun – ich bleibe hier auf dieser Anhöhe, basta.«
Causton sah Wyatt an und zog seine Brauen hoch, dann lächelte er leicht und sagte nur: »Ich glaube, mehr können wir nicht tun. Lassen Sie uns nach oben gehen und sehen, was auf uns zukommt.«
Die letzten Leute aus St. Pierre waren auf ihrem Weg ins Negrito-Tal vorbeigezogen, aber in der Ferne war die Straße noch schwarz von Gestalten, die sich müde dahinschleppten, um höheres Gelände zu erreichen. Das saftige Grün der Zuckerrohrfelder sah aus wie eine aufgewühlte See in dem zunehmenden Sturm, der Wellen in das elastische Rohr peitschte. Nur die Soldaten waren noch hier, und es waren sehr wenige in der dünnen Kette von Schützengräben, die die Anhöhe durchzogen, aber bald würden es mehr sein, wenn die bedrängte Armee in St. Pierre sich in diese Stellung zurückzog.
Wyatt ging hinauf und legte sich neben einem Soldaten hin. Er fragte: »Was tut sich, Soldat?«
Der Mann grinste breit. »Dort«, sagte er und zeigte mit dem Finger. »Sie kommen bald – vielleicht zehn Minuten.« Er prüfte das Schloß seines Gewehres und legte sich Munition zurecht.
Wyatt sah den nackten Abhang zur Stadt hinunter. Die Schüsse, die man hörte, waren sehr nahe, und gelegentlich zwitscherte eine verirrte Kugel über sie hinweg. Bald sah er Bewegungen am Fuß des Hanges, und eine Gruppe von Männern kam herauf, ohne Hast, aber in gutem Tempo. Hinter ihm rief ein Offizier einen Befehl, und die drei Männer, die in etwa zehn Meter Entfernung an einem Maschinengewehr lagen, schwenkten das Gewehr in die von dem Offizier gezeigte Richtung.
Die Männer, die den Hang heraufkamen, erreichten den Kamm und liefen darüber weg. Sie trugen einen Granatwerfer, den sie auf dem rückwärtigen Hang schnell zusammensetzten. Causton beobachtete sie und sagte: »Nicht mehr viele Granaten übrig.«
Es kamen jetzt noch mehr Männer den Hang herauf. Sie bewegten sich ruhig bei ihrem disziplinierten Rückzug, gedeckt durch ihre Kameraden, die noch immer unten zwischen den Häusern kämpften. Causton schätzte, daß er Zeuge des letzten Sprunges in dieser geordneten und geplanten sprungweisen Absetzbewegung war, die Favels Verteidigungskräfte über ganz St. Pierre geführt hatte. Er war von der Ruhe der Männer beeindruckt. Dies war keine undisziplinierte, panikartige Flucht wie das Debakel, das er vorher erlebt hatte, sondern ein geordneter Rückzug angesichts des Feindes, eine der schwierigsten militärischen Operationen.
Wyatt richtete seine Augen nach Süden. Der Horizont war dunkel, fast schwarz, nur erhellt von dem blassen Flackern von fernen Blitzen hinter dicken Wolken, und der nähere Nimbostratus war fahlgelb, scheinbar von innen beleuchtet. Der Wind drehte weiter nach Westen und war jetzt schon viel stärker. Er schätzte, daß er Stärke sieben hatte und schon langsam an Stärke acht herankam – etwa fünfundsechzig Kilometer pro Stunde und in Böen bis achtzig. Es war nichts, was einem Sorgen gemacht hätte, der nicht wußte, was unterwegs war, und war nur ein Sturm, wie San Fernandez viele erlebte. Vielleicht würde Rocambeau, wenn er das Kommando noch hatte, das Unwetter sogar begrüßen; es würde Regen bringen und die vielen Brände in der Stadt löschen.
Die sich absetzenden Soldaten strömten jetzt über die Anhöhe und erhielten von ihren Unteroffizieren Stellungen zugewiesen und wurden mit Munition versorgt. Sie lagen auf dem Kamm in flachen Schützenmulden, die man für sie gegraben hatte, und wandten ihre Gesichter wieder dem anrückenden Feind zu.
Causton stieß Wyatt an. »Die Häuser dort unten – wie hoch sind die über Seehöhe?«
Wyatt überlegte. Der Höhenrücken war nicht sehr hoch, und das Gefälle zur Stadt hin war lang. Er sagte: »Wenn dieser Rücken auf der Fünfundzwanzigmeterlinie liegt, dürften sie nicht höher als fünfzehn Meter liegen.«
»Dann müßte die Flutwelle bis dorthin kommen?«
»Das wird sie«, sagte Wyatt. »Sie wird vielleicht bis in die Mitte des Hanges heraufkommen.«
Causton zog an seiner Unterlippe. »Ich glaube, man hat hier die Absicht, die Regierungstruppen an diesen Häusern zu stoppen. Sie sind dreihundert Meter entfernt, und die Soldaten müssen bergan und über freies Gelände angreifen. Vielleicht wird Favel das tatsächlich schaffen. Aber die letzten seiner Leute werden es schwerhaben, sich abzusetzen.«
Dawson sagte: »Ich hoffe, Sie behalten recht, Wyatt. Ich hoffe, Ihre Flutwelle schwappt nicht über diesen Bergrücken hinweg. Sie würde uns alle ertränken.« Er schüttelte den Kopf und grinste verwundert. »Herrgott, in was für einer Situation bin ich – ich muß verrückt sein.«
»Vielleicht sind wir alle nicht ganz normal«, sagte Causton. »Wir sehen etwas, was nie vorher probiert wurde – die Verwendung eines Hurrikans zur Vernichtung einer Armee. Was kann ich darüber für einen Bericht schreiben, wenn ich hier heil davonkomme.«
»Es ist schon einmal dagewesen«, sagte Wyatt. »Favel erwähnte ein früheres Beispiel – als Moses durch das Rote Meer zog und die Ägypter auf den Fersen hatte.«
»Das ist richtig«, sagte Causton. »Daran hatte ich nicht gedacht. Das ist ein verdammt guter …« Er zeigte plötzlich. »Seht dort! Da unten tut sich was.«
Eine lange Kette von Männern war auf dem Hang erschienen. Sie rannten im Zickzack, ständig in Bewegung, und blieben nur kurz stehen, um auf die Häuser hinter sich zu schießen. Das Maschinengewehr in der Nähe räusperte sich mit einem kurzen Feuerstoß und verfiel dann in ein gleichmäßiges Rattern, und alle Männer auf dem Höhenrücken begannen zu schießen, um der Nachhut der Rebellenarmee, die sich zu ihnen zurückzog, Feuerschutz zu geben. Sie hatten den Vorteil des etwas höheren Standortes und konnten über die Köpfe ihrer eigenen Leute hinwegschießen.
