6

Der höchste Punkt von Cap Sarrat war ein flacher Hügel, der vierzehn Meter über Seehöhe erreichte. Auf diesem Hügel stand ein hundertzwanzig Meter hoher Gittermast, der eine Reihe von verschiedenen Radarantennen trug. Von der Antenne an der Spitze leiteten präzise gearbeitete Mikrowellenleitungen elektronische Signale zu einem niedrigen Gebäude im Stützpunktgelände; diese Signale wurden dann millionenfach verstärkt auf einen Leuchtschirm übertragen, der ein grünes Licht ausstrahlte und das Gesicht von Petty Officer Joseph W. Harmon krank erscheinen ließ.

Petty Officer Harmon war gelangweilt und müde. Die Herren hatten ihn den ganzen Tag in Trab gehalten. Er war die meiste Zeit des Tages auf seiner Gefechtsstation in Bereitschaft gewesen, und dann mußte er auch noch am Abend seinen üblichen Dienst im Radarraum antreten. Er hatte also kaum geschlafen. Zuerst hatte ihn der Kanonendonner aufgeregt, der aus der Richtung von St. Pierre über die Santego Bay herüberhallte, und noch mehr aufgeregt hatte es ihn, als er eine Rauchsäule über der Stadt aufsteigen sah und hörte, daß Serruriers zweigeteilte Armee den Stützpunkt belagerte und zu jeder Zeit mit einem Angriff gerechnet werden konnte.

Aber kein Mann kann eine so hochgradige Erregung dauernd aufrechterhalten, und jetzt, um fünf Uhr morgens, fühlte er sich abgespannt und schläfrig. Seine Augen brannten, und als er sie einen Augenblick schloß, war ihm, als wären die Augäpfel mit Sand bestreut. Er riß sie wieder auf und starrte auf den Radarschirm. Er folgte wie hypnotisiert der umlaufenden Bewegung.

Er wurde wach, als seine Aufmerksamkeit von einem kleinen grünen Fleck erregt wurde, der schnell wieder zu einem Nichts verblaßte, und er mußte warten, bis der Strahl herumkam und die Stelle wieder überstrich. Da war er wieder, nur ein feiner Schleier, elektronisch auf das Glas gezeichnet, so schnell verblassend, wie er aufgeleuchtet hatte. Er stellte die Richtung fest; 174 Grad rechts weisend.

Keine Gefahr von dort, dachte er. Das war fast genau südlich und am Rand des Bildschirms; die Gefahr würde – wenn überhaupt – von der Landseite kommen, von Serruriers lächerlicher Luftwaffe. Es hatte bis vor kurzem ein ziemlich reger Flugbetrieb geherrscht, aber der war eingeschlafen, und zur Zeit schien die San Fernandanische Luftwaffe völlig untätig zu sein. Diese Tatsache hatte die Offiziere etwas beunruhigt, aber das kümmerte Harmon nicht, der dachte, wenn etwas die Offiziere interessierte, war es sicher nur etwas, was ihn von seiner Koje fernhalten würde.

Er blickte wieder auf den Radarschirm und sah wieder die kleine Störung im Süden. Als ein erfahrener Radarbeobachter wußte er sehr gut, was es war – da war ein Schlechtwettergebiet dort unten hinter der Kimm, und der geradlinige Radarstrahl erfaßte den oberen Rand. Er zögerte einen Augenblick, bevor er seinen Arm nach dem Telefonhörer ausstreckte, aber er hob ihn entschlossen auf. Er war angewiesen, den Offizier vom Dienst zu rufen, wenn irgend etwas – ausdrücklich irgend etwas – Ungewöhnliches sich zeigte. Als er sagte: »Geben Sie mir Lieutenant Moore!« spürte er ein wenig Genugtuung darüber, daß es ihm vergönnt war, den Lieutenant aus dem Schlaf aufzuscheuchen.

So kam es, daß Commander Schelling, als er an diesem Morgen um acht in sein Büro kam, einen säuberlich getippten Bericht auf seiner Schreibunterlage vorfand. Er nahm ihn zur Hand, in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt, und erschrak schrecklich, als die Mitteilung in sein Bewußtsein eindrang wie eine Harpune ins Fleisch eines Wals. Er griff zum Telefon und sagte heiser: »Geben Sie mir die Radarüberwachung – den Offizier vom Dienst!«

Während er auf die Verbindung wartete, überflog er den Bericht noch einmal. Er wurde schlimmer, während er las. Es klickte im Hörer. »Lieutenant Moore … dienstfrei? … Wer spricht denn da? … All right, Fähnrich Jennings, was ist da mit dem Schlechtwettergebiet im Süden?«

Er trommelte ungeduldig auf dem Tisch, während er sich anhörte, was Jennings ihm erzählte, knallte den Hörer hin und fühlte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Wyatt hatte recht gehabt – Mabel hatte die Richtung geändert, um San Fernandez einen Besuch abzustatten. Sein Körper funktionierte einwandfrei, als er alle vorhandenen Informationen über Mabel zusammensuchte und die Blätter in einen Aktendeckel legte, aber im Hintergrund jammerte eine innere Stimme: Das ist nicht fair, verdammt; warum sollte Wyatt recht behalten mit einer unwissenschaftlichen Vermutung? Warum zum Donnerwetter hielt sich Mabel nicht an die Regeln? Herrgott, wie soll ich das Brooks erklären?

Er stürzte außer Atem in den Radarraum, und ein Blick auf den Schirm sagte ihm genug. Er fuhr Jennings an: »Warum ist mir das nicht früher gemeldet worden?«

»Lieutenant Moore hat einen Bericht an Ihre Dienststelle geschickt, Sir.«

»Das war vor fast drei Stunden.« Er zeigte auf die sich verdickenden grünen Schlieren am unteren Rand des Radarschirms. »Wissen Sie, was das ist?«

»Ja, Sir«, sagte Jennings. »Da zieht ein bißchen Schlechtwetter auf.«

»Ein bißchen Schlechtwetter?« sagte Schelling beklommen. »Gehen Sie mir aus dem Weg, Sie Trottel!« Er schob sich an Jennings vorbei und stürzte in den sonnendurchfluteten Korridor hinaus. Er stand einen Augenblick unschlüssig da und biß sich auf seine trockenen Lippen. Dem Commodore mußte natürlich Meldung gemacht werden. Er verließ die Radarstelle wie ein Mann, der zu seiner eigenen Hinrichtung ging, und Jennings starrte verblüfft hinter ihm her.

Der Offizier im Vorzimmer von Brooks war im Zweifel, ob er Schelling zum Commodore vorlassen sollte. Schelling beugte sich über den Schreibtisch und sagte bedächtig: »Wenn ich nicht innerhalb von zwei Minuten beim Commodore drin bin, ist Ihre Karriere zu Ende.« Ein Funke Genugtuung glimmte in ihm auf, als er sah, daß er diesen Offizier eingeschüchtert hatte, aber er erstickte schnell bei der Vorstellung, was Brooks zu ihm sagen würde.

Der Schreibtisch sah so ordentlich aus wie immer, und Brooks selbst saß dahinter, als hätte er sich während der letzten zwei Tage nicht vom Fleck gerührt. Er sagte: »Well, Commander? Ich höre, Sie möchten mich dringend sprechen?«

Schelling schluckte. »Äh … ja, Sir. Es ist wegen Mabel.«

Brooks änderte nichts an seinem Tonfall, aber eine gewisse Spannung umgab ihn plötzlich, als er ruhig fragte: »Was ist mit Mabel?«

Schelling sagte unsicher. »Er scheint seine vorausgesagte Richtung geändert zu haben.«

»Scheint? Hat er, oder hat er nicht?«

»Ja, Sir, er hat.«

»Nun?«

Schelling sah in die harten grauen Augen und schluckte. »Er kommt genau auf uns zu.« Die Unbeweglichkeit des Commodore alarmierte ihn, und seine Zunge löste sich. »Er hätte das nicht dürfen, Sir. Es ist gegen alle Theorie. Er hätte westlich von Kuba vorbeiziehen sollen. Ich weiß nicht, warum er die Richtung geändert hat, und ich könnte Ihnen auch keinen anderen Meteorologen nennen, der es erklären könnte. Es gibt so viele Dinge, die wir nicht …«

Brooks rührte sich zum erstenmal. »Hören Sie auf zu quasseln, Schelling! Wie lange Zeit haben wir noch?«

Schelling legte seinen Aktendeckel auf den Schreibtisch und öffnete ihn. »Er ist jetzt etwas über 270 Kilometer entfernt, und er zieht mit achtzehn Kilometer pro Stunde. Das läßt uns noch fünfzehn, vielleicht auch sechzehn Stunden.«

Brooks sagte: »Ihre Überlegungen interessieren mich nicht – ich wollte nur eine Zeitangabe.« Er drehte sich in seinem Sessel um und griff zum Telefon. »Geben Sie mir den Einsatzoffizier … Commander Leary, bitte setzen Sie sofort Plan K in Kraft!« Er sah auf die Uhr. »Mit Wirkung von 8.31 Uhr. Ja, richtig … sofortige Evakuierung.«

