4
Das Trommelfeuer schreckte Causton aus einem tiefen Schlaf auf. Er fuhr heftig zusammen und riß die Augen auf. Für einen Augenblick wußte er nicht, wo er war, und erkannte dann die vertraute Umgebung seines Zimmers im Imperiale. Eumenides, dem er ein Bett angeboten hatte, stand am Fenster und sah hinaus.
Causton saß in seinem Bett. »Gottverdammt!« sagte er. »Diese Geschütze sind nahe. Favel muß durchgebrochen sein.« Er kroch aus dem Bett und war einen Augenblick verwirrt, als er merkte, daß er seine Hose noch anhatte. Eumenides trat vom Fenster zurück und sah Causton betrübt an. »Sie werden in Stadt schießen«, sagte er. »Wird sehr schlecht sein.«
»Das ist es meistens«, sagte Causton und rieb sich die Bartstoppeln. »Was ist dort unten los?«
»Viele Leute – Soldaten. Viele verwundet.«
»Verwundete zu Fuß? Serrurier muß auf dem Rückzug sein. Aber er wird sein Äußerstes tun, um die Stadt zu halten. Da fängt der schrecklichste Teil an – die Straßenkämpfe.« Er zog mit schnellen, geübten Bewegungen einen Federwerk-Rasierapparat auf. »Serruriers Polizei hat die Bevölkerung niedergehalten; das war klug von ihm – er wollte nicht, daß seine Truppen durch Flüchtlingsströme behindert würden. Aber ob sie das auch mitten in einer Schlacht noch können, ist eine andere Frage. Ich habe das Gefühl, dies wird ein häßlicher Tag.«
Der Grieche zündete sich eine neue Zigarette an und sagte nichts.
Causton beendete schweigend seine Rasur. Er dachte darüber nach, was die Nähe der Geschütze zu bedeuten hatte. Favel mußte Serruriers Truppen im Negrito-Tal zerschlagen haben und in höchster Eile bis an den Rand von St. Pierre vorgestoßen sein. Bei einem so schnellen Vorstoß mußte er wohl auf Säuberungsoperationen verzichtet haben, und es waren wahrscheinlich intakte Teile von Serruriers Truppen über das ganze Negrito-Tal verstreut; sie waren sicher desorganisiert, nach dem Umherirren in der Dunkelheit, aber bei Tageslicht konnten sie zu einer Gefahr werden – einer Gefahr, die Favel vielleicht in Kauf nehmen konnte.
Denn eine größere Gefahr erwartete ihn. Er war in die Ebene vorgestoßen und klopfte an die Tore von St. Pierre – bei hellichtem Tage, und Causton bezweifelte, ob er für eine Materialschlacht unter diesen Bedingungen gut genug vorbereitet war. Bis jetzt hatte er sich auf das Überraschungsmoment verlassen und auf den plötzlichen Hammerschlag des unerwarteten Artilleriefeuers gegen Truppen, denen die Gewalt von Granaten neu war – aber Serrurier hatte Artillerie und Panzer und eine Luftwaffe. Gewiß bestand die Panzerwaffe nur aus drei veralteten Tanks und einem Dutzend verschiedener, gepanzerter Fahrzeuge, die Luftwaffe war mit umgebauten Zivilflugzeugen ausgerüstet, und Favel konnte über diese kläglichen Bemühungen zur Entfaltung von Modernität lachen, solange er in den Bergen in Sicherheit war. Aber im offenen Gelände sah die Sache ganz anders aus. Sogar ein alter Tank würde das Schlachtfeld beherrschen, und die Flugzeugbesatzungen konnten sehen, wo sie ihre Bomben hinwarfen.
Causton betrachtete sein Gesicht im Spiegel und überlegte, ob Favel schnell genug vorgestoßen war, um Serruriers Artillerie zu erbeuten, bevor sie eingesetzt werden konnte. Wenn das der Fall war, konnte man ihn den glücklichsten Feldherrn der Geschichte nennen, denn es war nur dem Versagen des Artilleriegenerals der Regierung zuzuschreiben, daß sie nicht zum Einsatz kam. Aber Glück spielte auf dem Schlachtfeld immer mit.
Er steckte seinen Kopf in kaltes Wasser, kam prustend wieder hoch und langte nach einem Handtuch. Er hatte sich eben abgetrocknet, als es an der Tür klopfte. Er warnte Eumenides durch ein Handzeichen. »Wer ist da?«
»Ich bin es«, rief Julie.
Er entspannte sich. »Kommen Sie herein, Miß Marlowe!«
Julie sah ein wenig zermartert aus; sie hatte dunkle Ringe um die Augen, so als ob sie wenig Schlaf gefunden hätte, und sie sah unordentlich aus. Sie strich ihr Haar zurück und sagte: »Dieses Weib macht mich wahnsinnig.«
»Was macht die liebe Warmington denn jetzt?«
»Im Augenblick döst sie, Gott sei Dank. Dieses Weib hat Nerven – sie behandelte mich gestern abend wie ein Dienstmädchen und wurde böse, weil ich ihre Befehle nicht ausführen wollte. Mitten in der Nacht fing sie dann an zu heulen und jagte mich fast die Wände hoch. Ich mußte sie schließlich unter Luminal setzen.«
»Schläft sie jetzt?«
»Sie ist vorhin aufgewacht, aber sie ist so betäubt, daß sie nicht weiß, was los ist.«
»Das ist vielleicht das beste«, sagte Causton, während er gleichzeitig nach dem Geschützdonner horchte. »Vielleicht ist es am besten, sie unter Betäubungsmitteln zu halten, bis wir hier heraus sind. Hoffentlich schafft Rawsthorne es rechtzeitig.« Er sah Julie an. »Sie sehen selbst nicht besonders gut aus.«
»Ich bin ziemlich fertig«, gestand sie. »Ich habe nicht gut geschlafen. Die halbe Nacht war ich mit Mrs. Warmington beschäftigt. Als ich sie in Schlaf hatte, fand ich selbst keinen Schlaf – ich mußte an Dave und Mr. Dawson denken. Als ich endlich eingeschlafen war, weckten mich diese verdammten Kanonen wieder auf.« Sie warf die Arme vor das Gesicht und fuhr zusammen, als es wieder einmal besonders laut knallte. »Ich habe Angst – ich scheue mich nicht, es einzugestehen.«
»Ich fühle mich selbst nicht besonders wohl«, sagte Causton trocken. »Wie sieht es bei Ihnen aus, Eumenides?« Der Grieche zuckte vielsagend mit den Schultern, grinste satanisch und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. Causton lachte. »Das beschreibt die Lage treffend.«
Julie fragte: »Glauben Sie, daß es Zweck hätte, noch einen Versuch zu machen, Dave aus dem Gefängnis zu holen?«
Causton unterdrückte das Bedürfnis zu fluchen. Als ein Mann, der durch Schreiben in englischer Sprache seinen Lebensunterhalt verdiente, hatte er immer die Meinung vertreten, daß Fluchen und der Gebrauch von unanständigen Wörtern einen Dummkopf kennzeichneten, der nicht fähig war, die großartigen Möglichkeiten der englischen Sprache zum vornehmen Ausdruck von Schmähungen voll auszuschöpfen. Aber in der vergangenen Nacht war er gezwungen worden, die ordinärsten Ausdrücke zu verwenden, als er dem völlig unzugänglichen Geist von Sous-Inspecteur Roseau gegenüberstand. Er hatte Rawsthorne schockiert, wenn auch vielleicht nicht Roseau.