Es gab einen scharfen Knall hinter ihnen, als der Granatwerfer losging, und Sekunden später krepierte die Granate dicht vor dem am nächsten gelegenen Haus. Es gab weitere Explosionen zwischen den Häusern, und von weiter hinten kam ein lauterer Knall und das Heulen einer Granate, als eines der wenigen noch übrigen Geschütze abgefeuert wurde. Wieder hörte Causton dieses höllische Gezwitscher in der Luft und zog den Kopf ein. »Diese Schweine kennen keine Höflichkeit«, sagte er. »Die schießen zurück.«
Die letzten von Favels Leuten wankten über den Kamm und fielen auf dem rückwärtigen Hang, in Sicherheit, erschöpft hin. Sie hatten einige von ihnen zurückgelassen – Wyatt sah drei kleine Häufchen in halber Höhe des Hanges, und er dachte daran, welche Opfer diese Männer gebracht haben mußten, um die Regierungstruppen zurückzuhalten, bis die Stadt evakuiert war. Die Männer ruhten sich aus und kamen wieder zu Atem, und nach einem Trunk Wasser und einem kleinen Imbiß, der für sie bereitgehalten worden war, reihten sie sich in die Verteidigungsfront ein.
***
Es herrschte eine Pause. Von den Häusern kam vereinzeltes Feuer, das fast ohne jede Wirkung blieb, und die Rebellen schossen auf strengen Befehl ihrer Offiziere überhaupt nicht – es war nicht mehr so viel Munition vorhanden, daß man sie verschwenden konnte. Es war offensichtlich, daß der Regierungsgeneral seine Truppen im Schutze der Stadt für einen Sturm auf die Anhöhe formierte.
Trotz der schnell fallenden Lufttemperatur schwitzte Causton ein wenig. Er sagte: »Ich flehe zu Gott, daß wir sie aufhalten können. Wenn der Angriff kommt, wird es ein schwerer sein. Wo bleibt Ihr verdammter Hurrikan, Wyatt?«
Wyatts Blick hing am Horizont. »Er kommt«, sagte er ruhig. »Der Wind wird ständig stärker. Dort kommen schon die Regenwolken – der Nimbostratus und der Fraktonimbus. Die Kämpfe werden bald zu Ende sein. Kein Mensch kann in einem Hurrikan Krieg führen.«
Der Wind hatte jetzt eine Geschwindigkeit von achtzig Kilometern pro Stunde, in Spitzen hundert, und die Rauchwolken über St. Pierre wurden zu einem trüben Schleier zerblasen. Das behinderte den Blick auf die See, aber Wyatt sah doch die weißen Schaumkronen, die noch stärkere Winde ankündigten.
»Hier kommen sie«, sagte Causton und machte sich platt, als das Feuer von den Häusern plötzlich zu einem Crescendo anschwoll. Eine Welle von Soldaten in hellblauen Uniformen erschien am Fuß des Hanges und ging vor. Die Soldaten liefen im Zickzack und ständig die Richtung wechselnd, und gingen manchmal in die Knie, um zu schießen. Sie kamen schnell voran, und als sie hundert Meter zurückgelegt hatten, löste sich eine zweite Welle von den Häusern, um den Angriff zu unterstützen.
»Herr Jesus!« sagte Dawson gepreßt. »Das müssen ja zweitausend sein. Warum schießen wir denn nicht?«
Kein einziger Schuß kam von dem Höhenrücken, während die Flut von blauuniformierten Männern den Hang heraufbrandete. Der Wind war jetzt schon stark genug, um sie zu behindern, und Wyatt sah das Flattern ihrer Uniformen und zweimal einen schwarzen Punkt in der Luft, als eine schwarze Mütze wegflog. Einigen riß es die Füße weg, und sie verloren in den heftigen Böen das Gleichgewicht, aber sie stürmten weiter; leicht vorgebeugt rannten sie und kamen ständig höher herauf.
Erst als die ersten schon im halben Hang waren, stieg eine Leuchtkugel von dem Höhenrücken auf und platzte über dem Hang zu roten Sternen auseinander. Sofort brach die Hölle los, als die Rebellen konzentriertes Feuer eröffneten. Die Gewehre knatterten, die Maschinengewehre hämmerten, und von weiter hinten kam das tiefere Bellen der wenigen Geschütze und Granatwerfer.
Die anstürmende Welle von Soldaten kam ins Stocken und blieb dann liegen. Causton sah eine Schwade von ihnen wie Weizenhalme umsinken, als ein Maschinengewehr der Verteidiger schwenkte und sie mit einer Sense aus Kugeln abmähte, und überall auf der offenen Fläche fielen Männer, entweder tot, verwundet oder verzweifelt Deckung suchend, wo doch keine zu finden war. Er bemerkte, daß die Hälfte von Favels Maschinengewehren in feste Richtungen schoß, so daß die Angreifer in einem Netz von fliegenden Kugeln gefangen waren – sie mußten sterben, wenn sie vorgingen, und sie mußten sterben, wenn sie flohen, denn in jedem Fall liefen sie direkt in die Schußrichtungen der halb aus den Flanken schießenden Maschinengewehre.
Granaten aus Geschützen und Werfern fielen zwischen die gefangenen Männer – Favel verschoß seine letzte Munition mit extravaganter Üppigkeit und setzte alles auf den kommenden Hurrikan. Die Erde bebte und ließ dunkel, blühende Bäume emporschießen, und die Qualmwolken wurden vom Sturm gepackt und weggefegt. Ein kläglich dünnes Feuer kam von unten herauf. Vielleicht waren nur noch wenige da, die schießen konnten, oder diejenigen, die noch lebten, waren schon apathisch.
Fünf Minuten, die wie eine Ewigkeit wirkten, dauerte der Aufruhr, und dann brach die dünne Linie der Angreifer wie auf ein Kommando plötzlich zusammen und ebbte zurück. Sie hinterließen einen Saum von Leichen, der den höchsten Stand des Angriffs markierte, knappe hundert Meter vor dem Scheitel des Höhenrückens. Während sie in Panik zurückliefen, starben immer noch viele, von Gewehrkugeln getroffen, von den mörderischen Maschinengewehren durchgesägt und von Granaten in Stücke gerissen. Als wieder Ruhe herrschte, war das Gelände mit den traurigen Resten dessen übersät, was einmal Menschen gewesen waren.