Er legte den Hörer hin und wandte sich Schelling wieder zu. »Ich würde das nicht zu tragisch nehmen, Commander. Es war meine Entscheidung hierzubleiben, nicht Ihre. Und Wyatt hatte keine tatsächlichen Anhaltspunkte – nur eine vage Intuition.«

Aber Schelling sagte: »Vielleicht war ich zu starr in meiner Ansicht, Sir.«

Brooks wischte das beiseite. »Ich bezog das auch in meine Überlegungen mit ein. Ich kenne die Fähigkeiten meiner Offiziere.« Er drehte sich um und sah zum Fenster hinaus: »Ich bedauere nur, daß wir nichts für die Bevölkerung von St. Pierre tun können. Das ist uns leider unmöglich. Wir werden so bald wie möglich zurückkommen und bei den Aufräumungsarbeiten helfen, aber die Schiffe werden allerlei durchstehen müssen, und wir werden es nicht leicht haben.«

Er sah Schelling an. »Sie kennen doch Ihren Aufgabenbereich unter Plan K?«

»Ja, Sir.«

»Dann müssen Sie sich jetzt wohl auf Ihren Posten begeben.«

Während er Schelling hinausgehen sah, lag etwas wie Mitleid in seinem Ausdruck. Dann rief er seinen Adjutanten. Es gab viele Dinge zu tun – all die notwendigen Dinge. Sobald er wieder allein war, ging er hinüber zum Wandsafe und begann, Dokumente in eine mit Blei beschwerte Aktentasche zu packen, und erst als er seine letzte dienstliche Pflicht auf Cap Sarrat erledigt hatte, packte er die wenigen persönlichen Dinge ein, die er mitnehmen wollte. Dazu gehörte auch ein Foto von seiner Frau und zwei Söhnen, das er aus einer Schublade in seinem Schreibtisch nahm.

***

Eumenides Papegaikos war sehr verängstigt. Er war nicht aus dem Stoff, aus dem Helden gemacht werden, und er fühlte sich nicht wohl in der Situation, in der er sich befand. Sicher, einen Nachtklub zu betreiben hatte auch seine Schwierigkeiten, aber die waren von der Art, die sich mit Geld regeln ließen – sowohl Serruriers korrupte Polizisten als auch die örtlichen Gangstersyndikate waren käuflich, was zum Teil seine hohen Preise erklärte. Aber er konnte sich nicht von einem Bürgerkrieg loskaufen, und einen Hurrikan konnte man mit allem Gold der Welt nicht zur Umkehr bringen.

Er hatte gehofft, mit den amerikanischen Frauen nach Cap Sarrat gebracht zu werden, aber Wyatt und der Krieg hatten das vereitelt. Auf eine Art war er dankbar dafür, daß er unter Ausländern war – er konnte sich in Englisch nicht gewandt ausdrücken, aber das tarnte seine Angst und seine Unsicherheit. Er tat nichts aus freien Stücken, sondern führte nur aus, was ihm aufgetragen wurde, mit einer simulierten Willigkeit, die sein inneres Zittern verbarg – das war auch der Grund, weshalb er jetzt durch die Bananenplantage schlich, um vom Gipfel aus die Küstengegend beobachten zu können.

Er hörte Geräusche ringsumher – das Zirpen der Zikaden und schwächere, unheilverkündende Geräusche, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Da war ab und zu ein metallisches Klicken, Gemurmel in der Ferne und ab und zu ein Rascheln von Bananenblättern, die sich eigentlich nicht bewegen durften, weil es eine windstille Nacht war. Er kam schweißtriefend auf dem Gipfel an und sah auf die Küstenstraße hinunter. Dort war viel Betrieb: die Geräusche von schweren Lastwagen, das Aufblinken von Lampen und die Bewegungen von vielen Männern im hellen Mondlicht. Der Steinbruch, wo sie den Wagen zurückgelassen hatten, war jetzt voll von Fahrzeugen, und auf dem schmalen Weg herrschte ein ständiges Kommen und Gehen.

Nach einer Weile zog sich Eumenides zurück, um zu den andern zurückzukehren. Über die ganze Plantage leuchteten Lichter auf, die flackernden Feuer einer lagernden Armee, und manchmal erkannte er die Bewegungen von einzelnen Männern, wenn sie zwischen ihm und den Flammen liefen. Er ging den Berg hinab und hoffte, daß man ihn, wenn man ihn sah, nur für einen in der Dunkelheit herumstreifende Soldaten halten würde, und näherte sich mit Vorsicht der Mulde, in der sie ihre Löcher gegraben hatten. Er schaffte es ohne Schwierigkeiten, brauchte aber ziemlich lange. Als er wieder bei Julie und Mrs. Warmington eintraf, war fast eine Stunde vergangen.

Aus ihrem getarnten Deckungsloch wisperte Julie: »Eumenides?«

»Ja. Wo is' Rawsthorne?«

»Er ist noch nicht zurück. Was ist draußen los?«

Eumenides mühte sich lobenswert mit der englischen Sprache. »Menge Leute. Soldaten. Armee.«

»Regierungstruppen? Serruriers Leute?«

»Ja.« Er schwenkte den Arm in weitem Bogen. »Rund 'erum.«

Mrs. Warmington wimmerte leise. Julie sagte langsam: »Serrurier muß zurückgeschlagen worden sein – aus St. Pierre herausgedrängt. Was tun wir jetzt?«

Eumenides war still. Er wußte nicht, was sie tun konnten. Wenn sie wegzukommen versuchten, würden sie fast mit Sicherheit geschnappt werden, wenn sie aber blieben, würde das Tageslicht sie verraten. Julie sagte: »Sind Soldaten hier in der Nähe?«

Eumenides zeigte. »Kann sein sechzig Meter. Wir reden laut – sie 'ören.«

»Ein Glück, daß wir diese Mulde gefunden haben«, sagte Julie. »Sie müssen lieber in Ihr Loch kriechen, Eumenides. Decken Sie sich mit Bananenblättern zu! Wir werden auf Mr. Rawsthorne warten.«

»Ich habe Angst«, sagte Mrs. Warmington kleinlaut in der Dunkelheit.

»Meinen Sie, ich nicht?« flüsterte Julie. »Halten Sie jetzt den Mund!«

»Sie werden uns umbringen«, jammerte Mrs. Warmington lauter. »Sie werden uns vergewaltigen und dann umbringen.«

»Herrgott, halten Sie doch den Mund!« zischte Julie wütend. »Man wird Sie hören.«

Mrs. Warmington stöhnte leise und schwieg dann. Julie lag auf dem Boden ihres Loches und wartete auf Rawsthorne. Sie wunderte sich, daß er so lange ausblieb, und überlegte, was sie tun könnten, wenn er zurückkäme.

***

Rawsthorne war in Druck. Er hatte den Wirtschaftsweg überquert und fand es jetzt schwierig, wieder zurückzukommen; es herrschte ein ununterbrochener Verkehr in beiden Richtungen. Ein Lastwagen nach dem anderen donnerte mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern vorbei, so daß er nicht ungesehen über den Weg kommen konnte. Und er hatte lange gebraucht, um den Weg überhaupt wiederzufinden. In seiner Verwunderung darüber, daß er sich inmitten einer Armee befand, hatte er sich verlaufen, war in der Dunkelheit zwischen Pflanzenreihen umhergeirrt und erschrocken vor einer Gruppe von Soldaten geflohen, nur um auf eine andere zu stoßen.

Als er sich endlich beruhigt hatte, war er weit von dem Weg entfernt. Er lief anderthalb Stunden, bis er ihn wiederfand, ständig von der Angst vor der Entdeckung geplagt. Er machte sich keine Illusionen darüber, was passieren würde, wenn man ihn entdeckte. Serruriers Propaganda war wirksam gewesen; er hatte diese Männer belogen und ihnen die Köpfe verdreht, und dann hatte er sie zu Soldaten ausgebildet und gedrillt. Für sie waren alle Blancs Amerikaner, und Amerikaner waren die Buhmänner in Serruriers Mythologie – sie würden weiß mit amerikanisch gleichsetzen und amerikanisch mit Spion, und so würden sie ihn auf der Stelle erschießen.

Deshalb bewegte er sich vorsichtig, als er seinen Weg zwischen den Bananenstauden suchte. Einmal mußte er eine volle halbe Stunde reglos warten, während sich eine Gruppe von Soldaten hinter der Bananenstaude unterhielt, unter der er sich verbarg. Er drückte sich gegen die breiten Blätter und hoffte, daß keiner auf die Idee kommen würde, um die Staude herumzulaufen.

Als er weitergehen konnte, dachte er darüber nach, was die Männer gesagt hatten. Die Truppe war müde und mutlos; sie beklagten die Unfähigkeit ihrer Offiziere und sprachen mit großem Respekt von der Stärke von Favels Artillerie. Eine immer wiederkehrende Frage war: wo sind unsere Kanonen? Keine einzige hatte zurückschießen können. Aber die Neuigkeit war, daß die Armee unter General Rocambeau neu geordnet wurde und bei Tagesanbruch St. Pierre angreifen würde. Obzwar ein großer Teil ihrer Ausrüstung von Favel erbeutet worden war, hatten Rocambeaus zurückgehende Streitkräfte das Arsenal San Juan ausräumen können, und es war daher genug Munition für den Angriff vorhanden. Die Männer sprachen mit Achtung von Rocambeau und schienen neue Hoffnungen zu schöpfen.