Er sagte: »Da ist leider nicht viel Hoffnung. Die Wände des Arrestgebäudes sind gewiß dick, aber die Schädel der Polizisten sind noch dicker. Vielleicht kann Favel ihn herausholen, wenn er sich beeilt.«
Er stellte seinen Fuß auf die Bettkante, um seinen Schuh zuzuschnüren. »Ich hatte gestern abend ein Gespräch mit Rawsthorne; er erzählte mir einiges über Wyatts Hurrikan. Nach Rawsthorne ist es gar nicht sicher, daß ein Hurrikan kommt. Was wissen Sie darüber?«
»Ich weiß, daß Dave sehr beunruhigt war«, sagte sie. »Besonders nachdem er den alten Mann gesehen hatte.«
»Was für einen alten Mann?«
Julie erzählte von dem alten Mann, der sein Dach befestigt hatte, und Causton kratzte sich den Kopf. Er sagte milde: »Für einen Meteorologen hat Wyatt eine recht unwissenschaftliche Arbeitsweise.«
»Glauben Sie ihm nicht?« fragte Julie.
»Das ist gerade das Verrückte – ich glaube ihm«, sagte Causton. »Ich will Ihnen etwas sagen, Julie: Ich verlasse mich immer auf meine Intuition, und sie läßt mich selten im Stich. Das ist ja der Grund, weshalb ich gerade jetzt auf dieser Insel bin. Mein Chefredakteur sagte mir, ich redete Unsinn – ich hatte keine echten Beweise dafür, daß es hier zum Knallen kommen würde – deshalb bin ich inoffiziell hier. Ja, ich glaube an Wyatts Sturm, und wir werden verflixt schnell etwas unternehmen müssen.«
»Was können wir wegen des Hurrikans tun?«
»Ich meine, wir müssen uns selbst in Sicherheit bringen«, sagte Causton. »Hören Sie, Julie; Wyatts unmittelbarer Vorgesetzter glaubte ihm nicht, und Serrurier glaubte ihm nicht. Er hat getan, was er konnte, und wir können auch nicht mehr tun. Und wenn Sie glauben, ich will mitten in einem Bürgerkrieg mit einem Plakat mit der Aufschrift ›Denke an dein Ende!‹ herumlaufen, täuschen Sie sich.«
Julie schüttelte den Kopf. »Ich weiß«, sagte sie. »Aber da wohnen sechzigtausend wehrlose Menschen in St. Pierre – es ist schrecklich.«
»Schrecklich ist auch der Bürgerkrieg«, sagte Causton ernst. »Aber wir können nicht mehr tun als uns selbst retten – und auch das wird nicht einfach sein.« Er zog eine Karte aus seiner Jackentasche und breitete sie auf dem Bett aus. »Ich hätte es gern gesehen, wenn Rawsthorne schon gestern abend abfahrtbereit gewesen wäre, aber er sagte, er müßte erst noch einmal zum Konsulat zurück. Ich vermute, daß sogar ein kleiner Konsul Geheimschlüssel verbrennen muß, oder was sie sonst tun, wenn man am Vorabend einer Krise Rauch aus dem Botschaftsschornsteinen aufsteigen sieht. Wie spät ist es?«
»Gleich 'alb acht«, sagte Eumenides.
»Er sagte, er wollte um acht hier sein, aber er wird wahrscheinlich später kommen. Keiner von uns rechnete damit, daß Favel so schnell sein würde – ich bezweifle, ob Serrurier damit rechnete. Rawsthorne wird vielleicht aufgehalten, sogar mit einer Diplomatennummer am Wagen. Der verdammte Idiot, Dawson«, sagte er. »Wenn er nicht alles verpfuscht hätte, wären wir schon vor Stunden in Wyatts Wagen abgefahren.«
Er sah auf die Karte. »Wyatt sagte, wir müßten eine Stelle über der Dreißigmeterlinie an einem Nordhang suchen. Diese verdammte Karte hat keine Höhenkonturen. Eumenides, können Sie mir hier helfen?«
Der Grieche sah Causton über die Schulter. »Dort«, sagte er und legte seinen Finger auf die Karte.
»Das ist gewiß ein netter Platz«, gab Causton zu, »aber wir müßten zwei feindliche Armeen passieren, um dorthin zu kommen. Nein, wir werden in der einen oder der anderen Richtung der Küste folgen müssen und uns dann landeinwärts wenden, um Höhe zu gewinnen.« Sein Finger fuhr die Küstenstraße entlang. »Ich glaube, es hat keinen Zweck, nach Westen, in Richtung auf Cap Sarrat, zu fahren. Da liegen Einheiten der Regierungstruppen, und das Gelände ist ziemlich flach, soweit ich mich erinnere. Der Zivilflughafen liegt dort, und Favel wird vielleicht versuchen, ihn zu nehmen. Die Gegend wird vielleicht ziemlich ungesund sein. Wir werden also in die andere Richtung fahren müssen. Wie sieht es an dieser Straße aus, Eumenides? Dieser Straße nach Osten?«
»Die Straße geht 'och«, sagte Eumenides. »Da ist … da ist …« Er schnippte ärgerlich mit den Fingern. »Es fällt von Straße auf Meer.«
»Da ist eine Steilküste hier?« fragte Causton, und der Grieche nickte. »Genau, was wir brauchen«, sagte Causton befriedigt. »Wie sieht die Gegend weiter landeinwärts aus – sagen wir, hier?«
Eumenides bewegte seine Hand ausdrucksvoll auf und ab. »Berge.«
»Dann sind wir da richtig«, sagte Causton. »Aber Sie sollten es lieber mit Rawsthorne noch einmal besprechen, wenn er kommt.«
»Was ist mit Ihnen?« fragte Julie. »Wohin wollen Sie?«
»Jemand muß die Lage erkunden«, sagte Causton. »Wir müssen herausfinden, ob es praktisch möglich ist, in diese Richtung zu fahren. Ich will mich im Ostteil der Stadt umsehen. Für einen einzelnen Mann ist es sicher genug.« Er stand auf und ging zum Fenster. »Es sind jetzt genug Zivilisten unterwegs; die Polizei ist nicht imstande gewesen, sie alle in ihren Häusern zu halten. Da müßte ich durchkommen.«
»Mit weißer Haut?«
»Hm«, machte Causton. »Das ist ein Gedanke.« Er ging zu seiner Reisetasche und zog den Reißverschluß auf. »Ein klein wenig hiervon dürfte dem abhelfen.« Er betrachtete angeekelt die Dose mit brauner Schuhcreme in seiner Hand. »Würden Sie sie auftragen, Julie? Nur einen Hauch – es gibt genug hellhäutige Neger hier, und ich möchte nicht aussehen wie ein angemalter Negersänger.« Julie schmierte etwas von der Schuhcreme auf sein Gesicht. Er sagte: »Vergessen Sie den Nacken nicht! Das ist wichtig. Es ist nicht so sehr eine Maske wie vielmehr eine Täuschung; es genügt, die Haut gerade soviel dunkler zu tönen, daß die Leute nicht genauer hinsehen und sagen: ›Seht da, diesen Blanc!‹«
Er rieb etwas von der Creme auf seine Hände und Handgelenke und sagte: »Jetzt brauche ich noch eine Staffage.«
Julie starrte ihn an. »Was brauchen Sie?«
»Ein Theaterrequisit. Ich bin durch die Korridore der Machtzentrale in Whitehall geschlendert, und niemand hat mich angehalten, weil ich ein Bündel Papiere in der Hand trug und so aussah, als wollte ich irgendwohin. Ich machte einen guten Fang in einem Krankenhaus, indem ich in einem weißen Kittel umherlief, mit einem aus der Tasche heraushängenden Stethoskop. Man muß versuchen, wie ein natürlicher Teil der Umgebung auszusehen – ein Stethoskop berechtigt mich zum Aufenthalt in einem Krankenhaus. Was berechtigt mich nun zum Aufenthalt auf dem Schauplatz eines Bürgerkrieges?«
Eumenides grinste verschmitzt und sagte: »Eine Gewehr.«
»Das stimmt leider«, sagte Causton bedauernd. »Aber da dürften draußen genug herumliegen. Vielleicht finde ich irgendwo ein Gewehr und vielleicht ein Uniformstück dazu, damit es überzeugend wirkt. Wo ist übrigens Ihr kleines Schießeisen, Eumenides?«
»In der Bar. Wo ich ihm weggelegt 'abe.«
»Gut. Also, ich gehe dann«, sagte Causton. Es gab eine schwere Explosion in der Nähe, und die Fenster klapperten in den Rahmen. »Es wird heißer. Schade, daß das Haus keinen Keller hat, Eumenides, ich glaube, Sie sollten alle lieber nach unten gehen – unter der Treppe ist wohl der beste Platz. Und wenn die Warmington hysterisch wird, knallen Sie ihr eine.«
Eumenides nickte.