»O mein Gott!« hauchte Dawson. Sein Gesicht sah blaß und krank aus, und es schauderte ihn. »Die müssen ein Viertel ihrer Leute verloren haben.«
Causton rührte sich. »Serrurier muß das Kommando übernommen haben«, sagte er leise. »Rocambeau hätte nie einen so blödsinnigen Frontalangriff versucht – nicht in diesem Stadium.« Er drehte sich um und sah nach der Granatwerferbedienung hinter ihnen. »Diese Männer sind am Ende ihrer Möglichkeiten – sie haben keine Munition mehr. Ich weiß nicht, ob wir einen weiteren Angriff überstehen.«
»Es wird keine weiteren Angriffe geben«, sagte Wyatt mit ruhiger Gewißheit. »Soweit es das Kämpfen betrifft, ist dieser Krieg zu Ende.« Er blickte den Hang hinab auf die wirren Leichenberge. »Ich wünschte, ich hätte das eine halbe Stunde früher sagen können, aber es bleibt sich schließlich gleich. Sie werden jetzt alle umkommen.« Er zog sich vom Kamm zurück und ging zu dem Deckungsloch.
Unten in St. Pierre würden in den nächsten Stunden Tausende von Männern sterben, weil er Favel von dem ankommenden Hurrikan erzählt hatte, und die Schuld lastete schwer auf ihm. Aber er wußte nicht, was er anders hätte tun sollen.
Und da war noch etwas anderes. Er konnte sich nicht einmal um die Sicherheit eines Mädchens kümmern. Er wußte nicht, wo Julie war – ob sie tot oder lebendig oder von Rocambeaus Leuten gefangengenommen war. Er hatte sie bei seinem Aufgehen in der Beschäftigung mit dem Hurrikan nicht richtig gesehen, aber jetzt sah er sie ganz, und er spürte Tränen über seine Wangen rinnen – nicht Tränen des Selbstmitleids, nicht einmal Tränen um Julie, sondern Tränen der blinden Wut über seine Dummheit und Ohnmacht. Wyatt war sehr jung.
Causton hörte das Feuergefecht, das links von ihnen noch anhielt. »Ich hoffe, er hat recht. Als Favel vor einem ähnlichen Problem stand, umging er die Stellung.« Er bewegte den Kopf in die Richtung, aus der der ferne Kampfeslärm kam. »Wenn Serrurier dort drüben durchbricht, kommt er den Kamm entlang und rollt diese Rebellen auf wie einen Teppich.«
»Ich glaube aber, Wyatt behält recht«, sagte Dawson. »Sehen Sie einmal auf die See hinaus!«
Die Stadt war in einen wogenden grauen Nebel gehüllt, aus dem die Brände rötlich herausleuchteten, und der Horizont war schwarz. Niedrige Wolkenfetzen trieben wie Girlanden über sie hinweg. Der Wind hatte sich sehr verstärkt und heulte schon jetzt höllisch. Blitze zuckten draußen über der See, und ein einzelner Regentropfen fiel auf Caustons Hand. Er sah nach oben. »Es sieht wirklich etwas häßlich aus. Gott helfe den Seeleuten in einer solchen Nacht!«
»Gott helfe Serrurier und seiner Armee!« sagte Dawson und starrte hinunter nach St. Pierre.
Causton blickte zurück und sah Wyatt am Rande des Deckungsloches sitzen. »Er nimmt es schwer – er glaubt, versagt zu haben. Er hat noch nicht begriffen, daß es keine Vollkommenheit gibt, der verdammte junge Tor. Aber er wird noch lernen, daß das Leben ein Kuhhandel ist – ein bißchen Böses für eine Menge Gutes.«
»Ich hoffe, daß er es nie lernt«, sagte Dawson leise. »Ich lernte diese Lektion, und sie ist mir nicht gut bekommen.« Er blickte Causton in die Augen, und nach einer Weile wandte Causton den Blick ab.
***
Rawsthorne war kein junger Mann mehr, und zwei Tage Anstrengungen und Leben im Freien waren ihm anzumerken. Er konnte in dem bergigen Gelände nicht schneller vorankommen – seine Lungen hatten längst die Dehnbarkeit verloren, und seine Beine die Kraft. Sein Atem ging keuchend, während er versuchte, ein gutes Tempo einzuhalten, und seine Oberschenkelmuskeln schmerzten schrecklich.
Aber er war in einer besseren Verfassung als Mrs. Warmington. Jahre von Sahnekuchen und Bewegungsmangel hatten sie zu einem teigigen Fleischhaufen gemacht. Sie keuchte und humpelte hinter ihm her, ihre überüppigen Formen hüpften dabei, und die ganze Zeit jammerte sie und beklagte ihr Leid; ein Obligato zu dem Pfeifen des aufkommenden Windes.
Trotz ihrer Wunden war Julie die frischeste von den dreien. Obgleich ihre Beine von den Bajonettstichen steif waren und schmerzten, waren ihre Muskeln straff und zäh, und ihr Atem ging regelmäßig, während sie Mrs. Warmington folgte. Ihr hartes Tennisspiel machte sich jetzt bezahlt, und diese Bergtour machte ihr keine Schwierigkeiten.
Es war Rawsthorne, der den Plan gefaßt hatte. »Es hat keinen Sinn, weiter nach Osten zu gehen, um der Armee zu entgehen«, sagte er. »Das Gelände um St. Michel ist niedrig – und wir können auf keinen Fall hierbleiben, weil Rocambeau zurückgeschlagen werden könnte. Wir werden hinter dem Rücken seiner Armee über die Berge nach Norden wandern müssen – vielleicht bis zum Negrito.«
»Wie weit ist das?« fragte Mrs. Warmington besorgt.
»Nicht weit«, sagte Rawsthorne beruhigend. »Wir müssen etwa fünfzehn Kilometer laufen, bis wir ins Negrito-Tal sehen können.« Er sagte nicht, daß die Strecke durch schwieriges Gelände führte und daß das Land vielleicht von Deserteuren wimmelte.
Weil Rawsthorne Zweifel hatte, ob er die Steinbruchwand überwinden könnte – und private, unausgesprochene Zweifel an Mrs. Warmingtons Kletterkünsten –, schlichen sie den Weg in Richtung zur Hauptstraße hinunter. Vorsichtig sahen sie sich nach allen Seiten um; sie wollten nicht gern den Wachposten treffen, der in dieser Richtung verschwunden war. Sie verließen den Weg dort, wo sie schon das erstemal zu der Bananenplantage aufgestiegen waren, und Julie schnürte es die Kehle zu, als sie einen noch sichtbaren Fußabdruck von Eumenides auf dem staubigen Boden sah.
Die Plantage schien menschenleer zu sein, aber sie bewegten sich trotzdem mit aller Vorsicht. Sie schlichen sich zwischen den Staudenreihen so leise wie möglich durch. Rawsthorne führte sie zu der Mulde, wo sie die Löcher gegraben hatten, in der Hoffnung, dort noch etwas zu essen und, noch wichtiger, Wasser vorzufinden. Aber da war nichts mehr, nur vier leere Löcher und weggeworfene leere Dosen und Flaschen.