Endlich hatte er den Weg gefunden und wartete im Schatten auf eine Lücke in dem Verkehr, aber es kam keine. Er sah verzweifelt auf seine Uhr – bis zur Dämmerung dauerte es nicht mehr lange, und bis dahin mußte er den Weg überquert haben. Als er die Hoffnung auf ein Nachlassen des Verkehrs aufgegeben hatte, ging er am Wegrand entlang, bis er an eine Kurve kam. Hier mußte es vielleicht möglich sein, den Weg zu überqueren, ohne von Scheinwerfern erfaßt zu werden. Er wartete, bis ein Lastwagen vorbei war, rannte dann hinüber und warf sich auf der anderen Seite hin. Die Scheinwerfer des nächsten Lastwagens, der um die Kurve kam, huschten über ihn hinweg, als er schwer atmend dort lag.

Es wurde schon hell am östlichen Himmel, als er die ungefähre Richtung zu der Mulde ausmachte, in der die anderen versteckt waren. Er schlich müde dahin und dachte, daß so etwas wohl für einen jüngeren Mann wie Wyatt oder Causton angehen konnte, aber einem älteren Herrn wie ihm den Tod bringen konnte.

***

Julie erhob sich aus ihrem Loch, als der Himmel heller wurde. Sie setzte sich zuerst vorsichtig auf, hob die riesigen grünen Blätter und sah hinaus. Sie überlegte, wo Rawsthorne wohl geblieben war. Niemand war in die Nähe der Mulde gekommen, und es schien, als ob sie auch weiterhin unentdeckt bleiben könnten, wenn sie still liegenblieben. Aber zuerst mußte sie nachsehen, aus welcher Richtung Gefahr am ehesten drohte.

Sie flüsterte Eumenides zu: »Ich gehe an den Rand der Mulde.«

Es raschelte unter den Bananenblättern. »Is' gut.«

»Verlassen Sie mich nicht!« flehte Mrs. Warmington und setzte sich auf. »Bitte gehen Sie nicht weg – ich habe Angst.«

»Sssch! Ich gehe nicht weit – nur ein paar Meter. Bleiben Sie hier, und seien Sie still!«

Sie kroch zwischen den Stauden davon und fand einen Platz, von dem aus sie die Pflanzungen übersehen konnte. In der trüben Morgendämmerung sah sie Männer laufen und hörte leises Gemurmel. Die nächste Gruppe war nur rund fünfzig Meter entfernt, aber die Männer schliefen alle. Sie lagen um die Glut eines ausgehenden Feuers gruppiert.

Sie war weggegangen, um ihre Tarnung bei Tageslicht, und bevor es zu spät war, zu prüfen. Deshalb sah sie jetzt in die Mulde zurück und entdeckte, daß die aufgegrabene Erde frisch aussah, aber das würde sich durch einige weitere Blätter beheben lassen. Die Löcher selbst fielen überhaupt nicht auf oder würden es nicht, wenn das verdammte Weib sich still verhalten würde.

Mrs. Warmington saß aufrecht da und sah sich nervös um, ihre Handtasche an die Brust gedrückt. »Bleib unten, dumme Pute!« hauchte Julie. Zu ihrer Überraschung öffnete Mrs. Warmington ihre Tasche, holte einen Kamm heraus und begann sich zu kämmen. Sie lernt es nie, dachte Julie verzweifelt; sie kann sich einfach nicht anpassen und ist von Gewohnheiten beherrscht. Sich morgens seiner Frisur zu widmen war ohne Zweifel eine lobenswerte Gewohnheit in einer Vorstadtwohnung, aber hier auf diesem grünen Berghang konnte sie den Tod bedeuten.

Sie wollte eben zurückhuschen und das Weib in ihr Loch zurückbefördern, mit Gewalt, wenn nötig, als sie eine Bewegung am gegenüberliegenden Rand der Mulde wahrnahm. Ein Soldat kam herunter. Er streckte seine Arme im Gehen, als wäre er eben aus dem Schlaf gekommen, und rückte den Gewehrriemen auf der Schulter zurecht. Julie verhielt sich ganz still und ließ ihren Blick zu Mrs. Warmington gehen, die sich in einem kleinen Spiegel betrachtete. Sie hörte deutlich das mißbilligende und sehr weibliche Geräusch, das Mrs. Warmington von sich gab, als sie sah, wie zerzaust sie aussah.

Der Soldat hörte es auch, nahm sein Gewehr von der Schulter und stieg sehr vorsichtig in die Mulde hinunter. Mrs. Warmington hörte das metallische Klicken, als er durchlud, und sie schrie, als sie ihn auf sich zukommen sah, und zerrte an ihrer Handtasche. Der Soldat blieb verwundert stehen. Dann verzog er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, und er kam näher und hängte sein Gewehr um.

Dann kamen drei trockene Knalle, die in der warmen Morgenluft widerhallten. Der Soldat schrie auf, drehte sich um sich selbst und fiel Mrs. Warmington vor die Füße. Er wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, und seine Uniform färbte sich an der Schulter blutrot.

Eumenides kam aus seinem Loch wie ein Stehaufmännchen, als Julie zu laufen anfing. Als sie auf dem Grund der Mulde ankam, beugte er sich über den verletzten Soldaten, der schwer stöhnte. Er betrachtete verständnislos seine blutige Hand. »Er ist geschossen!«

»Er ging auf mich los«, kreischte Mrs. Warmington. »Er wollte mich vergewaltigen – mich umbringen.« Sie schwenkte eine Pistole in ihrer Hand.

Julie gab es ihr. Sie legte all ihre Kraft in die Ohrfeige. Sie war entschlossen, dieses hysterische Weib um jeden Preis zum Schweigen zu bringen. Mrs. Warmington war plötzlich still, und die Pistole entfiel ihren kraftlosen Fingern und wurde von Eumenides aufgefangen. Er riß die Augen weit auf, als er sie ansah. »Das is' meine«, sagte er verwundert.

Julie flog herum, als sie einen Ruf hinter sich hörte und drei Soldaten den Hang heruntergerannt kommen sah. Der erste sah die hingestreckte Figur und die Pistole in Eumenides' Hand und hielt sich nicht mit Reden auf. Er legte an und schoß dem Griechen in den Bauch.

Eumenides ächzte und klappte zusammen, seine Hände gegen den Bauch gedrückt. Er ging in die Knie und fiel vornüber. Der Soldat hob sein Gewehr und stach ihm das Bajonett in den Rücken. Eumenides brach ganz zusammen, und der Soldat trat mit dem Stiefel auf ihn und zog das Bajonett heraus. Er stach wieder zu und wieder, bis der Körper in einer großen Blutlache lag.

***

Rawsthorne hatte alles vom Rand der Mulde mit angesehen. Ihm wurde übel, aber er konnte seine Blicke nicht losreißen. Er hörte das Geschrei und sah, wie die beiden Frauen herumgestoßen wurden. Einer der Soldaten piekte sie rücksichtslos mit einem Bajonett, und er sah, wie das Blut an Julies Arm herunterlief. Er dachte, man würde sie ohne weiteres erschießen, aber dann kam ein Offizier heran, und die beiden Frauen wurden weggeführt. Zurück blieb der leblose Körper von Eumenides Papegaikos.

Rawsthorne blieb noch eine Weile, wo er war. Eine Zeitlang war er ganz benommen, bevor sein Verstand wieder zu funktionieren begann. Schließlich machte er sich davon, auf dem Bauch kriechend. Aber er wußte eigentlich nicht, wohin er kroch, noch was er als nächstes zu tun gedachte.

***

Wyatt entdeckte, daß Favel nicht leicht zu finden war. Mit Dawson zusammen war er einem jungen Offizier übergeben worden, der zu sehr mit der unmittelbaren Kampflage beschäftigt war, um ihnen viel Aufmerksamkeit zu widmen. Um die Bürde loszuwerden, hatte der Offizier sie zurückgeschickt und ihnen nur einen einzigen einfachen Soldaten mitgegeben, der betrübt war, daß er aus dem Kampf gezogen wurde. Dawson sah ihn an und sagte: »Über die Moral dieser Burschen kann nicht geklagt werden.«

»Sie sind die Siegenden«, sagte Wyatt kurz. Er war besessen von dem Gedanken, so schnell wie möglich mit Favel sprechen zu müssen, aber er sah, daß es nicht leicht sein würde. Der Krieg hatte sich in zwei getrennte Schlachten im Westen und im Osten von St. Pierre aufgespalten. Favels Hammerschlag im Zentrum hatte Serruriers Armee in zwei ungleiche Teile geteilt. Der größere Teil hatte sich kämpfend nach Osten zurückgezogen, und ein kleinerer Teil war aufgelöst nach Westen geflohen, wo er zu den noch unversehrten Truppen stieß, die Cap Sarrat abriegelten.

Ein höherer Offizier lachte sie aus, als Wyatt Favel zu sprechen verlangte. »Sie wollen Favel sprechen«, sagte er ungläubig. »Blanc, ich will Favel sprechen – alle wollen ihn sprechen. Er ist ständig unterwegs; er ist ein vielbeschäftigter Mann.«

»Wird er hierherkommen?« fragte Wyatt.