Causton blieb an der Tür stehen. »Ich glaube nicht, daß ich lange wegbleiben werde, aber wenn ich um elf noch nicht zurück bin, komme ich überhaupt nicht zurück, und Sie müssen dann lieber losfahren. Wenn die Stadtbevölkerung herauskommt, könnte es auf der Straße schwierig werden, also warten Sie dann nicht auf mich!«
Er ging, ohne auf eine Antwort zu warten, und rannte die Treppe hinunter in die Bar. Da standen Sodawasserflaschen auf der Theke, aber von der Pistole war nichts zu sehen. Er suchte eine Weile und gab dann auf. Er konnte nicht verstehen, wo sie geblieben war, aber er hatte keine Zeit zu vergeuden, deshalb durchquerte er die Halle und schritt auf die Straße hinaus.
***
Mrs. Warmington war noch schläfrig, worüber Julie froh war. Sie öffnete ein Auge und fragte: »Wie spä' is' es?«
»Es ist noch ganz früh«, sagte Julie. »Aber wir müssen nach unten gehen.«
»Ich möchte schlafen«, sagte Mrs. Warmington undeutlich. »Lassen Sie das Mädchen in einer Stunde meinen Tee bringen!«
»Aber wir müssen jetzt gehen«, sagte Julie fest. »Wir fahren bald weg.« Sie begann die Dinge zusammenzuraffen, die sie brauchte.
»Was soll all der Lärm?« klagte Mrs. Warmington. »Ich muß sagen, das ist das unruhigste Hotel, in dem ich je geschlafen habe.« Diese Erklärung schien sie erschöpft zu haben. Sie schloß die Augen, und ein leichtes Pfeifgeräusch ging von dem Bett aus – zu damenhaft, um es ein Schnarchen zu nennen.
»Kommen Sie, Mrs. Warmington!« Julie rüttelte an ihrer Schulter.
Mrs. Warmington richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. »Oh, mein Kopf! Haben wir eine Party gefeiert?« Langsam kam ihr der Verstand wieder, und ihr Kopf flog hoch, als sie den Geschützlärm als das erkannte, was es war. »Oh, mein Gott!« jammerte sie. »Was ist los?«
»Die Rebellen haben begonnen, die Stadt zu beschießen«, sagte Julie.
Mrs. Warmington sprang aus dem Bett, jede Spur von Schlaf war weg. »Wir müssen weg«, sagte sie schnell. »Wir müssen sofort weg.«
»Wir haben noch keinen Wagen«, sagte Julie. »Mr. Rawsthorne ist noch nicht hier.« Als sie sich umdrehte, sah sie, wie Mrs. Warmington ihre überquellende Figur in einen engen Hüftgürtel zwängte. »Guter Gott!« sagte sie. »Ziehen Sie das nicht an – wir werden vielleicht schnell laufen müssen! Haben Sie keine lange Hose?«
»Ich halte nicht viel davon, daß Frauen von … von meinem Typ Hosen tragen.«
Julie musterte sie und verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. »Vielleicht haben Sie da ganz recht«, stimmte sie zu. »Aber ziehen Sie etwas Vernünftiges an; ziehen Sie ein Kostüm an, wenn es keinen zu engen Rock hat!«
Sie zog die Decken von den Betten ab und faltete sie zu einem Bündel. Mrs. Warmington sagte: »Ich wußte es ja, wir hätten gestern abend zum Stützpunkt fahren sollen.« Sie zwängte ihre Füße in enge Schuhe.
»Sie wissen gut genug, daß es nicht möglich war«, sagte Julie kurz.
»Ich weiß nicht, was sich Commodore Brooks dabei denkt, uns hier in den Händen dieser Wilden zu lassen. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen!« Sie öffnete die Tür und ging hinaus. Sie überließ es Julie, das große Bündel Decken zu tragen.
Eumenides war auf dem Treppenabsatz. Er sah die Decken und sagte: »Sehr gute Idee«, und nahm ihr das Bündel ab.
Von unten kam ein schwaches Geräusch, so, als hätte jemand einen Stuhl umgestoßen. Sie standen alle für einen Moment da und horchten, dann stieß Mrs. Warmington dem Griechen einen Finger in die Rippen. »Stehen Sie nicht so herum!« zischte sie. »Sehen Sie nach, wer es ist!« Eumenides legte die Decken ab und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Mrs. Warmington drückte ihre Tasche an die Brust, drehte dann unvermittelt um und ging in das Schlafzimmer zurück. Julie hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde.
Gleich darauf tauchte Eumenides wieder auf und winkte. »Es ist Rawsthorne.«
Julie holte Mrs. Warmington wieder aus dem Zimmer heraus, und sie gingen zusammen hinunter, wo sie Rawsthorne sehr aufgeregt antrafen. »Sie haben angefangen, die Stadt zu beschießen«, sagte er. »Die Regierungstruppen haben neue Stellungen bezogen. Es wäre besser, wenn wir uns schnell absetzten, solange die Straßen noch nicht ganz verstopft sind.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Mrs. Warmington. Rawsthorne sah sich um. »Wo ist Causton?«
»Er ist losgegangen, um den besten Fluchtweg zu erkunden«, sagte Julie. »Er sagte, es würde nicht lange sein. Wie spät ist es jetzt?«
Rawsthorne sah auf seiner Taschenuhr nach. »Ein Viertel vor neun – tut mir leid, daß ich so spät komme. Hat er gesagt, wann er zurück sein würde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er meinte, er würde nicht lange weg sein, aber er sagte, wenn er um elf noch nicht da wäre, würde er überhaupt nicht mehr kommen.«
Es gab eine schwere Explosion ziemlich in der Nähe, und es fielen Schalen vom Deckenputz herab. Mrs. Warmington flog hoch. »Führen Sie uns zu Ihrem Wagen, Mr. Rawsthorne! Wir müssen sofort weg.«
Rawsthorne kümmerte sich nicht um sie. »Etwas über zwei Stunden höchstens«, sagte er. »Aber er dürfte wohl viel früher zurück sein. Inzwischen …« Er sah bedeutungsvoll zur Decke hinauf.
»Causton sagte, der beste Platz für uns sei unter der Treppe«, sagte Julie.
»Wollen Sie sagen, wir bleiben hier?« wollte Mrs. Warmington wissen. »Bei alldem? Wir werden alle umkommen.«
»Wir können Mr. Causton nicht zurücklassen«, sagte Julie.