Julie blickte auf das Loch, das aufgefüllt worden war, und empfand großen Kummer bei dem Gedanken an den Griechen. Erst graben wir sie, dann begraben sie uns in ihnen. Für Eumenides war die Prophezeiung eingetroffen. Rawsthorne sagte: »Wenn es nicht wegen des Krieges wäre, würde ich vorschlagen, daß wir hierbleiben.« Er legte seinen Kopf schief. »Meinen Sie, daß der Kampflärm sich entfernt oder nicht?«
Julie horchte und schüttelte dann den Kopf. »Das ist schwer zu sagen.«
»Ja, das ist es«, sagte Rawsthorne. »Wenn Rocambeau wieder zurückgeworfen wird, kommt er hier wieder durch, und dann sind wir wieder, wo wir waren.«
Mrs. Warmington sah in die Mulde und schüttelte sich. »Lassen Sie uns von diesem schrecklichen Ort weggehen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Er macht mir angst.«
Das soll er wohl, dachte Julie; du hast hier einen Mann getötet.
»Wir werden nach Norden gehen«, sagte Rawsthorne. »Durch dieses kleine Tal und über den nächsten Höhenrücken. Wir müssen aber vorsichtig sein; es könnten sich zu allem fähige Männer hier herumtreiben.«
Also gingen sie durch die Plantage, über den Wirtschaftsweg, umgingen vorsichtshalber die Zwangsarbeiterunterkünfte und stiegen auf der anderen Seite den Berg hinauf. Zuerst legte Rawsthorne ein scharfes Tempo vor, aber er konnte es nicht durchhalten und wurde allmählich langsamer, bis sogar Mrs. Warmington mitkommen konnte. Solange sie auf kultiviertem Land liefen, kamen sie trotzdem schnell genug voran.
Auf dem Kamm des ersten Rückens verließen sie die Bananenpflanzungen und kamen in die Ananasfelder, wo alles gutging, solange sie zwischen den Reihen liefen und sich vor den scharfen, spitzen Blättern in acht nahmen. Aber dann kamen sie ans Zuckerrohr, und da es ihnen nicht möglich war, quer durch das Dickicht zu gehen, mußten sie nach einem Weg suchen, der in ihre Richtung führte. Es war ein schmaler Weg durch das hohe grüne Rohr, das in dem Wind raschelte und knackte. Trotz der Brise und der Federwolken, die die Sonne verschleierten, war es immer noch sehr heiß, und Julie döste, während sie mechanisch hinter Mrs. Warmington dahintrottete.
Sie sahen keinen Menschen und schienen sich durch ein leeres Land zu bewegen. Der Weg ging etwas auf und ab, brachte sie aber ständig höher hinauf, und als Julie sich einmal umblickte, sah sie Hütten in der Ferne. Aber es stieg kein Rauch aus diesen Siedlungen auf, und auch sonst war kein Leben zu erkennen. Wo der Weg die Zuckerrohrfelder verließ, trafen sie auf weitere Hütten, und sobald er sie sah, hielt Rawsthorne die Hand hoch. »Wir müssen vorsichtig sein«, flüsterte er. »Lieber sichergehen. Warten Sie hier!«
Mrs. Warmington setzte sich auf der Stelle hin und hielt sich die Füße. »Diese Schuhe bringen mich um«, sagte sie.
»Still!« sagte Julie und spähte durch das Zuckerrohr nach den Hütten. »Es könnten Soldaten hiersein – Deserteure.«
Mrs. Warmington sagte nichts mehr, und Julie dachte erstaunt: sie lernt es doch allmählich. Dann kam Rawsthorne zurück. »Es ist in Ordnung«, sagte er. »Es ist keine Menschenseele da.« Sie traten aus dem Zuckerrohr hinaus und gingen an den Hütten vorbei. Mrs. Warmington starrte auf die schiefen Wände aus gestampfter Erde und die Strohdächer und schnaufte verächtlich. »Schweineställe, mehr sind das nicht«, verkündete sie. »Sie sind für Schweine noch zu schlecht.«
Rawsthorne sagte: »Ob da wohl irgendwo Wasser ist? Ich könnte gut etwas trinken.«
»Wir wollen nachsehen«, sagte Julie und betrat eine der Hütten. Sie war spärlich möbliert und sehr primitiv, aber auch sehr sauber. Sie ging in einen winzig kleinen Raum, der offensichtlich eine Küche war, und fand ihn wie Mutter Hubbards Küchenschrank – leergefegt. In einer anderen Hütte war es dasselbe, und als sie auf den offenen Platz zwischen den Hütten hinaustrat, sah sie, daß Rawsthorne auch kein Glück gehabt hatte.
»Diese Leute sind geflüchtet«, sagte er. »Sie haben entweder alle ihre Habseligkeiten mitgenommen oder sie vergraben.« Er hielt eine Flasche hoch. »Ich habe Rum gefunden, aber ich würde ihn nicht als Durststiller empfehlen. Vielleicht können wir ihn aber doch noch brauchen.«
»Glauben Sie, daß sie vor dem Krieg geflüchtet sind?« fragte Julie, »oder vor dem Hurrikan – wie der alte Mann bei St. Michel?«
Rawsthorne rieb sich die Wange. »Das ist schwer zu sagen. Ich würde zunächst sagen, vor dem Krieg – es ist aber egal.«
»Diese Leute müssen irgendwo Wasser geholt haben«, sagte Julie. »Vielleicht von dort unten?« Sie zeigte auf einen Pfad, der am Rande des Zuckerrohrfeldes bergab führte. »Sollen wir nachsehen?«
Rawsthorne zögerte. »Ich glaube nicht, daß wir uns hier zu lange aufhalten sollten – es ist zu gefährlich. Ich glaube, wir sollten weitergehen.«
Von dem Augenblick, als sie in die Waldregion kamen, wurde das Vorankommen schwieriger. Der Boden war arm und steinig, und die gepflegten Bäume klammerten sich mit einem Gewirr von bloßliegenden Wurzeln am Berghang fest. Sie stolperten und fielen immer wieder. Der Berg war hier steiler, und das bißchen Erde, das hier gewesen sein mochte, war längst ins Tal gespült, dorthin, wo jetzt die üppigen Plantagen waren. Unter ihren Füßen waren Fels und Staub und spärliche Büschel eines zähen Grases, das sich hartnäckig hielt, wo ihm die verkrüppelten Bäume die Sonne nicht nahmen.