Der Offizier knurrte. »Ich will es nicht hoffen. Er kommt nur, wenn etwas nicht in Ordnung ist, und ich möchte nicht der Anlaß für sein Kommen sein. Aber er könnte kommen«, prophezeite er. »Wir gehen gegen Rocambeau vor.«

»Können wir hierbleiben?«

»Gerne, solange Sie nicht im Wege stehen.«

So blieben sie im Bataillonsgefechtsstand, und Wyatt erzählte Dawson, was er erfahren hatte. Dawson sagte: »Ich glaube nicht, daß Sie die geringste Aussicht haben, ihn zu erwischen. Würden Sie sich zu so einer Zeit um einen spleenigen Wissenschaftler kümmern?«

»Ich glaube, das würde ich wohl nicht«, sagte Wyatt betrübt.

Er hörte sorgfältig auf alles, was um ihn vorging, und machte sich daraus allmählich ein Bild von der militärischen Lage. Serruriers Name wurde kaum erwähnt, aber der Name Rocambeau war in aller Munde.

»Zum Teufel, wer ist dieser Rocambeau?« wollte Dawson wissen.

»Er war einer der jüngeren Generäle der Regierungstruppen«, sagte Wyatt. »Er übernahm den Posten des alten Deruelles, als dieser fiel, und erwies sich als tüchtiger, als Favel lieb war. Favel hatte darauf gebaut, den Krieg in einem Zug zu beenden, aber Rocambeau hatte die Armee der Regierung in einer erfolgreichen Absetzbewegung aus der Schlinge gezogen. Er hat sich nach Osten zurückgezogen und gruppiert seine Streitkräfte für einen neuen Angriff um, und das Schlimmste dabei ist, daß er genug Fahrzeuge aufgetrieben hat, das Arsenal von San Juan auszuleeren. Er hat genug Munition und Reservewaffen, um den Krieg zu einem Ende zu führen, das Favel nicht gefallen würde.«

»Kann Favel nicht vorgehen und ihn erledigen, bevor er soweit ist? Ihn unvorbereitet erwischen?«

Wyatt schüttelte den Kopf. »Favel ist so ziemlich am Ende seiner Möglichkeiten. Er hat die ganze Zeit gegen schwere Überlegenheit gekämpft. Er mußte sich den Weg aus den Bergen herunter erkämpfen, und seine Leute kippen vor Müdigkeit fast aus den Stiefeln. Er muß auch anhalten, um seine Leute ausruhen zu lassen und sie umzugruppieren.«

»Was passiert also nun?«

Wyatt zog eine Grimasse. »Favel bleibt in St. Pierre – er hat nicht die Kraft, weiter vorzustoßen. Also wird er sich in St. Pierre verteidigen, und dann wird Mabel kommen und sie alle auslöschen. Keine Armee hat in diesem tiefen Gelände um die Santego Bay Überlebenschancen. Keiner wird diesen Krieg gewinnen.«

Dawson warf Wyatt einen Seitenblick zu. »Vielleicht sollten wir sehen, daß wir wegkommen«, schlug er vor. »Wir könnten den Negrito hinauffahren.«

»Nachdem ich mit Favel gesprochen habe«, sagte Wyatt fest.

»Okay«, sagte Dawson seufzend. »Wir werden hierbleiben und mit Favel sprechen – vielleicht.« Er machte eine Pause. »Wo stellt Rocambeau seine Truppen bereit?«

»Neben der Küstenstraße im Osten – etwa acht Kilometer vor der Stadt.«

»Heiliger Strohsack!« rief Dawson aus. »Ist das nicht, wo Rawsthorne und die anderen sich aufhalten?«

»Ich habe versucht, daran nicht zu denken«, sagte Wyatt gepreßt.

Dawson war betroffen. »Es tut mir leid«, sagte er niedergeschlagen, »daß ich mich so schäbig benommen habe. Wenn ich nicht versucht hätte, den Wagen zu stehlen, wären wir nicht getrennt worden.«

Wyatt sah ihn neugierig an. Irgend etwas war in Dawson vorgegangen; das war nicht der Mann, den er im Maraca Club getroffen hatte – der große, bedeutende Schriftsteller – und es war auch nicht der weinerliche Mann in der Zelle, der ihn zur Hölle schicken wollte. Er sagte behutsam: »Ich habe Sie darüber schon einmal befragt, und da wurden Sie bissig.«

Dawson sah auf. »Wollen Sie wissen, warum ich Ihren Wagen stehlen wollte? Ich werde es Ihnen sagen. Ich hatte Angst – Big Jim Dawson drehte durch vor Angst.«

»Das ist es, worüber ich mich gewundert habe«, sagte Wyatt nachdenklich. »Es paßt nicht zu dem, was ich über Sie gehört habe.«

Dawson lachte bitter. »Was Sie über mich gehört haben, ist großer Quatsch«, sagte er grob. »Ich bin sehr ängstlich.«

Wyatt sah Dawsons Hände an. »Das würde ich nicht sagen.«

»Das ist komisch«, sagte Dawson. »Als ich Roseau ausgeliefert war und wußte, daß da mit Reden nichts mehr zu machen war, hätte ich eigentlich Angst bekommen müssen, aber statt dessen packte mich die Wut. Das ist mir früher noch nie passiert. Was meinen Ruf anbetrifft, das ist alles Schwindel, künstlich aufgebaut – und es war so leicht. Man reist nach Afrika und erschießt so einen armen Löwen, und alle halten einen für einen Helden; man zieht einen Fisch aus dem Wasser, der ein bißchen größer ist als ein gewöhnlicher Fisch, und schon wieder ist man ein Held. Ich benutzte solche Dinge wie eine Keule und baute den Big Jim Dawson auf – einen Papiertiger, wie die Chinesen es nennen würden. Und es ist auch erstaunlich, was ein skrupelloser Presseagent schaffen kann.«

»Aber wozu?« fragte Wyatt verständnislos. »Sie sind ein guter Schriftsteller – alle Kritiker meinen das; Sie brauchen doch keine künstlichen Stützen.«

»Was die Kritiker meinen und was ich meine, sind zwei verschiedene Dinge.« Dawson blickte auf seine staubige Schuhspitze. »Sobald ich mich an eine Schreibmaschine setze und den leeren Bogen Papier ansehe, packt mich ein Gefühl, als sollte ich ertrinken, und wenn ich eine ganze Menge Blätter vollgeschrieben und ein Buch gemacht habe, wird dieses Gefühl noch schlimmer. Ich habe noch nie etwas geschrieben, das mir gefallen hat – es ist mir nie gelungen, aufs Papier zu bringen, was ich mir vorgestellt hatte. Deshalb hatte ich immer, wenn ein Buch herauskam, Angst, es würde durchfallen, und ich brauchte irgend etwas zur Unterstützung, damit es verkauft würde, und so wurde Big Jim Dawson erfunden.«

»Sie haben etwas Unmögliches zu erreichen versucht – Vollkommenheit.«

Dawson grinste. »Ich werde es weiter versuchen«, sagte er fröhlich. »Aber es ist mir nicht mehr wichtig. Ich glaube, ich habe die Angst überwunden.«

Viele Stunden später wurde Wyatt wachgerüttelt. Er hatte gar nicht gemerkt, daß er eingeschlafen war, und als er langsam wieder zu Bewußtsein kam, spürte er seine verkrampften Glieder und schmerzenden Gelenke. Er öffnete die Augen und blinzelte, als er von einer Taschenlampe geblendet wurde. Eine Stimme fragte: »Sind Sie Wyatt, oder ist es der andere?«

»Ich bin Wyatt«, sagte er. »Wer sind Sie?« Er warf die Decke ab, die jemand fürsorglich über ihn gedeckt hatte, und starrte den großen bärtigen Mann an, der auf ihn herabblickte.

»Ich bin Fuller. Ich habe ganz St. Pierre nach Ihnen abgesucht. Favel will Sie sprechen.«

»Favel will mich sprechen? Woher weiß er überhaupt, daß ich existiere?«

»Das ist eine andere Geschichte; kommen Sie!«

Wyatt stand ungelenk auf und sah durch die Tür. Der Morgen begann zu dämmern, und er sah einen Jeep auf der Straße und hörte den Motor laufen. Er drehte sich um und sagte: »Fuller? Sie sind der Engländer – einer von ihnen –, der an der Nordküste wohnt, im Campo de las Perlas.«

»Stimmt.«

»Sie und Manning.«

»Richtig geraten«, sagte Fuller ungeduldig. »Kommen Sie! Wir haben keine Zeit für Plaudereien.«

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte Wyatt. »Ich will Dawson wecken.«

»Dazu haben wir keine Zeit«, sagte Fuller. »Er kann hierbleiben.«

Wyatt drehte sich und starrte ihn an. »Hören Sie, dieser Mann wurde von Serruriers Schindern zusammengeschlagen Ihretwegen – Ihret- und Mannings wegen. Wir waren beide verdammt dicht davor, aus dem gleichen Grund erschossen zu werden. Er kommt mit!«

Fuller gab nach. »Oh, meinetwegen. Machen Sie aber schnell!«

Wyatt weckte Dawson und erklärte ihm schnell die Situation, und Dawson rappelte sich auf. »Aber woher weiß er denn von Ihnen?« war seine erste Frage.