»Ich mache schon«, sagte Eumenides. »Kommen Sie!«
Der Raum unter der Haustreppe war als eine Besenkammer benutzt worden. Die Tür war verschlossen gewesen, aber Eumenides hatte sie mit einer dort hängenden Feuerlöschaxt aufgebrochen, hatte alle Eimer und Besen herausgeworfen und ihre Vorräte hineingepackt. Mrs. Warmington beschwerte sich bitter, daß sie auf dem Fußboden sitzen sollte, wurde aber sehr still, als Julie spitz bemerkte: »Sie können gern jederzeit hinausgehen.« Es war eng, aber es war so viel Platz da, daß die vier sitzen konnten, und wenn die Tür einen Spalt offenblieb, konnte Rawsthorne den Haupteingang im Auge behalten, damit er Causton sehen konnte, wenn er zurückkam.
Er sagte besorgt: »Causton hätte nicht hinausgehen sollen – ich habe St. Pierre nie so gesehen, die Stadt beginnt überzukochen.«
»Er wird sich schon durchschlagen«, sagte Julie. »Er hat Erfahrung in solchen Dingen – das ist sein Beruf.«
»Gott sei Dank ist es nicht meiner«, sagte Rawsthorne mit Nachdruck. »Die Regierungstruppen müssen im Negrito-Tal böse zusammengeschlagen worden sein. Die Stadt ist voll von Deserteuren, und es gibt viele Verwundete.« Er schüttelte den Kopf. »Favels Angriff muß mit lähmender Plötzlichkeit gekommen sein, sonst hätte so etwas nicht passieren können. Die Streitkräfte der Regierung müssen eine wenigstens dreifache zahlenmäßige Überlegenheit haben.«
»Sie sagten, Serrurier hat neue Stellungen bezogen«, bemerkte Julie. »Das bedeutet, die Kämpfe werden anhalten.«
»Sie könnten noch für eine lange Zeit anhalten«, sagte Rawsthorne nüchtern. »Serrurier hat Einheiten, die gestern noch nicht eingesetzt waren – Favel ließ ihm keine Zeit dafür. Aber diese frischen Einheiten graben sich nördlich der Stadt ein, und das bedeutet eine weitere Schlacht.« Er schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Ich fürchte, Favel hat seine eigene Stärke überschätzt.«
Er schwieg, und sie lauschten alle dem Kampflärm. Da war das unaufhörliche Bellen der Geschütze an den Rändern der Stadt, oft übertönt von den näheren und lauteren Explosionen der einschlagenden Granaten. Die Luft im Hotel zitterte und füllte sich allmählich mit feinem Staub, so daß das schräg in die Halle einfallende Sonnenlicht wie Scheinwerferstrahlen aussah.
Julie begann in den Kästen zu suchen, die Eumenides hinten verstaut hatte. »Haben Sie Frühstück gehabt, Mr. Rawsthorne?«
»Ich hatte keine Zeit dafür, meine Liebe.«
»Wir können ebensogut jetzt essen«, sagte Julie praktisch. »Ich denke, ich kann Brot schneiden, wenn wir uns etwas umgruppieren. Wir können es ebensogut essen, bevor es ganz trocken wird.«
Sie frühstückten Brot und Dosenfleisch und spülten es mit Sodawasser hinunter. Als sie fertig waren, fragte Rawsthorne: »Wie spät ist es? Ich kann nicht an meine Uhr kommen.«
»Viertel nach zehn«, sagte Julie.
»Wir können noch drei viertel Stunden auf Causton warten«, sagte Rawsthorne. »Aber dann müssen wir abfahren – es tut mir leid, aber da ist nichts dran zu machen.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Julie leise. »Er hat gesagt, wir sollten um elf losfahren.«
Gelegentlich hörten sie in der Ferne Schreie und erregte Rufe und manchmal Stiefelgetrampel. Eumenides sagte plötzlich: »Ihr Wagen … auf der Straße?«
»Nein«, sagte Rawsthorne. »Ich habe ihn hinter dem Hotel abgestellt.« Er machte eine Pause. »Wyatts Wagen sieht schlimm aus; alle Fensterscheiben sind zertrümmert, und jemand hat die Räder mitgenommen; wegen der Reifen, nehme ich an.«
Sie verfielen wieder in Schweigen. Mrs. Warmington hielt ihre Tasche fest und führte ab und zu Selbstgespräche, die Julie ignorierte. Sie horchte nach den explodierenden Granaten und überlegte, was geschehen würde, wenn das Hotel einen Volltreffer bekäme. Sie hatte keine Vorstellung davon, welche Zerstörungen eine Granate anrichten konnte, außer dem, was sie aus Film und Fernsehen kannte, und sie hatte das Gefühl, die Filmversion würde nun eine blasse Imitation der Wirklichkeit sein. Ihr Mund wurde trocken, und sie wußte, daß sie große Angst hatte.
Die Minuten vergingen sehr langsam. Mrs. Warmington kreischte, als eine Granate ganz in der Nähe explodierte – näher als alle bisherigen – und das Fenster in der Halle eingedrückt wurde. Sie wollte aufstehen, aber Julie zog sie zurück. »Bleiben Sie, wo Sie sind!« rief sie. »Es ist sicherer hier.«
Mrs. Warmington sackte auf ihren Platz zurück, und irgendwie war Julie danach wohler. Sie sah Eumenides an, dessen Gesicht in dem trüben Licht blaß aussah, und überlegte, was er wohl dachte. Es war nicht leicht für ihn, denn mit seinem Englisch konnte er sich nur unvollkommen verständlich machen. Als sie hinsah, hielt er das Handgelenk vor die Augen. »Viertel auf elf«, verkündete er, »ich glaube, wir lieber packen Wagen.«
Rawsthorne rührte sich. »Ja, das ist kein schlechter Gedanke«, pflichtet er ihm bei. Er begann die Tür aufzustoßen. »Augenblick – da kommt Causton.«
Julie seufzte erleichtert. »Gott sei Dank.«
Rawsthorne drückte die Tür weiter auf und hielt dann plötzlich inne. »Nein, er ist's nicht«, flüsterte er. »Es ist ein Soldat- und ein anderer kommt hinter ihm.« Sachte zog er die Tür wieder zu und ließ nur einen Spalt offen, durch den er mit einem Auge beobachtete.
Der Soldat hatte ein Gewehr über die Schulter gehängt, aber der Mann hinter ihm, auch ein Soldat, trug keine Waffe. Sie kamen in die Halle, stießen mit den Füßen die Rohrstühle aus dem Weg und betrachteten für eine Weile den verstaubten Luxus um sich herum. Einer von ihnen sagte etwas und zeigte. Der andere lachte, und beide verschwanden aus dem Blickfeld.
»Sie sind in die Bar gegangen«, flüsterte Rawsthorne.
Schwach hörte er das Klirren von Flaschen und lautes Gelächter. Dann war Ruhe. Er sagte leise: »Wir können nicht hinaus, solange sie hier sind. Wir müssen warten.«
Es war eine lange Wartezeit, und Rawsthorne bekam einen Krampf im Bein. Er konnte überhaupt nichts hören und begann zu überlegen, ob die Soldaten vielleicht durch den Hinterausgang verschwunden waren. Schließlich fragte er flüsternd: »Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach elf.«
»Dies ist doch Unsinn«, sagte Mrs. Warmington laut. »Ich kann keinen Laut hören. Sie müssen gegangen sein.«
»Seien Sie still!« sagte Rawsthorne. Seine Stimme klang ein wenig scharf. Er wartete noch eine lange Zeit und sagte dann leise: »Vielleicht sind sie wirklich weg. Ich will einmal nachsehen.«
»Passen Sie aber auf!« flüsterte Julie.