Sie kamen auf den Kamm und sahen vor sich einen weiteren, noch höheren und steileren Bergrücken. Julie sah in das kleine Tal hinunter. »Ob dort unten wohl ein Bach ist?«
Sie fanden einen Wasserlauf in dem Tal, aber er war ausgetrocknet und enthielt keinen Tropfen Feuchtigkeit. Also gingen sie weiter. Mrs. Warmington war jetzt schon sehr erschöpft; sie hatte längst ihre Widerborstigkeit verloren, und ihre Lust am Kommandieren war einer Neigung zu Klagen gewichen. Julie stieß sie gnadenlos vor sich her. Immer hielt sie sich vor Augen, was diese Frau getan hatte, und Rawsthorne beachtete ihre Klagen nicht – er hatte genug damit zu tun, seinen eigenen schmerzenden Körper auf diesen schrecklichen, staubigen Berg hinaufzuschleppen.
Als sie oben ankamen, ging das Gelände in ein Hochplateau über, und es war nicht mehr so schwierig. Der Fels war hier mit einer kargen Erdschicht bedeckt, und die Vegetation war etwas üppiger. Sie trafen auf eine weitere Gruppe von Hütten auf einer Lichtung – auch diese waren verlassen, und wieder fanden sie kein Wasser. Rawsthorne sah den kleinen Fleck mit Mais und Zuckerrohr an und sagte: »Ich nehme an, sie sind auf Regenfälle angewiesen. Nun, sie werden bald eine Menge davon kriegen – sehen Sie sich einmal um!«
Der südliche Himmel war dunkel von Wolken, und die Sonne war von einem dickeren Grau verschleiert. Es war merklich kühler, und aus der Brise war ein kräftiger Wind geworden. In der Ferne, anscheinend sehr weit weg, hörten sie immer noch den Kanonendonner, und er beeindruckte Julie jetzt sehr viel weniger. Sie hätte aber nicht sagen können, ob das die Entfernung machte oder ob weniger geschossen wurde.
Rawsthorne beunruhigte das nahende Unwetter. »Wir können uns jetzt nicht aufhalten. Wir müssen nur noch dort hinüber.« Er zeigte auf einen noch höheren Bergrücken, der genau vor ihnen lag. »Da liegt der Negrito.«
»O Gott!« sagte Mrs. Warmington. »Das schaffe ich nicht – das schaffe ich unmöglich.«
»Sie müssen«, sagte Rawsthorne. »Wir müssen an einen Nordhang, und der ist auf der anderen Seite. Kommen Sie!«
Julie stieß Mrs. Warmington, bis sie aufstand, und sie ließen die Hütten zurück. Sie sah auf die Uhr – es war halb fünf Uhr nachmittags.
Um halb sechs hatten sie das Plateau überquert und waren halb den Berg hoch, und aus dem Wind war ein starker Sturm geworden. Es schien viel früher dunkel zu werden als sonst – die Wolken hingen jetzt schwer über ihnen, aber es war noch kein Regen gefallen. Der Wind zerrte bei ihrem Aufstieg an ihren Kleidern und schüttelte sie unbarmherzig, und mehr als einmal verlor einer von ihnen das Gleichgewicht und rutschte in einem kleinen Bergrutsch aus Staub und kleinen Steinen zurück. Der Wind peitschte die Äste der verkrüppelten Bäume, daß sie wie gefährliche Flegel hin und her schlugen, und die trockenen Blätter wurden von dem Sturm über den Berghang gefegt.
Es dauerte eine scheinbare Ewigkeit, bis sie den Kamm erreichten, und auch dann konnten sie den Negrito noch nicht sehen. »Wir müssen … hinunter … andere Seite«, schrie Rawsthorne gegen den Wind an. »Wir dürfen … nicht … bleiben …« Der Wind riß ihm den Atem ab, und er kämpfte sich geduckt weiter vor.
Julie folgte und schubste Mrs. Warmington vor sich her. Sie wankten über den Kamm hinweg, wo sie der Wut des anwachsenden Hurrikans voll ausgesetzt waren. Sie waren von einem dicken, milchiggelben Licht umgeben, das fast zum Greifen schien, und der Staub wurde in Wolken von dem nackten Fels aufgewirbelt. Julie schmeckte ihn beim Laufen und spürte den Sand zwischen den Zähnen.
Endlich gingen sie bergab und sahen den Boden des Negrito-Tals dreihundert Meter unter sich, schwach erleuchtet von dem unangenehmen gelben Licht. Sobald sie den Bergkamm hinter sich hatten, spürten sie etwas Erleichterung, und Rawsthorne blieb stehen und sah erstaunt ins Tal hinunter. »Teufel, was ist dort unten los?«
Zuerst konnte Julie nicht sehen, was er meinte, aber dann bemerkte sie, daß es weiter unten an den Hängen krabbelte und daß dünne Menschenschlangen vom Tal heraufstiegen. »All die Menschen!« sagte sie verwundert. »Wo kommen die alle her?«
Rawsthorne stieß ein kurzes Lachen aus. »Es gibt nur einen Ort, von dem sie kommen können – St. Pierre. Jemand muß sie herausgeschafft haben.« Er runzelte die Stirn. »Aber die Schlacht ist noch im Gange – meine ich. Hören Sie die Kanonen?«
»Nein«, sagte sie, »nicht bei diesem Sturm.«
»Ich überlege …«, sann Rawsthorne. »Ich überlege, ob …« Er vollendete den Satz nicht, aber Julie erfaßte, was er andeuten wollte, und ihr Herz wurde leicht. All die Menschen dort unten mußten St. Pierre verlassen haben, als noch niemand sehen konnte, daß ein Hurrikan kam, und soweit sie wußte, gab es nur einen Menschen, der davon überzeugt war, daß ein Hurrikan zu ihnen unterwegs war – ein geradliniger, hartnäckiger, unbeugsamer Mann – David Wyatt. Er lebt, dachte sie und spürte einen unerklärlichen Kloß im Hals. Gott sei Dank, er lebt!
»Ich glaube nicht, daß wir gleich hinuntersteigen sollten«, sagte Rawsthorne. »Ist dort drüben nicht eine Schlucht?«
Da war eine Rinne in dem Berghang, eine von Wetter und Wasser tief eingegrabene Schlucht, die von drei Seiten Schutz gegen den Sturm bieten würde. Sie gingen schräg hinüber und krochen die steile Wand der Schlucht hinunter. Hier spürten sie den Wind noch weniger, obwohl sie ihn über ihren Köpfen heulen hörten. Sie fanden eine kleine Höhlung unter einem großen Felsblock, beinahe eine Höhle, in der sie sitzen konnten.
Hier klappte Rawsthorne schließlich zusammen. Ihn hatte nur noch der Wille, die Frauen in Sicherheit zu bringen, aufrechterhalten, und jetzt, da er sein Ziel erreicht hatte, lehnte sich sein Körper gegen die erlittene Mißhandlung auf. Julie sah erschrocken sein graues Gesicht und seine schlaffen Lippen. »Fühlen Sie sich nicht gut, Mr. Rawsthorne?«
»Ich komme schon wieder zurecht, mein Kind.« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande und bewegte seine Hand ein wenig. »In meiner Tasche … Flasche … Rum. Wir … brauchen … alle …«
Sie fand den Rum, öffnete die Flasche und hielt sie ihm an die Lippen. Der scharfe Sprit schien ihm gutzutun, denn es kehrte etwas Farbe in seine Wangen zurück, oder es kam ihr wenigstens so vor, es war in dem Dämmerlicht schwer zu erkennen. Sie wandte sich Mrs. Warmington zu, die ebenso schlapp dalag, und goß ihr etwas von dem Rum zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch in den Mund.