»Fuller wird uns das sicher unterwegs erklären«, sagte Wyatt. Sein Tonfall deutete an, daß er eine Erklärung von Fuller verlangen würde.

Sie stiegen in den Jeep und fuhren los. Fuller sagte: »Favel hat seinen Gefechtsstand im Imperiale aufgeschlagen – es liegt schön zentral.«

»Nun hol mich doch der Teufel!« sagte Dawson. »Wir hätten uns nicht von der Stelle zu rühren brauchen. Wir waren noch heute … gestern … nachmittag dort.«

»Die Regierungsgebäude haben durch die Beschießung ziemlich gelitten«, sagte Fuller. »Sie werden noch für eine Weile unbrauchbar sein.«

Dawson sagte mit Betonung: »Darüber brauchen Sie uns nichts zu erzählen – wir waren dort.«

»So habe ich gehört«, sagte Fuller. »Es tut mir leid.«

Wyatt hatte den Himmel betrachtet und geschnuppert. Es war merkwürdig heiß, wenn man bedachte, daß es noch so früh war, und es versprach ein sengender Tag zu werden. Er zog die Stirn kraus und fragte: »Warum hat Favel nach mir geschickt?«

»Ein englischer Reporter kam mit einer merkwürdigen Geschichte – über einen Hurrikan. Ein Haufen Quatsch sicherlich. Aber Favel war doch so beeindruckt, daß er Suchkommandos nach Ihnen ausschickte, sobald wir die Stadt in der Hand hatten. Sie sind doch der Wetterfritze, nicht?«

»Ja, der bin ich«, sagte Wyatt ohne Bewegung.

»Also kam Causton durch«, sagte Dawson. »Das ist gut.«

Fuller lachte. »Er diente erst eine Zeitlang in der Regierungsarmee. Er erzählte uns, daß Sie im Loch saßen – in dem am Libération Place. Das war nicht sehr ermutigend, denn wir bepflasterten den Platz ziemlich gründlich, aber wir fanden keine weißen Leichen im Polizeigebäude und meinten, daß Sie vielleicht davongekommen waren. Ich habe die ganze Nacht nach Ihnen gesucht – Favel bestand darauf, und wenn er auf etwas besteht, wird es getan.«

Wyatt fragte: »Wann geht der Krieg wieder los?«

»Sobald sich Rocambeau zu seinem Vorstoß entschließt«, sagte Fuller. »Wir werden nur abwarten – wir haben im Augenblick nicht die Stärke, etwas anderes zu tun.«

»Und was ist mit den Regierungstruppen im Westen?«

»Sie liegen noch vor Cap Sarrat. Serrurier hat immer noch Angst, die Yankees könnten herauskommen und ihm in den Rücken fallen.«

»Werden sie es?«

Fuller grunzte. »Keine Aussichten. Dies ist eine lokale Angelegenheit, und die Yankees wollen nichts davon wissen. Ich glaube, sie würden Favel lieber sehen als Serrurier – wer würde das nicht? –, aber sie werden sich nicht einmischen. Gott sei Dank ist Serrurier anderer Ansicht.«

Wyatt überlegte, wo Fuller einzuordnen war. Er sprach, als ob er eine hohe Stellung in der Hierarchie der Rebellen einnähme, und war offensichtlich mit Favel sehr vertraut. Aber er stellte keine Fragen danach – er hatte wichtigere Dinge im Kopf. Das beste war, daß Favel ihn sprechen wollte, und er legte sich wieder seine Argumente zurecht.

Fuller stoppte den Jeep vor dem Imperiale, und sie stiegen alle aus. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen, und Wyatt bemerkte, daß die Drehtür entfernt worden war, um den Durchgang zu erleichtern. Er vermerkte einen weiteren Pluspunkt für Favel für praktisches Denken und Beachtung der Details. Er folgte Fuller ins Hotel und sah, daß es umgestellt worden war; die Halle war ausgeräumt worden, und die Bar diente als Kartenraum. Fuller sagte: »Warten Sie hier! Ich sage dem Chef, daß Sie da sind.«

Er ging, und Dawson sagte: »So mag ich einen Krieg wohl beobachten – vom stumpfen Ende aus.«

»Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn Rocambeau angreift.«

»Das ist sehr wahrscheinlich«, sagte Dawson, »aber ich will mir jetzt nicht die Stimmung nehmen lassen.«

Da kam ein Schrei von der Treppe, und sie sahen Causton heruntergerannt kommen. »Willkommen zu Hause!« rief er. »Schön, daß Sie aus dem Bunker raus sind.«

Wyatt lächelte säuerlich. »Wir wurden herausgeschossen.«

»Glauben Sie das nicht!« sagte Dawson. »Wyatt hat Großartiges geleistet – er hat uns beide befreit.« Er sah Causton an. »Was ist das auf Ihrem Gesicht – Schuhkrem?«

»Ja«, sagte Causton. »Ich kann das Zeug nicht abkriegen. Ich nehme an, Sie möchten sich waschen und neues Zeug anziehen.«

»Wo ist Julie – und Rawsthorne?« fragte Wyatt.

Causton blickte ernst drein. »Wir wurden recht früh getrennt. Wir planten, nach Osten zu fahren.«

»Sie sind nach Osten gefahren«, sagte Wyatt. »Jetzt sitzen sie dort mitten in Rocambeaus Armee.«

Dazu konnte niemand etwas sagen, und nach einer Weile sagte Causton: »Sie sollten beide die Gelegenheit zur Morgentoilette benutzen. Favel empfängt Sie noch nicht – ist mitten in einer Lagebesprechung; versucht, ein Wunder zu bewirken.«

Er führte sie nach oben in sein Zimmer und gab ihnen willkommenes heißes Wasser und Seife. Ein Blick auf Dawsons Hände brachte einen Arzt herbei, der Dawson schleunigst mitnahm. Dann brachte Causton ein sauberes Hemd für Wyatt und sagte: »Sie können meinen Trockenrasierer benutzen.«

Wyatt setzte sich aufs Bett und rasierte sich. Er fragte: »Wie sind Sie von den andern getrennt worden?«

Causton erzählte es ihm und sagte dann: »Ich kam schließlich bis zu Favel durch und überzeugte ihn von Ihrer Wichtigkeit.« Er kratzte sich am Kopf. »Entweder, er war leicht zu überzeugen, oder meine Überredungskünste sind viel besser, als ich dachte – aber er begriff sehr schnell. Er ist ein toller Bursche.«

»Hurrikan nicht eingerechnet – glauben Sie, daß er Aussicht hat, diesen Krieg zu gewinnen?«

Causton verzog das Gesicht. »Das ist eine unbeantwortbare Frage. Die Armee der Regierung ist weitaus stärker, und bis jetzt hat er sie durch Überraschung und reine Intelligenz geschlagen. Die Voraussetzungen für diesen Angriff wurden schon vor Monaten geschaffen.« Er lachte laut. »Wissen Sie, daß das Gros der Artillerie der Regierung überhaupt nicht zum Einsatz kam? Die Geschütze blieben in einem bösen Wirrwarr oder im Negrito-Tal stecken, und Favel kam und erbeutete den ganzen Kram. Ich hielt es für Glück, aber ich weiß jetzt, daß Favel sich nie auf das Glück verläßt. Die ganze Angelegenheit war geplant – Favel hatte Lescuyer, den Kommandeur von Serruriers Artillerie, auf seine Seite gezogen; Lescuyer gab widersprüchliche Befehle heraus und ließ zwei Artilleriekolonnen sich auf derselben Straße entgegenfahren, dann tauchte er unter. Bevor Deruelles dieses Durcheinander beseitigen konnte, war alles vorbei und er selbst tot.«

»Dann hat Rocambeau das Kommando übernommen, nehme ich an«, sagte Wyatt.