Er wollte gerade wieder die Tür aufmachen, als er in seiner Bewegung innehielt und fluchte. Einer der Soldaten kam aus der Bar und torkelte aus einer Flasche trinkend durch die Halle. Er ging zur Tür und starrte eine Weile durch die zerbrochenen Scheiben der Drehtür auf die Straße hinaus. Dann rief er plötzlich jemandem draußen etwas zu und schwenkte die Flasche.
Zwei weitere Männer kamen von draußen herein, und es gab eine kleine Konferenz; der erste Soldat zeigte mit einer einladenden, großspurigen Armbewegung nach der Bar, so, als wollte er sagen: Ihr seid meine Gäste. Einer von den zweien rief anderen draußen etwas zu, und im Nu trampelten ein Dutzend Soldaten durch die Halle, in Richtung auf die Bar. Harte Männerstimmen palaverten wild durcheinander.
»Verdammt!« sagte Rawsthorne. »Sie fangen ein Saufgelage an.«
»Was können wir dabei tun?« fragte Julie.
»Nichts«, sagte Rawsthorne schlicht. Nach einer Pause sagte er: »Ich glaube, das sind Deserteure. Ich möchte nicht, daß sie uns sehen, besonders …« Er vollendete den Satz nicht.
»Besonders die Frauen«, sagte Julie ohne Umschweife und merkte, wie Mrs. Warmington zu zittern begann.
Sie lagen still und horchten nach dem Lärm aus der Bar, dem rauhen Rufen, dem Zerbrechen von Glas und dem lauten Gesang. »Gesetz und Ordnung in der Stadt scheinen sich aufzulösen«, sagte Rawsthorne schließlich.
»Ich will hier raus«, sagte Mrs. Warmington plötzlich laut.
»Haltet diese Frau still!« zischte Rawsthorne.
»Ich bleibe nicht hier«, sagte sie weinerlich und versuchte aufzustehen.
»Hierbleiben!« flüsterte Julie wütend und zog sie zurück.
»Sie können mich nicht festhalten«, kreischte Mrs. Warmington.
Julie wußte nicht, was Eumenides getan hatte, aber plötzlich sackte Mrs. Warmington über ihr zusammen, eine warme, leblose Last, schlaff und schwer. Sie bäumte sich kraftvoll auf und wälzte die Frau von sich ab. »Danke, Eumenides«, flüsterte sie.
»Um Gottes willen!« hauchte Rawsthorne und spitzte die Ohren, um zu hören, ob sich die Geräusche aus der Bar plötzlich und bedrohlich verändern würden. Nichts geschah; der Lärm schwoll noch an – die Männer wurden betrunken. Nach einer Weile fragte Rawsthorne leise: »Was ist mit dieser Frau los? Ist sie verrückt?«
»Nein«, sagte Julie. »Nur maßlos verwöhnt. Sie hat ihr Leben lang immer ihren Willen bekommen, und sie kann sich eine Situation, in der man ihr ihren Willen nicht lassen darf, weil es tödlich für sie sein könnte, einfach nicht vorstellen. Sie kann sich nicht anpassen.« Ihre Stimme klang nachdenklich. »Im Grunde tut sie mir nur leid.«
»Ob sie uns leid tut oder nicht, wir müssen sie stillhalten«, sagte Rawsthorne. Er spähte durch den Spalt. »Gott mag wissen, wie lange diese Burschen hierbleiben – sie werden immer betrunkener.«
Sie lagen dort und horchten nach dem Getöse, das manchmal vom Schlachtenlärm übertönt wurde. Julie sah immer wieder auf ihre Uhr und überlegte, wie lange das wohl noch dauern sollte. Alle fünf Minuten sagte sie sich, sie werden in fünf Minuten gehen – aber sie taten es nicht. Da hörte sie einen erstickten Laut von Rawsthorne. »Was ist?« flüsterte sie.
Er wandte sich um. »Es kommen noch mehr herein.« Er wandte sich wieder dem Spalt zu, um zu beobachten. Es waren diesmal sieben, sechs Soldaten und einer, der wie ein Offizier aussah, und sie wirkten diszipliniert, wie sie in die Halle kamen und sich umsahen. Der Offizier starrte zur Bar hinüber und rief etwas, aber seine Stimme ging in dem Lärm unter, daher zog er seinen Revolver und feuerte einen Schuß in die Luft. Es entstand eine plötzliche Stille im Hotel.
Mrs. Warmington rührte sich, und ein Stöhnen kam über ihre Lippen. Julie drückte der Frau schnell die Hand auf den Mund. Sie hörte einen verzweifelten Seufzer von Rawsthorne und sah eine Kopfbewegung, als hätte er sich schnell umgesehen.
Der Offizier rief in barschem Ton etwas, und die Deserteure kamen einer nach dem anderen in die Halle und standen dort, untereinander murmelnd und den Offizier anmaßend und trotzig anblickend. Als letzter tauchte der Soldat mit dem Gewehr auf – er war schwer betrunken.
Der Offizier schalt sie mit schneidender, wutverzerrter Stimme. Dann machte er eine ruckartige Bewegung und gab ein kurzes Kommando, das bedeutete, daß sie antreten sollten. Der betrunkene Soldat rief etwas, nahm sein Gewehr von der Schulter und lud dabei durch. Der Offizier rief dem Soldaten hinter sich einen kurzen Befehl zu. Der hob seine Maschinenpistole und drückte ab. Die stotternden Hammerschläge der Maschinenpistole erfüllten die Halle, und eine Geschoßgarbe traf den Gewehrträger in die Brust und warf ihn rückwärts über einen Tisch, der krachend zusammenbrach.
Eine vierte Kugel schlug neben Rawsthorne in die Tür. Er zuckte zusammen, ließ aber den Blick nicht von der Halle und sah den Offizier müde mit dem Arm winken. Gehorsam traten die Deserteure an und marschierten aus dem Hotel, eskortiert von den bewaffneten Soldaten. Der Offizier steckte seinen Revolver in die Tasche zurück und blickte auf den getöteten Mann herab. Verächtlich stieß er mit dem Fuß gegen die Leiche, drehte sich dann auf dem Absatz um und ging hinaus.
Rawsthorne wartete volle fünf Minuten, bevor er vorsichtig sagte: »Ich glaube, jetzt können wir gehen.«
Als er die Tür aufstieß und Licht in die Besenkammer flutete, ließ Julie Mrs. Warmington los, die nach der Seite auf Eumenides herabsackte. Rawsthorne torkelte hinaus, und Julie folgte ihm. Dann drehten sie sich um und zerrten die ältere Frau heraus. »Wie geht es ihr?« fragte Julie. »Ich dachte, sie würde mir ersticken, aber ich mußte sie ruhighalten.«
Rawsthorne beugte sich über sie. »Sie kommt schon wieder zu sich.«
Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie im Wagen saßen und abfahrbereit waren. Mrs. Warmington war bei Bewußtsein, aber benommen. Sie nahm kaum wahr, was vorging. Eumenides sah bleich und erschüttert aus. Als er sich in dem Sitz zurechtrückte, entdeckte er einen langen Riß in seiner Jacke, eben unter dem linken Ärmel, und erkannte mit verspätetem Schreck, daß er von der verirrten Kugel, die Rawsthorne erschreckt hatte, beinahe ins Herz getroffen worden wäre.
Rawsthorne prüfte die Instrumente. »Der Tank ist voll«, sagte er, »und ich habe zwei Reservekanister hinten drin. Das müßte reichen.«
Er fuhr an, und der Wagen rollte durch die enge Gasse von der Rückseite des Hotels auf die Hauptstraße. Der Union Jack auf dem Kotflügel flatterte ein wenig in dem Fahrtwind.
Es war Viertel vor zwei.