Sie wollte eben selbst etwas trinken, als es einen ohrenbetäubenden Krach gab. Grellblaues Licht blendete sie, und darauf folgte ein Donnergrollen. Sie rieb sich die Augen, und dann hörte sie den Regen, die schweren Tropfen, die auf den staubigen Grund klatschten. Sie kroch aus ihrem kleinen Unterschlupf hinaus und ließ sich das Gesicht beregnen, öffnete den Mund und ließ die Tropfen hineinfallen. Durstig sog sie den Regen auf, durch ihren Mund und durch ihre Haut, Sie spürte ihr Hemd naß an ihrem Körper kleben. Das Wetter tat ihr gut, besser, als der Rum ihr getan hätte.
***
Der Wind brauste tosend über St. Pierre und fachte die Flammen an, so daß das Feuer breite Straßen übersprang und es bald aussah, als würde die ganze Stadt zu einem unlöschbaren Feuerofen.
Dann kam der Regen und löschte das Feuer in fünfzehn Minuten. Es regnete über fünf Zentimeter in der ersten Stunde; ein bitterer, schmerzhafter Guß, die schweren Tropfen, vom Wind getrieben, platzten wie Schrapnelle, wo sie auftrafen. Causton hatte noch nie erlebt, daß Regen schmerzte; er hatte nie gedacht, daß Wassertropfen so groß sein könnten oder daß sie einen mit solch lähmender Wucht treffen könnten. Zuerst hielt er sie für Hagel, aber dann sah er die Tropfen auf dem Boden vor dem Loch zerspritzen, und jeder schien so groß zu sein, daß er eine Tasse gefüllt hätte. Er blinzelte und wischte sich das Haar aus dem Gesicht. Dann traf ihn ein Tropfen mit so erschreckender Wucht seitlich im Gesicht, daß er sich auf den Boden des Loches duckte. Dawson stöhnte vor Schmerzen, drehte sich auf die Seite und hielt seine verbundenen Hände unter den Körper, um sie gegen den Regen zu schützen. Keiner hörte seinen plötzlichen Aufschrei, nicht einmal Causton, der neben ihm kauerte, weil das Getöse des Sturms nun so stark war, daß es alle anderen Laute übertönte.
Wyatt interessierte das Windgeräusch beruflich. Er schätzte, daß die Windgeschwindigkeit plötzlich auf Stärke zwölf angestiegen war, die höchste Stufe der Beaufortskala. Der alte Admiral Beaufort hatte die Skala für Segelschiffskapitäne aufgestellt und war dabei vernünftig vorgegangen – seine Stärke zwölf entsprach einer Windgeschwindigkeit, bei der nach seiner Meinung kein vernünftiger Seemann auf See sein würde, wenn er es vermeiden konnte. Windstärke zwölf entspricht fünfundsiebzig Knoten oder hundertzwanzig Kilometern pro Stunde, und den Admiral interessierten höhere Windgeschwindigkeiten nicht, weil sie auch einem Kapitän, der in extremis von ihnen überrascht wurde, gleichgültig sein konnten. Für einen plötzlichen Tod brauchte man keine Gradeinteilung.
Aber die Zeiten hatten sich geändert seit Admiral Beaufort, und Wyatt, der mitgeholfen hatte, sie zu verändern, wußte das sehr gut. Ihn interessierte hier nicht der Einfluß des Windes auf ein Segelschiff, sondern auf eine Insel, auf die Gebäude einer Stadt. Ein Wind von Stärke zwölf übt einen Druck von dreiundachtzig Kilogramm auf einen Quadratmeter aus, über drei Tonnen auf die Seite eines durchschnittlichen Hauses. Ein vernünftig gebautes Haus kann diesen Druck aushalten, aber dieser Hurrikan würde nicht vernünftig sein.
Die höchsten Windgeschwindigkeiten in den stärksten Böen von Mabel waren auf 270 Kilometer pro Stunde geschätzt worden, das würde einen Druck von fast fünfhundert Kilogramm auf einen Quadratmeter ergeben. Das reichte, um einen Menschen von den Füßen zu reißen und so weit durch die Luft zu schleudern, wie es dem Wind paßte. Es reichte, um eine Hauswand einzudrücken, einen starken Baum zu entwurzeln, den Mutterboden von einem Feld mitzunehmen, eine Plantage zu vernichten, ein Wellblechhüttenviertel dem Erdboden gleichzumachen.
Wyatt hörte deshalb mit ungewöhnlichem Interesse auf das Tosen des Windes.
Währenddessen hielt er den Kopf eingezogen und saß mit Causton und Dawson in einem Loch voll Wasser. Aus den beiden Abflußgräben schoß das Wasser wie aus Feuerlöschschläuchen unter vollem Druck, aber das Loch wurde nie leer. Es war, als säßen sie mitten in einem Fluß. Rings um sie schossen Bäche den Berg hinunter und gruben Rinnen in den weichen Boden. Wyatt wußte, das würde nicht lange dauern – die Windgeschwindigkeit stieg weiter, und bald würde der Wind stark genug sein, dieses Oberflächenwasser abzuheben und als feinen Sprühregen weiterzutragen. Das war ein Vorteil – noch nie hatte er gehört, daß jemand in einem Hurrikan verdurstet war.
Dieser Regen, der in Millionen Tonnen herunterkam, war der Motor, der das Monstrum antrieb. Auf jeden Quadratkilometer, über den der Hurrikan hinwegziehen würde, würden durchschnittlich hunderttausend Tonnen Wasser fallen, wodurch ungeheure Wärmemengen zum Antrieb der kreisenden Winde freigesetzt würden. Es war eine große Turbine – fünfhundert Kilometer im Durchmesser und mit fast unvorstellbarer Leistung.
***
Causton hatte ganz andere Gedanken. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er richtig Angst. Bei seiner Arbeit hatte er es mit den Handlungen von Menschen zu tun, und den Menschen, das politische Tier, meinte er zu verstehen. Sein Arbeitsfeld war die Welt, und er fand sich an Unruheherden, wo Studenten in den Straßen von Großstädten demonstrierten und wo Kriegsbrände im grünen Dschungel aufflammten. Andere Kollegen berichteten über Erdbeben, Fluten, Lawinen – über die Naturkatastrophen.