Causton nickte. »Das war schade. Rocambeau ist ein verdammt tüchtiger Kommandeur – viel besser, als Dentelles je hätte sein können. Er holte die Regierungstruppen aus der Falle heraus. Gott weiß, was jetzt werden soll.«

»Machten die Panzer der Regierung Favel nicht Kummer, als er in die Ebene kam?«

Causton grinste. »Nicht viel. Er sortierte die erbeutete Artillerie schnell aus. Er ließ einfach alles über den Straßenrand kippen, was im Weg stand, bildete dann sechs motorisierte Kolonnen und ging damit gegen Serruriers Panzertruppe vor. Sobald sich ein Tank oder ein gepanzertes Fahrzeug zeigte, ging ein Dutzend Geschütze in Stellung, und dann gab es Zunder. Die ganze Sache lief von Anfang an wie am Schnürchen, und die Generäle der Regierung tanzten nach Favels Pfeife – bis Rocambeau das Kommando übernahm. Als Favel zum Beispiel das 3. Regiment auf der Place de la Libération Noire zusammenschoß, hatte er Artilleriebeobachter mit tragbaren Funksprechgeräten schon in der Stadt, und sie erwischten das Regiment genau in der Bereitstellung.«

»Das weiß ich«, sagte Wyatt. »Ich habe das Ergebnis gesehen.«

Caustons Grinsen wurde breiter. »Er erledigte Serruriers Operettenluftwaffe auf genauso wirksame Weise. Die Flugzeuge begannen wohl zu fliegen und zu bombardieren, aber als drei Einsätze pro Maschine geflogen worden waren, mußten sie Treibstoff aus den Reservetanks auf dem Flugplatz entnehmen. Dem ganzen Vorrat hatte man Zucker zugesetzt – daran herrscht auf San Fernandez kein Mangel –, und jetzt stehen alle Maschinen mit verklebten Motoren auf dem Boden.«

»Er hat wirklich keine Mühe gescheut, das muß man ihm lassen«, sagte Wyatt. »Welche Rolle spielen Manning und Fuller dabei?«

»Da bin ich noch nicht ganz dahintergekommen. Ich glaube, sie haben etwas mit der Lieferung des Kriegsmaterials zu tun. Favel wußte wahrhaftig, was er brauchte – Gewehre, Maschinengewehre und motorisierte Artillerie, bestehend aus einer gewaltigen Zahl von Gebirgshaubitzen und Mörsern mit Bergen von Munition. Es muß eine Stange Geld gekostet haben, und ich habe noch nicht herausgefunden, wer das Ganze finanziert hat.«

»Manning und Fuller waren am richtigen Ort«, sagte Wyatt langsam. »Und die Polizei schien den Eindruck zu haben, daß sie allerlei mit Favel zu tun hatten. Sie haben Dawson halb totgeschlagen, um etwas aus ihm herauszuholen.«

»Ich habe seine Hände gesehen«, sagte Causton. »Was hat er ihnen erzählt?«

»Was konnte er ihnen erzählen? Er hat es eben über sich ergehen lassen.«

»Das überrascht mich«, sagte Causton. »Er steht bei uns Presseleuten in dem Ruf, ein Blender zu sein. Wir wissen, daß der Flugzeugabsturz in Alaska vor zwei Jahren fingiert war, um den Absatz seines letzten Buches zu heben. Die Sache wurde von Don Wiseman geplant und von einem Schaupiloten ausgeführt.«

»Wer ist Don Wiseman?«

»Dawsons Presseagent. Ich habe immer gemeint, daß alles, was wir von Dawson zu sehen bekamen, durch Wisemans Vergrößerungsglas gesehen war.«

Wyatt sagte leise: »Ich glaube, Sie können Wiseman als Dawsons gewesenen Presseagenten betrachten.«

Causton hob die Augenbrauen. »So steht es?«

»Dawson ist ganz in Ordnung«, sagte Wyatt, während er sich über die frisch rasierte Wange strich. Er legte den Trockenrasierer hin. »Wann bekomme ich Favel zu sehen?«

Causton zuckte mit den Schultern. »Wenn er fertig ist. Er plant einen Krieg, müssen Sie bedenken, und gerade jetzt sieht es vielleicht schlecht für ihn aus. Ich glaube, es fällt ihm nichts mehr ein; seine vorhergehende Planung war gut, aber sie reichte nur bis hierher. Jetzt steht er vor einem Duell mit Rocambeau und ist dafür nicht in der richtigen Verfassung. Er hat fünftausend Mann gegen fünfzehntausend Mann Regierungstruppen, und wenn er sich auf einen langsamen Zermürbungskampf einläßt, geht er ein. Er wird sich vielleicht wieder in die Berge zurückziehen müssen.«

Wyatt knöpfte sein Hemd zu. »Er wird sich schnell entscheiden müssen«, sagte er finster. »Mabel wird nicht warten.«

Causton saß schweigend da und sagte dann fast flehend: »Haben Sie etwas Handfestes vorzutragen, außer Ihrer bösen Vorahnung?«

Wyatt trat ans Fenster und sah zum heißen blauen Himmel hinauf. »Nicht viel«, sagte er. »Wenn ich im Stützpunkt wäre und meine Instrumente zur Verfügung hätte, könnte ich vielleicht schon logische Schlüsse ziehen, aber ohne Instrumente …« Er zuckte mit den Schultern.

Causton sah verzagt aus, und Wyatt sagte: »Wir haben Hurrikanwetter, das steht fest. Diese Windstille ist unnatürlich – irgend etwas blockiert den normalen Südostwind, und ich vermute, daß es Mabel ist.« Er zeigte mit einer Kopfbewegung auf die See. »Er ist irgendwo dort hinter dem Horizont. Ich kann nicht mit Sicherheit beweisen, daß er auf uns zukommt, aber ich glaube es ganz bestimmt.«

Causton sagte: »Unten ist ein Barometer, würde das Ihnen etwas nützen?« Seine Worte klangen ein wenig hoffnungsvoll.

»Ich will es mir ansehen«, sagte Wyatt. »Aber ich glaube nicht, daß es brauchbar ist.«

Sie gingen hinunter in den Trubel des Armeehauptquartiers, und Causton zeigte ihm das Barometer an der Wand des Geschäftsbüros. Wyatt betrachtete es erstaunt. »Guter Gott! Ein Toricellibarometer – was für ein Altertum!« Er klopfte sachte dagegen. »Es muß hundert Jahre alt sein.« Er sah sich die Skala näher an und sagte dann: »Nein, nicht ganz; Amadeus Copenhans – Amsterdam – 1872.«

»Ist es zu gebrauchen?« fragte Causton.

Wyatt war für einen Augenblick belustigt. »Das ist so, als würden Sie einem Atomwissenschaftler eine Spitzhacke in die Hand drücken und ihm sagen, er solle ein paar Atome spalten.« Er klopfte wieder gegen die Skala, und die Nadel zitterte. »Dieses Ding sagt uns, was jetzt vorgeht, und das ist nicht sehr wichtig. Was ich wissen möchte, ist, was im Verlauf der letzten vierundzwanzig Stunden vorgegangen ist. Ich würde etwas dafür geben, einen Aneroidbarographen mit Aufzeichnungen für die letzten drei Tage zu haben.«

»Dann ist dies hier nutzlos?«

»Leider ja. Es zeigt wahrscheinlich sowieso falsch an. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich jemand die Mühe gemacht hat, die nötigen Korrekturen für Temperatur, Breite und so weiter vorzunehmen.«

Causton wurde sarkastisch. »Das ist ein Jammer mit den lieben Wissenschaftlern. Sie haben ihre Instrumente so weit entwickelt, daß sie jetzt von ihnen abhängig sind. Was haben Sie bloß gemacht, bevor Sie Ihre Satelliten und elektronischen Apparate hatten?«

Wyatt sagte leise: »Wir waren auf Erfahrung und Instinkt angewiesen – so wie ich jetzt. Wenn man viele Hurrikane studiert hat – so viele wie ich –, entwickelt man einen sechsten Sinn, der einem sagt, was sie als nächstes tun werden. Nichts davon läßt sich an den Instrumenten ablesen, und es ist nichts, was man analysieren könnte. Ich möchte es die Stimme der Erfahrung nennen.«

»Ich glaube Ihnen immer noch«, sagte Causton beschwichtigend. »Aber die Frage ist: Können wir Favel überzeugen?«

»Das macht mir keine Sorgen«, sagte Wyatt. »Was mir Sorgen macht, ist, was wird Favel unternehmen, wenn wir ihn überzeugt haben? Er sitzt in der Klemme.«

»Wir wollen sehen, ob er mit der Besprechung fertig ist«, sagte Causton. »Als Journalist bin ich daran interessiert, was Favel in diesem Augenblick tut.« Er wischte sich über die Stirn. »Wissen Sie, Sie haben recht; dieses Wetter ist wirklich unnatürlich.«

***

Favel war immer noch nicht frei, und sie warteten in der Halle und beobachteten das Kommen und Gehen von Meldern durch die Tür des Speisesaales, in dem die Konferenz stattfand. Endlich kam Fuller heraus und winkte. »Jetzt sind Sie dran«, sagte er. »Machen Sie es so kurz wie möglich!« Er sah Wyatt aus ehrlichen blauen Augen an. »Persönlich halte ich das für Zeitverschwendung. Wir haben hier keine Hurrikane.«

»Serrurier sagte mir das auch, mit fast denselben Worten«, sagte Wyatt. »Er ist auch kein Meteorologe.«

Fuller schnaufte. »Well, kommen Sie! Damit die Sache erledigt wird.«

Er begleitete sie in den Speisesaal. Die Tische waren zusammengeschoben und mit Landkarten bedeckt, und eine Gruppe von Männern unterhielt sich leise am Ende des Raumes. Es erinnerte Wyatt unwiderstehlich an den großen prunkvollen Raum, in dem Serrurier seine Besprechung vor der Schlacht gehalten hatte, aber da war ein feiner Unterschied. Hier gab es keine Goldtressen und keine Hysterie.