***
Als Causton auf die Straße hinausgetreten war, hatte er sich von allen Seiten beobachtet gefühlt, aber nach einer Weile wurde er sicherer, als er erkannte, daß die Menschen um ihn herum voll und ganz mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt waren. Als er die bevölkerte Straße entlang zur Place de la Libération Noire blickte, sah er eine schwarze Rauchfahne von einem Brand aufsteigen, und gerade als er hinsah, krepierte eine Granate dort, wo etwa die Mitte des Platzes gewesen sein mußte.
Er drehte sich um und eilte in die andere Richtung, mit dem allgemeinen Strom. Es herrschte ein Höllenlärm – der Geschützdonner, das Heulen der durch die Luft fliegenden Granaten und das ohrenzerreißende Krachen, wenn sie krepierten, war schlimm genug, aber das Lärmen der hastenden Menge war noch schlimmer. Jeder schien das Bedürfnis zu haben, laut zu schreien, und die Tatsache, daß sie in einer für ihn unverständlichen Sprache schrien, machte die Sache nicht besser.
Einmal packte ihn ein Mann am Arm und schrie ihm eine Menge Unverständliches ins Gesicht. Causton sagte: »Tut mir leid, mein Sohn, ich verstehe kein Wort«, und schüttelte den Arm ab. Erst als er sich abwandte, wurde ihm klar, daß er auch selbst aus vollem Halse geschrien hatte.
Die Menge bestand hauptsächlich aus Zivilisten, aber es waren viele Soldaten darunter, manche bewaffnet, manche nicht. Die Mehrzahl der Soldaten schien unverwundet und kampftauglich zu sein, abgesehen von ihrer Müdigkeit und der Angst in ihren Augen. Causton vermutete, daß es sich um Männer handelte, die zum erstenmal in ihrem Leben ein Artilleriefeuer erlebt und es seelisch nicht durchgestanden hatten. Aber er sah auch Verwundete, die im Dahintrotten gebrochene Arme festhielten, mit verwundeten Beinen humpelten und, ein schrecklicher Anblick, einen Soldaten, der mit den Händen vor dem Bauch dahinwankte, wobei ihm die rote Flüssigkeit von seinen Eingeweiden zwischen den schmierigen Fingern herausrann.
Die Zivilisten wirkten noch demoralisierter als die Soldaten. Sie rannten hin und her, anscheinend ohne Sinn und Zweck. Ein Mann, den Causton bemerkte, wechselte seine Richtung sechsmal in ebensoviel Minuten und rannte immer wieder an Causton vorbei, bevor er in der Menge verschwand. Er traf ein junges Mädchen in einem roten Kleid, das in der Mitte der Straße stand, sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt und unablässig schrie. Er hörte ihre Schreie noch lange, während er sich durch all dieses Elend vorwärts kämpfte.
Er beschloß schließlich, in eine Seitenstraße zu gehen, um aus dem Gedränge herauszukommen, und deshalb drängte er sich an die Seite und bog an der nächsten Ecke ab. Hier war das Gedränge nicht so groß, und er kam schneller voran, etwas, das er sich im Geist vormerkte für ihre geplante Fahrt mit dem Auto. Bald kam er zu einem jungen Soldaten, der auf einer Apfelsinenkiste saß. Das Gewehr hatte er an die Seite gelehnt, und ein Ärmel seiner Bluse flatterte lose. Causton blieb stehen und fragte: »Haben Sie einen Arm gebrochen?«
Der junge Mann sah ihn verständnislos an. Sein Gesicht war grau vor Erschöpfung. Causton tippte an seinen eigenen Arm. »Le bras«, sagte er und machte dann eine schnelle Bewegung, wie wenn er einen Stock über seinem Knie zerbrechen wollte. »Gebrochen?«
Der Soldat nickte stumpfsinnig.
»Ich werde ihn schienen«, sagte Causton, beugte sich hinab und half dem Soldaten, seine Uniformbluse auszuziehen. Er trat die Apfelsinenkiste entzwei, um Leisten zum Schienen zu erhalten, und band den Arm dann daran fest. »Es wird jetzt bessergehen«, sagte er und ging. Aber er ging mit der Bluse und dem Gewehr des Mannes – jetzt hatte er seine Staffage.
Die Bluse war ihm zu eng, deshalb trug er sie offen; die Hose paßte nicht dazu, und er hatte keine Mütze, aber er glaubte nicht, daß das was ausmachte – es kam nur darauf an, daß er so ungefähr wie ein Soldat aussah und daher einen ›Besitzanteil‹ am Krieg hatte. Er hob das Gewehr, öffnete das Schloß und fand das Magazin leer. Er lächelte nachdenklich. Auch das machte nichts; er hatte noch nie in seinem Leben einen Menschen erschossen und hatte auch nicht die Absicht, jetzt damit zu beginnen.
Auf Umwegen, die er sorgfältig in seiner Karte markierte, gelangte er nach einiger Zeit an den Ostausgang der Stadt an der Küstenstraße. Er stellte erleichtert fest, daß das Gedränge hier nicht so groß war und daß die Leute etwas ruhiger wirkten. Auf der Straße bewegte sich ein dünner Strom von Menschen aus der Stadt hinaus, ein Strom, der sich später zu einer Sturzflut verstärken würde. Je eher er Rawsthorne mit dem Wagen auf den Weg bringen könnte, desto besser würde es für alle Beteiligten sein, also kehrte er um. Ein Blick auf seine Uhr sagte ihm, daß es später war, als er gedacht hatte.
Jetzt bewegte er sich gegen den Strom, und es war schwieriger voranzukommen und würde in der Nähe des aufgescheuchten Stadtzentrums sogar noch schwieriger werden. Weit voraus sah er den Qualm, der sich am Himmel über dem Stadtkern ausbreitete – die Stadt begann zu brennen. Sie würde nicht lange brennen, dachte er. Nicht wenn Wyatt recht hatte.
Er schob sich weiter in das Chaos von St. Pierre hinein, stieß gegen Leiber, die sich gegen ihn stemmten, und benutzte rücksichtslos den Gewehrkolben, um sich den Weg frei zu machen. Einmal traf er einen Soldaten, der sich den Weg freikämpfte, und sie standen einander gegenüber. Causton drehte das Gewehr um, betätigte das Schloß, daß es scharf klickte, und dachte, was tue ich bloß, wenn er diesen Wink nicht versteht? Der Soldat sah nervös auf die Gewehrmündung, die auf seinen Bauch zeigte, machte einen halbherzigen Versuch, sein eigenes Gewehr zu heben, überlegte es sich dann aber anders, zog sich zurück und tauchte in der Menge unter. Causton grinste und setzte seinen Weg fort.
Er war schon nicht mehr weit vom Imperiale, als das Gedränge so groß wurde, daß er nicht mehr vorankam. Jesus! dachte er; wir stehen hier auf dem Präsentierteller. Er versuchte zurückzugehen, aber das stellte sich als ebenso schwierig heraus – irgendwas schien die Menge aufzuhalten, etwas Unbewegliches.
Er entdeckte, was es war, als er sich weit genug nach rückwärts durchgekämpft hatte, bis fast an die Ecke der Straße. Eine Militäreinheit war aus einer Seitenstraße gekommen und hatte eine Absperrkette über die Hauptstraße gebildet. Die Menge wurde mit der Waffe im Anschlag gestoppt. Männer wurden herausgeholt und auf einem freien Platz aufgereiht, und Causton versuchte nach einem schnellen Blick wieder unterzutauchen. Aber es war zu spät. Ein Arm packte ihn, zog ihn aus der Menge heraus und stieß ihn zu den anderen hinüber. Serrurier war damit beschäftigt, seine sich auflösende Armee wieder zusammenzusuchen.