Er hatte immer gewußt, wenn er in Schwierigkeiten kam, konnte er sich irgendwie herausreden, weil er es mit Menschen zu tun hatte, und mit Menschen konnte man reden. Jetzt fand er sich zum erstenmal in seinem Leben in einer gefährlichen Situation, in der Reden zwecklos war. Mit einem Hurrikan konnte man ebensowenig reden wie mit einem bengalischen Tiger; ja er war sogar noch schlimmer – den Tiger konnte man zumindest erschießen.
Er hatte sich Wyatts Vortrag über Hurrikane auf Cap Sarrat mit oberflächlichem Interesse angehört, aber seine Neugierde hatte sich mehr auf Wyatt gerichtet als auf den Gegenstand des Gesprächs. Jetzt wünschte er sich, er hätte genauer zugehört und sich mehr interessiert. Er stieß Wyatt an und schrie: »Wie lange wird das dauern?«
Die dunkle Gestalt drehte sich zu ihm um, und er spürte warmen Atem an seinem Ohr. »Was sagten Sie?«
Er legte seinen Mund an Wyatts Ohr und brüllte: »Wie lange wird das dauern?«
Wyatt drehte sich wieder um. »Etwa acht Stunden – dann gibt es eine kurze Pause.«
»Was passiert dann?«
»Weitere zehn Stunden, aber von der anderen Seite.«
Causton war entsetzt; daß er diese Qual so lange aushalten sollte. Er hatte an etwa drei bis vier Stunden gedacht. Er schrie: »Wird es noch schlimmer?«
Es war schwierig, irgendeine Bewegung aus Wyatts Antwort herauszuhören, aber er glaubte, kalten Humor herauszuhören. »Es hat noch gar nicht richtig angefangen.«
Causton kroch tiefer in das Loch, der Regen hämmerte auf seinen Kopf, und er dachte: Wie kann es denn noch schlimmer werden?
***
Die Sonne war untergegangen, und es war stockdunkel, die undurchdringliche Finsternis wurde nur von Blitzen durchbrochen, die immer häufiger wurden. Donner war aus dem allgemeinen Getöse nicht herauszuhören. Wyatt kam es so vor, als hätte sich das Geräusch verschärft – die Windgeschwindigkeit stieg noch weiter, obwohl es ohne Instrumente nicht möglich war, eine einigermaßen genaue Geschwindigkeit anzugeben. Eines war jedoch gewiß – sie lag weit über der oberen Grenze der Beaufortskala.
Wyatt dachte belustigt an Caustons Frage: Wird es noch schlimmer? Der Mann hatte keine Vorstellung von den Naturgewalten. Man hätte mitten in diesem Hurrikan eine Atombombe zünden können, und das bißchen zusätzliche Energie wäre unbemerkt untergegangen – von dem größeren Aufruhr verschlungen. Und dieser ging noch. Gewiß war dieser Hurrikan ein böser Bursche, aber es hatte schon schlimmere gegeben – und es wurden schon viel höhere Windgeschwindigkeiten gemessen.
Er schloß seinen Geist gegen das Heulen des Windes ab. Wieviel war es noch? O ja – 372 Kilometer pro Stunde wurden auf dem Mount Washington registriert, bevor das Instrument entzweiging – das war der Rekord. Und dann waren da die theoretischen Geschwindigkeiten in den Tornados. Es bestand natürlich keine Möglichkeit, diese zu registrieren – diese sehr starken Winde, die mehr als neunhundert Kilometer pro Stunde erreichten –, aber es war ein starker Wind, der einen Strohhalm durch ein Brett von ein Zoll Dicke trieb.
Und doch waren Tornados klein. Ein Tornado stand zu einem Hurrikan etwa im Verhältnis wie ein Jagdflugzeug zu einem Bomber – das Jagdflugzeug ist schneller, aber der Bomber hat mehr Gesamtleistung. Und ein Hurrikan enthält unmeßbar viel mehr Leistung als ein Tornado, mehr Leistung als irgendein anderes Windsystem auf der Welt. Er erinnerte sich an den wirklich bösen, der 1953, als er in England studierte, den Atlantik überquert hatte. Er hatte im Westatlantik teuflisch gehaust und war dann über den ganzen Atlantik bis nach Nordengland gezogen und hatte das Wasser der Nordsee aufgestaut, wie Mabel das jetzt mit dem Wasser in der Santego Bay tat. In Holland waren die Deiche gebrochen, und East Anglia in England war überflutet worden. Es war die schlimmste Wetterkatastrophe, die Europa seit Jahrhunderten erlebt hatte. Der Hurrikan war der teuflischste unter den Stürmen.
***
Dawson hielt seine Hände gegen die Brust. Er war naß bis auf die Haut und glaubte, er würde nie wieder trocken werden. Hätte er nicht so gern gefischt, hätte er wohl lieber den Rest seines Lebens in irgendeiner netten Wüste zugebracht, wo es keine solchen Stürme gab – etwa im Death Valley. Aber er fischte wirklich gern, und hier waren die besten Gewässer dafür, und er wußte, wenn er dieses Erlebnis überstand, würde er wiederkommen. Andererseits – warum überhaupt erst weggehen? Warum sollte er nicht auf San Fernandez wohnen? Es gab jetzt nichts mehr, was ihn in New York festhielt, und warum sollte er dann nicht wohnen, wo es ihm gefiel?
Er grinste, als er daran dachte, daß er sogar damit das Programm fortsetzen würde, das sein Presseagent, Wiseman, für ihn ausgearbeitet hatte. Er hatte sich mächtig bemüht, um den Mantel Hemingways für seine Person umzuschneidern. Hatte Hemingway nicht auf Kuba gewohnt? Zum Teufel damit! Er wollte es gern, und er würde es tun.
Merkwürdigerweise hatte er keine Angst. Der unerwartete Mut, den er gefunden hatte, als er Roseau und seinen Knechten gegenüberstand und die Katharsis der nachfolgenden Beichte an Wyatt hatten etwas in ihm freigemacht, hatten einen Quell der Männlichkeit erschlossen, der vorher verlegt und in falsche Richtungen abgelenkt gewesen war. Er hätte eigentlich Angst haben müssen, denn dies war das Schrecklichste, was er bisher erlebt hatte, aber er hatte keine, und dieses Wissen gab ihm Kraft.
Mit zähem Schlamm beschmiert lag er in einem Wasserloch und wurde von Wind und Regen gepeitscht, und er war sehr zufrieden dabei.
***
Der Hurrikan erreichte seine größte Gewalt kurz nach Mitternacht. Allein der Lärm war schon furchterregend, ein bösartiges, schreckliches Heulen von roher Gewalt, das dem Gemüt weh tat. Der Regen hatte nachgelassen, und es gab keine großen Tropfen mehr, nur noch fein zerstäubtes Wasser, das mit hundertsechzig Kilometern pro Stunde parallel zur Erdoberfläche dahingefegt wurde. Und wie Wyatt vorausgesehen hatte, war das strömende Oberflächenwasser von dem wütenden Wind abgehoben worden.