Causton berührte seinen Ellbogen. »Das ist Manning«, sagte er und zeigte durch ein Kopfnicken auf einen großen Weißen. »Und der neben ihm ist Favel.«

Favel war ein hagerer, drahtiger Mann von nicht einmal durchschnittlicher Körpergröße. Er hatte eine sehr helle Haut für einen San Fernandaner, und seine Augen waren, auffallenderweise, von einem stechenden Blau – etwas sehr Ungewöhnliches bei einem Mann mit Negerblut. Er trug eine saubere Khakihose mit einem offenen Hemd, aus dem der starke, sehnige Hals aufstieg. Als er sich umdrehte, um Wyatt zu begrüßen, vertieften sich die Krähenfüße an seinen Augen, und die Winkel seines beweglichen Mundes zuckten in einem Lächeln. »Ah, Mr. Wyatt«, sagte er. »Ich habe nach Ihnen gesucht. Ich möchte hören, was Sie mir zu berichten haben, aber ich fürchte – nach dem, was Mr. Causton mir erzählte –, es wird mir nicht gefallen.« Sein Englisch war flüssig und akzentfrei.

»Es kommt ein Hurrikan«, sagte Wyatt prompt.

Favels Ausdruck änderte sich nicht. Er sah Wyatt mit einem halb belustigten Zug um den Mund an und sagte: »Wahrhaftig!«

Der große Weiße – Manning – sagte: »Das ist eine ziemlich kühne Behauptung, Wyatt. Wir haben seit 1910 keinen Hurrikan hier gehabt.«

»Und ich bin allmählich müde davon, das immer wieder zu hören«, sagte Wyatt unwillig. »Ist da etwas Magisches an dem Jahr 1910? Kommen Hurrikane in Abständen von hundert Jahren, und dürfen wir deshalb den nächsten im Jahre 2010 erwarten?«

Favel sagte ruhig: »Wenn nicht 2010, wann dürfen wir diesen Hurrikan erwarten?«

»Innerhalb von vierundzwanzig Stunden«, sagte Wyatt. »Spätestens dann, würde ich sagen.«

Manning machte ein Geräusch mit den Lippen, das Verachtung ausdrücken sollte, aber Favel hob die Hand. »Charles, ich weiß, daß Sie es nicht mögen, wenn etwas unseren Krieg stört, aber ich glaube, wir sollten uns anhören, was Mr. Wyatt zu sagen hat. Es könnte einen ziemlichen Einfluß auf unsere zukünftige Planung haben.« Er lehnte sich gegen den Tisch und zeigte mit seinem braunen Zeigefinger direkt auf Wyatt. »Nun, berichten Sie!«

Wyatt holte tief Luft. Er mußte diesen schlanken braunen Mann, dessen Blicke plötzlich hart geworden waren, überzeugen. »Der Hurrikan wurde vor fünf Tagen von einem der Wettersatelliten entdeckt. Vor vier Tagen flog ich einen der üblichen Erkundungsflüge mit und stellte fest, daß es sich um einen besonders bösen Hurrikan handelte, einen der schlimmsten, die ich je angetroffen habe. Ich habe seine Zugrichtung beobachtet, und solange ich noch im Stützpunkt war, zog er auf dem vorhergesagten Kurs. Danach hatte ich keine Möglichkeit mehr, die Richtung zu verfolgen.«

»Der vorhergesagte Kurs«, sagte Favel, »bringt der den Hurrikan nach San Fernandez?«

»Nein«, gab Wyatt zu. »Aber es wäre keine große Richtungsänderung nötig, um ihn hierherzubringen, und Hurrikane ändern ihre Richtung oft ohne ersichtlichen Grund.«

»Haben Sie Brooks darüber informiert?« fragte Manning schroff.

»Ja.«

»Nun, er hat Ihrer Geschichte nicht viel Gewicht beigemessen. Er sitzt immer noch dort drüben auf Cap Sarrat, und es sieht nicht danach aus, daß er ausziehen will.«

Wyatt sagte vorsichtig, Favel dabei anblickend: »Commodore Brooks ist nicht sein eigener Herr. Er hat andere Dinge mit zu berücksichtigen, besonders den Krieg, den Sie hier führen. Er geht ein kalkuliertes Risiko ein.«

Favel nickte. »So ist es. Ich kann mich in die Lage von Commodore Brooks versetzen – er möchte gewiß Cap Sarrat nicht gerade zu einem solchen Zeitpunkt räumen.« Er lächelte schelmisch. »Ich wäre auch gar nicht dafür, daß er den Stützpunkt jetzt räumte. Er hält durch sein Stillhalten Präsident Serrurier gebunden.«

»Das hat nichts damit zu tun«, sagte Manning abrupt. »Wenn er so sicher wäre, daß dieser Hurrikan kommt, wie Wyatt zu sein scheint, würde er den Stützpunkt bestimmt evakuieren.«

Favel beugte sich vor. »Sind Sie sicher, daß dieser Hurrikan kommt, Mr. Wyatt?«

»Ja.«

»Obwohl Sie nicht mehr an Ihre Instrumente konnten und nicht voll im Bilde sind?«

»Ja«, sagte Wyatt. Er sah Favel in die Augen. »Ich sah einen Mann oben in den Bergen bei St. Michel – vor zwei Tagen, eben vor Ausbruch der Kämpfe. Er verzurrte das Dach seiner Hütte.«

Favel nickte. »Auch ich habe einen Mann gesehen, der das tat. Ich fragte mich …«

»Herrgott!« explodierte Manning. »Wir haben hier doch keine Zusammenkunft eines folkloristischen Vereins. Die Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sind zu schwerwiegend, um auf etwas anderes als Tatsachen begründet zu werden.«

»Still, Charles!« sagte Favel. »Ich bin Westinder, und Mr. Wyatt ist auch einer. Wir verstehen einander.« Er sah Wyatts Gesichtsausdruck und lachte laut. »O ja, ich weiß alles über Sie; ich habe eine Akte über jeden Ausländer auf der Insel.« Er wurde ernst. »Haben Sie mit ihm gesprochen – mit diesem Mann, der das Dach festmachte?«

»Ja.«

»Was sagte er?«

»Er sagte, der große Wind komme. Er sagte, er wollte das Dach festmachen und dann seiner Familie zu einer Höhle in den Bergen folgen. Er sagte, der große Wind würde in zwei Tagen kommen.«

»Wie stimmte das mit Ihren eigenen Kenntnissen über den Hurrikan überein?«

»Es stimmte genau überein«, sagte Wyatt.

Favel wandte sich an Manning. »Dieser Mann ist zu seiner Höhle gegangen und betet dort jetzt zu einem alten halbvergessenen Gott – älter sogar als die Götter, die mein Volk von Westafrika mitbrachte. Hunraken, der karibische Sturmgott.« Manning sah Favel fassungslos an, und Favel murmelte: »Tut nichts zur Sache.« Er wandte sich wieder Wyatt zu und sagte: »Ich habe großes Vertrauen in die Instinkte meines Volkes. Vielleicht – er wedelte mit seinem mageren braunen Zeigefinger, »aber nur vielleicht, kommt tatsächlich ein Hurrikan. Wir wollen einmal annehmen, der Hurrikan käme – was wäre die voraussichtliche Folge, wenn er uns hier erwischte, hier in St. Pierre?«

»Mabel ist ein besonders schwerer …«, begann Wyatt.

»Mabel?« Favel lachte kurz auf. »Ihr Wissenschaftler habt das Gefühl für Dramatik verloren. Hunraken ist ein passenderer Name.« Er winkte mit der Hand. »Aber fahren Sie fort!«

Wyatt fing wieder an. »Er wird vom Süden kommen und in die Santego Bay hereinstoßen; die Bucht ist seicht, und das Wasser wird sich aufstauen. Es entsteht eine Flutwelle, wie man es volkstümlich nennt.«

Favel schnipste mit den Fingern. »Eine Karte! Wir wollen sehen, wie das auf einer Karte aussieht.«

Eine große Karte wurde auf einem der Tische ausgebreitet, und alle versammelten sich um den Tisch. Causton hatte mit Interesse die Unterhaltung zwischen Favel und Wyatt verfolgt und schob sich näher heran. Manning war trotz seiner Ungläubigkeit fasziniert von der Größe der Tragödie, die Wyatt eben skizzierte, und hörte mit ebensoviel Interesse zu wie alle anderen. Der weniger intellektuelle Fuller stand leicht lächelnd dabei; für ihn war das einfach Wichtigtuerei – es wußte doch schließlich jeder, daß es auf San Fernandez keine Hurrikane gab.