Er betrachtete die Männer, unter die er geraten war. Sie waren alle Soldaten und alle unverwundet, und sie standen mit gesenkten Blicken da. Causton ließ seine Schultern nach vorn fallen, senkte den Kopf und mischte sich unauffällig unter sie, wobei er versuchte, soweit wie möglich nach hinten zu kommen. Nach einer Weile kam ein Offizier und hielt eine Ansprache. Causton verstand kein Wort, aber er erfaßte die allgemeine Bedeutung. Sie waren Deserteure, Feiglinge vor dem Feind, die eigentlich erschossen werden müßten, im Morgengrauen, oder lieber noch früher. Sie hatten nur eine Möglichkeit, am Leben zu bleiben, nämlich zurück an die Front zu gehen und sich Favels Kanonen zu stellen, zum Ruhm von San Fernandez und Präsident Serrurier.
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schritt der Offizier an der ersten Reihe entlang und wählte willkürlich sechs Mann aus. Sie wurden an die gegenüberliegende Hauswand geführt – arme, verwirrte, verständnislose Schafe –, und plötzlich schoß ein Maschinengewehr, und die kleine Gruppe wankte und purzelte in dem Kugelhagel durcheinander. Der Offizier ging ruhig hinüber und schoß einem armen Teufel, der noch schrie, eine Kugel in den Kopf. Dann drehte er sich um und gab ein scharfes Kommando.
Wie elektrisiert kamen die Deserteure in Bewegung. Unter dem lauten Gebell von Unteroffizieren bildeten sie eine unordentliche Kolonne und marschierten durch die Seitenstraße davon, Causton mit ihnen. Er sah im Vorbeimarschieren zu dem Erschießungskommando auf dem Lastwagen hinüber und dann zu den sechs toten Männern. Pour encourager les autres, dachte er.
Causton war in Serruriers Armee eingezogen worden.
***
Dawson wunderte sich über sich selbst.
Sein ganzes Leben hatte er als ein zivilisiertes Mitglied der nordamerikanischen Volksgemeinschaft gelebt und daher nie Gelegenheit gehabt, sich klarzuwerden, wie er sich verhalten würde, wenn er einmal in echte Schwierigkeiten geraten sollte. Wie die meisten modernen zivilisierten Menschen hatte er Schwierigkeiten dieser Art noch nie erlebt; er wurde verhätschelt und beschützt von der Gemeinschaft und zahlte seine Steuern, wie es sich gehörte, auf daß dieser Schutz bestehen bliebe und immer jemand zwischen ihm und primitiven Realitäten wie Tod durch eine Kugel oder Folter stünde.
Obzwar sein Image das eines sorglosen, kernamerikanischen Supermanns war und er schon in Gefahr kam, die Zeitungsausschnitte über sich selbst zu glauben, war ihm in den hintersten Winkeln seiner Seele irgendwie bewußt, daß dieses Image ein Betrug war, und er dachte von Zeit zu Zeit vage darüber nach, was für ein Mann er wohl wirklich war. Er hatte solche Gedanken zurückgedrängt, sobald er sie bewußt formulierte, weil er das ungute Gefühl hatte, daß er möglicherweise wirklich ein Schwächling sein könnte und dieser Gedanke beunruhigte ihn zutiefst. Das öffentliche Image, das er sich geschaffen hatte, war der Mann, der er zu sein wünschte, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er vielleicht nicht dergleichen war. Und er hatte keine Möglichkeit, das eine oder das andere zu beweisen – er war nie auf die Probe gestellt worden.
Wyatts kaum verhohlene Verachtung hatte einen Stachel hinterlassen, und er verspürte so etwas wie Scham wegen des Versuchs, den Wagen zu stehlen – das war doch nicht die Handlungsweise eines Mannes. So kam es, daß, als seine Prüfung kam, etwas tief in seinem Innern ihn dazu brachte, seine Schultern zurückzuwerfen und Sous-Inspecteur Roseau zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren, und das recht flott.
Nun, da er im Bett lag und rings um ihn die Hölle einzustürzen schien, wunderte er sich also über sich selbst. Er hatte solche körperlichen Schmerzen ertragen, wie er nie für möglich gehalten hätte, und er war stolz, daß er als letztes vor dem Verlust des Bewußtseins in Roseaus Büro das unerbittliche Gesicht vor ihm angesehen und gestammelt hatte: »Ich sage es immer noch – scheren Sie sich zum Teufel, Sie Schwein!«
Als er aus der Bewußtlosigkeit erwachte, lag er in einem sauberen Bett, und seine Hände waren verbunden und seine Wunden versorgt. Warum das so war, wußte er nicht. Auch wußte er nicht, warum er seinen Körper nicht aufrichten konnte. Er versuchte es einige Male, gab dann die Anstrengungen auf und wandte seine Aufmerksamkeit seinem neuen, wunderbaren Ich zu. In einer kurzen Stunde hatte er entdeckt, daß er nie mehr ein öffentliches Image brauchen würde, daß er nie mehr vor Selbstanalysen zurückschrecken würde.
»Ich werde mich nie mehr fürchten«, sprach er leise mit geschwollenen Lippen. »Bei Gott, ich habe es ertragen – Aber er fürchtete sich doch, als das Artilleriefeuer einsetzte. Er konnte die primitive Reaktion seines Körpers nicht steuern; seine Drüsen arbeiteten normal, und die Angst kroch ihn an, als der Stahlhagel auf die Place de la Libération Noire herniederfiel. Er kroch auf dem Bett zusammen, sah hilflos zur Decke hinauf und fürchtete, die nächste Granate könnte einschlagen, um ihm seine neuentdeckte Männlichkeit wieder zu nehmen.
***
Nicht weit davon saß Wyatt in der Ecke seiner Zelle und hielt sich beide Ohren zu, weil der unbeschreibliche Krach unerträglich war. Sein Gesicht war zerschnitten, wo ihn Glassplitter getroffen hatten, aber glücklicherweise waren die Augen unverletzt geblieben. Er hatte eine Zeitlang damit zugebracht, vorsichtig kleine Glassplitter aus seiner Haut zu entfernen – ein sehr schmerzhafter Prozeß –, und die dafür erforderliche Konzentration hatte alles andere aus seinen Gedanken verdrängt. Aber jetzt war ihm klar bewußt, was vor sich ging.
Sämtliche Geschütze, die Favel besaß, schienen auf die Place de la Libération Noire zu schießen. Unaufhörlich folgte Explosion auf Explosion, und ein scharfer Gestank wehte durch das kleine Zellenfenster. Der Poste de Police war noch nicht getroffen worden, wenigstens glaubte Wyatt das. Und er war sicher, er würde das merken. Während er mit angezogenen Beinen und dem Gesicht zwischen den Knien in der Ecke hockte, schmiedete er Pläne für den Fall, daß das Polizeigebäude getroffen würde – wenn er dann noch leben sollte.
Plötzlich gab es einen allmächtigen Krach, der die Luft in der Zelle erzittern ließ. Wyatt fühlte sich wie eine Maus, die in eine große Trommel gekrochen war – er war für eine Weile völlig taub und hörte den Tumult draußen wie durch hundert Tücher. Er rappelte sich auf, schüttelte benommen den Kopf und lehnte sich gegen die Wand. Nach einer Weile fühlte er sich wieder besser und sah sich genauer in dem kleinen Gefängnis um. Das Polizeigebäude war getroffen worden – das war gewiß –, und sicher mußte doch irgend etwas nachgegeben haben.
Er betrachtete die gegenüberliegende Wand. War diese Ausbuchtung vorher schon dagewesen? Gewiß nicht. Er ging näher heran und bemerkte einen langen zickzackförmigen Riß über die Wand. Er streckte die Hand aus und schob vorsichtig, dann drückte er kräftiger mit der Schulter. Nichts bewegte sich.