Die Blitze zuckten nun unaufhörlich und tauchten den Höhenrücken in einen grellen blauen Schein, und einmal sah Wyatt, als er den Kopf hob, die dunklen Umrisse der Berge, des Massif des Saints. Sie würden dem schrecklichen Sturm widerstehen; wie sie dort standen, tief in den Eingeweiden der Erde verwurzelt, waren sie ein ebenbürtiger Gegner für den Hurrikan, der sich an ihnen zu Tode stoßen würde. Vielleicht würde diese kleine Barriere Mabel die Spitze abbrechen, und er würde während seines weiteren Weges durch das Karibische Meer an den Wunden sterben, die er sich hier geholt hatte. Vielleicht. Aber das würde das Leiden von San Fernandez nicht lindern.
Im Licht eines anderen Blitzes sah er etwas sehr Großes und Flaches über sich hinwegsegeln wie eine durch die Luft trudelnde Spielkarte. Es schlug keine fünf Meter von ihrem Loch entfernt auf und wurde dann wieder hochgewirbelt. Er wußte nicht, was es war.
Sie lagen in ihrem Loch und drückten sich in den dicken, zähen Schlamm auf dem Boden, taub von dem irrsinnigen Kreischen des Sturms und naß bis auf die Haut. Sie wurden immer kälter durch den Wind, der die Feuchtigkeit in ihrer Kleidung verdunstete, und ihre Gemüter waren betäubt von der Ungeheuerlichkeit der Kräfte, die um sie herum tobten. Einmal hob Causton unabsichtlich seinen Arm über den Rand des Loches, und der Wind packte ihn am Ellbogen und riß den Arm mit solcher Gewalt nach vorn, daß er dachte, er sei gebrochen, und wenn der Arm gegen das Schultergelenk bewegt worden wäre, hätte das auch leicht der Fall sein können.
Sogar Wyatt, der mehr von den Vorgängen verstand als die anderen, war überrascht von dieser Gewalt. Bisher hatte er, wenn er in einen Hurrikan hineinflog, einen gewissen inneren Stolz empfunden, nicht über seine eigene Tapferkeit, sondern über die Unerschrockenheit und das technische Können der Menschheit, die die Mittel erschaffen hatte, die es einem ermöglichten, einen Wirbelsturm zu reiten. Aber einem Hurrikan ohne den Schutz der wenn auch noch so dünnen Duraluminwände eines Flugzeugs ausgesetzt zu sein war wieder etwas anderes. Dieser war der erste Hurrikan, den er am Boden erlebte, und er würde danach ein noch besserer Meteorologe sein – wenn er ihn überlebte, woran er zu zweifeln begann.
Allmählich verfielen sie in Stumpfsinn. Der Geist – das Gemüt – die Seele – sie können nur ein bestimmtes Maß an Mißhandlung vertragen, und dann schirmen sie sich automatisch ab. Im Laufe der Stunden wurde der unglaubliche Lärm so sehr ein fester Teil ihrer Umgebung, daß sie ihn nicht mehr hörten. Ihr angespannter Körper lockerte sich, als kein Adrenalin mehr in ihren Blutstrom gepumpt wurde, und müde geprügelt verfielen sie in einen unruhigen Halbschlaf, ihre Glieder schlaff im Schlamm ausgestreckt.
***
Um drei Uhr morgens begann der Wind etwas nachzulassen, und Wyatt, dessen Ohr sogar in seiner unruhigen Passivität auf das Geräusch eingestellt war, bemerkte die Veränderung sofort. Der Regen hatte ganz aufgehört, und nur noch der grausame Sturm war als Peiniger übrig, und selbst der ließ zögernd nach. Er kam manchmal wieder mit wütenden Böen, als ob er das Nachlassen bedauerte, aber er wurde ständig schwächer. Um vier Uhr rührte sich Wyatt und sah auf die Uhr. Er mußte erst den Schlamm abwischen, bevor er die Leuchtzeiger sehen konnte. Es war immer noch stockdunkel, und es blitzte nicht mehr so stark, aber jetzt konnte er den Donner hören, was bedeutete, daß der Wind nicht mehr so stark war. Er streckte seine Glieder und hielt vorsichtig seine Hand hinaus. Der Wind drückte hart dagegen, aber nicht so hart, daß er ihm nicht widerstehen konnte, und er schloß daraus, daß die Windgeschwindigkeit jetzt eben wieder im Bereich der Beaufortskala lag – ein netter, gemütlicher Orkan.
Erst einmal geweckt, wurde sein Geist wieder tätig. Er war ungeheuer neugierig zu sehen, was auf der anderen Seite des Höhenrückens vorging. Die Neugierde siegte schließlich. Er prüfte die Kraft des Windes noch einmal und fand sie nicht zu schlimm. Also drehte er sich um, schob sich vorsichtig aus dem Loch hinaus und kroch auf dem Bauch den Hang hinauf. Der Wind zerrte an ihm, als er sich Zoll für Zoll durch den Schlamm vorarbeitete, und es war schlimmer, als er gedacht hatte. Es war ein großer Unterschied, ob man in einem Loch saß oder auf einer offenen Fläche erwischt wurde, und er wußte, daß sie ohne ihre Deckungslöcher nicht überlebt hätten. Aber durch seinen Wissensdrang getrieben, hielt er durch und erreichte unversehrt den Kamm, obwohl er eine Viertelstunde brauchte, um die zwanzig Meter zurückzulegen. Er ließ sich in ein mit Wasser gefülltes Loch fallen, das als Deckung gegen Stahl gegraben wurde, und nicht gegen Luft.
Er verschnaufte einige Minuten in diesem Schutz und war erst einmal froh, dem gröbsten Wind entronnen zu sein. Dann hob er den Kopf und spähte in die Dunkelheit hinaus, wobei er seine Hände wie Scheuklappen um die Augen legte. Zuerst sah er nichts, aber bei einem plötzlichen Verhalten des Sturms vor einer Bö hörte er etwas, das sich sehr nach Meeresrauschen und Wellenklatschen anhörte. Er blinzelte und starrte wieder hinaus, und da sah er im Schein eines Blitzes ein erschreckendes Bild.
Nicht weiter als zweihundert Meter entfernt war eine sturmgepeitschte See mit kurzen, häßlichen Wellen, deren Köpfe von dem Wind abgerissen und waagerecht über die Wasserwüste getrieben wurden. Ein Wirbel peitschte ihm Sprühwasser ins Gesicht, und als er sich über die Lippen leckte, schmeckte er Salz.
St. Pierre war vollkommen verschlungen worden.