Favel legte seine Hand auf die Karte. »Diese Flutwelle – wie hoch wird der Wasserstand sein?«

»Ich bin kein Hydrograph – das ist nicht mein Gebiet«, sagte Wyatt. »Aber ich kann Ihnen eine Schätzung geben. Der Unterdruck im Zentrum des Hurrikans wird das Wasser um, sagen wir, sechs bis acht Meter über den normalen Wasserstand anheben. Wenn diese Welle in die Mündung der Bucht hineinläuft und auf das seichte Wasser trifft, wird sie sich aufstauen. Der Wasserstand wird auch durch die Einengungen steigen – immer mehr Wasser wird auf einen immer engeren Raum zusammengedrängt, während die Welle weiter in die Bucht hineinläuft.« Er zögerte einen Augenblick und sagte dann: »Man kann mit einer Hauptwelle von fünfzehn Meter Höhe rechnen.«

Jemand stieß zischend die Luft aus. Favel reichte Wyatt eine schwarze Kreide. »Zeichnen Sie bitte einmal an, welche Gebiete überflutet würden!«

Wyatt stand mit dem Kreidestift über der Karte. »Der Wind wird das Wasser auch hereindrücken«, sagte er. »Flutgefahr besteht für alle Gebiete unter der Zwanzigmeter-Konturlinie um die ganze Bucht herum. Sicherheitshalber würde ich lieber fünfundzwanzig Meter sagen.« Er ließ die Hand sinken und zeichnete einen kühnen Bogen in die Karte. »Alles zwischen dieser Linie und der See wird überflutet werden.«

Er machte eine Pause und tippte dann auf das Ende der Santego Bay. »Der Rio Negrito wird durch das in die Mündung drängende Wasser zurückgestaut werden. All das Wasser muß irgendwohin, und man muß im Negrito-Tal bis, sagen wir, fünfzehn Kilometer hinauf mit schweren Überflutungen rechnen. Der Hurrikan wird auch eine Menge Wasser in der Form von Regen bringen.«

Favel studierte die Karte und nickte. »Genau wie damals«, sagte er. »Haben Sie den Hurrikan von 1910 studiert, Mr. Wyatt?«

»Oberflächlich. Es gibt nicht viel statistisches Material darüber, nicht allzuviel zuverlässige Informationen.«

Favel sagte: »Sechstausend Tote; ich betrachte das als eine sehr interessante Statistik.« Er wandte sich Manning zu. »Sehen Sie sich diese Linie an, Charles! Sie schließt das ganze Gebiet von Cap Sarrat ein, die ganze Ebene mit dem Flugplatz, bis zum Fuße des Mont Rambeau, die ganze Stadt St. Pierre und die Ebene bis hinauf zum Negrito-Tal. All das geht unter.«

»Wenn Wyatt recht hat«, sagte Manning nachdrücklich.

Favel neigte den Kopf. »Zugegeben.« Sein Blick ging in die Ferne, und er stand eine Weile tief in Gedanken versunken. Dann wandte er sich an Wyatt. »Der Mann bei St. Michel – hat er noch etwas anderes gesagt?«

Wyatt dachte angestrengt nach. »Nicht viel. Oh, er sagte, da würde noch ein anderer Sturm kommen, vielleicht schlimmer als der Hurrikan. Er sagte, daß Favel aus den Bergen herunterkomme.«

Favel lächelte traurig. »Hält mein Volk mich für eine zerstörerische Macht? Ich glaube kaum, daß ich schlimmer bin als ein Hurrikan.« Er wandte sich zu Manning um. »Ich werde handeln, als ob dieser Hurrikan eine feststehende Tatsache wäre. Ich kann nicht anders handeln. Wir werden dementsprechend planen.«

»Julio, wir führen einen Krieg!« sagte Manning erschrocken. »Sie können sich nicht auf das Risiko einlassen.«

»Ich muß«, sagte Favel. »Dies ist mein Volk, Charles. Es wohnen sechzigtausend in dieser Stadt, und diese Stadt wird vielleicht zerstört.«

»Herr Jesus!« sagte Manning und sah Wyatt böse an. »Julio, wir können nicht gegen Rocambeau und Serrurier kämpfen und dann auch noch gegen einen Hurrikan. Ich glaube nicht, daß ein Hurrikan kommt, und ich werde es nicht glauben, solange Brooks nicht evakuiert. Wie können wir unter solchen Umständen eine Truppenaufstellung ausarbeiten?«

Favel legte eine Hand auf seinen Arm. »Haben Sie je erlebt, daß ich etwas falsch beurteilt habe, Charles?«

Manning stieß einen Seufzer aus, und es war, als hätte er vor Wut laut aufgeschrien. »Noch nicht«, sagte er hart. »Aber es gibt für alles ein erstes Mal. Und ich habe immer das Gefühl gehabt, Julio, – wenn Sie einmal einen Fehler machen, wird es ein verdammt großer sein.«

»In diesem Fall werden wir alle tot sein, und dann macht es nichts mehr«, sagte Favel trocken. Er wandte sich an Wyatt. »Gibt es etwas, was Sie tun könnten, um uns Gewißheit zu verschaffen?«

»Ich würde mir gern die See ansehen«, sagte Wyatt.

Favel blinzelte, zum erstenmal überrascht. »Das ist eine Kleinigkeit. Das läßt sich leicht einrichten. Charles, ich möchte, daß Sie dafür sorgen, daß Mr. Wyatt bekommt, was er braucht; ich möchte, daß Sie sich persönlich um ihn kümmern.« Er sah auf die geschwungene schwarze Linie auf der Karte. »Ich habe eine Menge zu überdenken. Ich möchte gern allein sein.«

»Gut«, sagte Manning resignierend. Er winkte Wyatt mit einer Kopfbewegung und schritt zur Tür. Wyatt und Causton folgten ihm in die Halle hinaus, wo Manning wütend auf Wyatt losging. Er packte ihn beim Hemd, knüllte es in seiner großen Hand zusammen und sagte wütend: »Sie verdammter Eierkopf! Sie haben uns alles vermasselt, oder etwa nicht?«

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir!« sagte Wyatt kalt.

Manning war vielleicht gewarnt durch das Funkeln in Wyatts Augen. Er ließ ihn los und sagte: »Also gut. Aber ich warne Sie.« Er fuchtelte mit dem Zeigefinger unter Wyatts Nase. »Wenn nach alldem doch kein Hurrikan kommt, wird Favel die Sache fallenlassen – aber ich nicht. Und ich verspreche Ihnen, daß Sie ein toter Meteorologe sind, bevor weitere vierundzwanzig Stunden verstrichen sind.«

Er trat zurück und sah Wyatt voll kalter Verachtung an. »Favel sagt, ich soll auf Sie aufpassen; dort draußen ist mein Wagen – ich fahre Sie, wohin Sie wollen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging.

Causton sah ihm nach. »Ich hoffe, daß Sie recht behalten, Wyatt«, murmelte er. »Das wünsche ich Ihnen. Wenn Mabel nicht zur angegebenen Zeit kommt, möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken.«

Wyatt war blaß. Er fragte: »Kommen Sie mit?«

»Ich möchte mir um nichts in der Welt etwas davon entgehen lassen.«

Manning sagte nichts, während er sie zum Hafen hinunterfuhr, an dem ausgeräumten Arsenal San Juan vorbei und auf die lange Mole. »Genügt Ihnen das?«

»Ich würde gern bis ans Ende fahren«, sagte Wyatt. »Wenn das ohne Gefahr möglich ist.«

Manning fuhr langsam weiter und hielt wenige Meter vor dem Ende der Mole. Wyatt stieg aus und betrachtete die ölige Dünung an der Mündung der Bucht und draußen auf der offenen See. Causton wischte sich über die Stirn und sagte zu Manning: »Gott, ist das heiß! Ist es oft so heiß am frühen Morgen?«

Manning beantwortete diese Frage nicht. Statt dessen zeigte er mit einer Kopfbewegung auf Wyatt. »Wie zuverlässig ist der?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Causton. »Ich habe ihn erst vor vier Tagen kennengelernt. Aber ich will Ihnen eines sagen – er ist der hartnäckigste Bursche, den ich je getroffen habe.«

Manning pustete, sagte aber nichts weiter.

Wyatt kam nach wenigen Minuten zurück und stieg in den Wagen. »Nun?« fragte Manning.

Wyatt biß sich auf die Lippe. »Es gibt eine starke Strömung draußen, stark genug, um eine mächtige Dünung aufzuwerfen. Das ist alles, was ich sagen kann.«

»Du guter Gott!« rief Manning aus. »Ist das alles?«

»Machen Sie sich keine Sorgen!« sagte Wyatt. »Sie kriegen Ihren Sturm.« Er sah zum Himmel hinauf. »Wo ich mich auch befinden sollte, ich möchte beim ersten Anzeichen von Wolken oder Dunst benachrichtigt werden.«

»In Ordnung«, sagte Manning und legte den Rückwärtsgang ein. Er wollte eben die Kupplung loslassen, als eine schwere Explosion über das Wasser herüberhallte und sein Kopf herumflog. »Teufel, was war das?«

Es kam ein anderes ›Wumm‹, als das erste eben erst von den Bergen hinter St. Pierre widerhallte, und Causton sagte aufgeregt: »Da passiert was im Stützpunkt. Sehen Sie!«

Sie hatten unbehinderte Sicht über die sechs Kilometer breite Wasserfläche der Santego Bay, die zwischen ihnen und dem Stützpunkt lag. Eine schwarze Rauchsäule stieg träge in die Luft, und Wyatt wußte, daß sie gewaltig sein mußte, um aus dieser Entfernung gesehen zu werden. Er hatte eine plötzliche Eingebung und sagte: »Brooks räumt. Er vernichtet seine Munitionsvorräte, damit sie Serrurier nicht in die Hände fallen.«

Manning sah ihn verblüfft an, und dann erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht, während immer mehr Explosionen in regelmäßigen Abständen folgten. »Bei Gott!« brüllte er. »Es kommt tatsächlich ein Hurrikan.«