Er trat zurück und sah sich in der Zelle nach etwas um, womit er die Wand angehen konnte. Sein Blick fiel auf den Hocker, aber das war nichts – er war aus Holz und leicht gebaut, eine brauchbare Waffe gegen einen Mann, aber nicht gegen eine Wand. Da blieb nur noch das Bett. Es war aus Eisen und zerlegbar; der Rahmen war am Kopf- und am Fußende in Ösen eingehakt. Das Betthaupt aus Eisenrohr war verschraubt, aber die Bolzen waren verrostet, und es war nicht leicht, sie zu entfernen. Aber nach einer halben Stunde Arbeit hatte er einen netten Satz Werkzeuge: Zwei primitive Brechstangen, mehrere Kratzer, die er aus Spiralfedern gemacht hatte, und einen unbenennbaren Gegenstand, für den er zweifellos irgendeine Verwendung finden würde.
Er kniete sich vor die Wand und begann mit einem der Kratzer losen Mörtel aus dem Riß herauszukratzen. Der jahrhundertealte Mörtel war hart und widerstandsfähig, aber die Explosion hatte der Wand nicht gutgetan, und nach und nach kratzte er ein kleines Loch aus, das groß genug war, das Ende seiner Brechstange aufzunehmen. Dann drückte er, bis seine Muskeln knackten, und wurde durch eine ganz kleine Bewegung des attackierten Steines belohnt.
Er trat zurück, um das Problem zu untersuchen, und merkte plötzlich, daß die intensive Beschießung des Platzes aufgehört hatte. Die Granate, die die Wand beschädigt hatte, mußte eine der letzten in diese Richtung abgeschossenen gewesen sein, und alles, was er jetzt hörte, war allgemeiner Schlachtenlärm im Norden der Stadt.
Er schob die Gedanken an den Krieg beiseite und betrachtete nachdenklich seine behelfsmäßige Brechstange. Eine Brechstange ist ein Hebel, oder vielmehr Teil eines Hebels – der andere Teil ist ein Widerlager, und er hatte kein Widerlager. Er nahm das Fußende des Bettes und lehnte es an die Wand; es ließ sich als Widerlager verwenden, aber nicht dort, wo er das Loch gekratzt hatte. Er würde von vorn beginnen und ein neues Loch machen müssen.
Wieder brauchte er eine lange Zeit dafür. Geduldig kratzte er an dem eisenharten Mörtel, hackte und pickte ihn auseinander, und als er fertig war, bluteten seine Knöchel, und seine Fingerkuppen fühlten sich an, als hätte sie jemand mit Sandpapier abgeschliffen. Er begann auch unter Durst zu leiden; er hatte die kleine Wasserkaraffe, die in der Zelle war, leer getrunken, und seit dieser letzten kolossalen Explosion war niemand in die Nähe gekommen – ein gutes Zeichen.
Er setzte die Spitze seiner Brechstange in das neue Loch ein und drückte wieder. Wieder spürte er eine winzige Verschiebung in der Wand. Er nahm den Bettfuß, stellte ihn etwa zwei Handbreiten von der Wand entfernt auf und stieß seine Brechstange in das Loch. Sie ruhte gerade richtig auf der Oberkante des Metallrahmens. Dann holte er tief Luft und schwang sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Brechstange. Etwas mußte nachgeben – die Brechstange, das Bett, die Wand – oder vielleicht Wyatt. Er hoffte, es würde die Wand sein.
Er spürte, wie sich das Metallrohr der Brechstange unter seinem Gewicht bog, aber er hob seine Füße vom Boden und drückte weiter mit seinem ganzen Gewicht. Plötzlich gab es ein knirschendes Geräusch und eine Verschiebung des Druckes. Er landete abrupt auf dem Fußboden. Er drehte sich um und hustete und wedelte mit der Hand, um den Staub zu zerstreuen, der durch die Zelle wirbelte. Helles Sonnenlicht flutete durch das klaffende Loch herein, das er aufgerissen hatte.
Er ruhte sich ein paar Minuten aus und ging dann hin, um sich den Schaden anzusehen. Nach seiner Berechnung konnte er lediglich in eine benachbarte Zelle durchgebrochen sein, und er hatte mit dem Risiko gerechnet, daß die Tür zu dieser Zelle abgeschlossen war. Aber zu seiner Überraschung sah er durch das Loch ein Stück des Platzes, zum Teil von einer ausgezackten Außenwand verdeckt.
Die Granate hatte die nächste Zelle völlig zerstört, und er verdankte es nur den vergessenen tüchtigen Erbauern seines Gefängnisses, daß er nicht bis in den Himmel geblasen worden war.
Er hatte nur zwei der schweren Quadratsteine herausgebrochen, aus denen die Wand gebaut war, und das Loch war eng, aber zum Glück war er schlank und schaffte es durchzukriechen. Er holte sich nur noch einige zusätzliche Schrammen dabei. Es war schwierig, auf der anderen Seite einen Halt für die Füße zu finden, denn der halbe Fußboden war weggerissen worden, und über dem Büro im Erdgeschoß war nur noch Himmel. Ein Mann sah mit erschrockenen braunen Augen von dort unten zu ihm herauf – aber er war tot. Er lag auf dem Rücken, und sein Oberkörper war von einem Block Mauerwerk zerschmettert.
Wyatt balancierte auf dem fußbreiten Sims, der seine ganze Standfläche war, und hielt sich mit den Händen fest, während er Ausschau hielt. Der Platz war verlassen und unbelebt – bis auf die Hunderte von Leichen, die verstreut herumlagen, Leichen in der hellblauen Uniform der Regierungstruppen. Es bewegte sich nichts, außer dem Rauch von etwa einem Dutzend heftig brennender Armeelastwagen, die dort standen, wo einst der Mittelpunkt des Platzes gewesen war – das heroische Standbild Serruriers. Aber die Statue war weg, durch das Stahlgewitter von ihrem Sockel gefegt.
Er sah hinunter. Es würde ganz leicht sein, abzusteigen und als freier Mann davonzugehen. Aber dann sah er hinüber zur Tür der zerstörten Zelle, die nur an einer Angel hing, und obwohl er zögerte, wußte er doch, was er zu tun hatte. Er mußte Dawson suchen.
Er schob sich vorsichtig auf dem schmalen Sims entlang, bis er auf einen breiteren und sichereren Teil bei der Tür gelangte. Von dort aus war es leicht, und in einer halben Minute war er im Korridor des Zellenblocks. Es war merkwürdig; außer der dicken Staubschicht, die auf allem lag, deutete nichts darauf hin, daß das Gebäude getroffen wurde.
Als er durch den Korridor ging, rief er: »Dawson!« und war erstaunt, daß nur ein Krächzen herauskam. Er räusperte sich und rief lauter: »Dawson! Dawson!«
Von den Zellen in der Nähe rief es durcheinander, aber er konnte Dawsons Stimme nicht heraushören. Ärgerlich rief er: »Taisez-vous!«, und die Rufe verstummten, bis auf einen schwachen Schrei vom Ende des Korridors. Er eilte hin und rief wieder: »Dawson! Sind Sie dort?«
»Hier!« sagte eine schwache Stimme, und sie kam aus einem Raum neben Roseaus Büro. Er sah die Tür an – dies war keine Zelle, das würde nicht schwer sein. Er ergriff einen schweren Feuerlöscher und benutzte ihn als Rammbock. Bald gab das Schloß nach, und er brach in den Raum ein.
Dawson lag im Bett, seinen Kopf und seine Hände verbunden. Beide Augen waren blau, und es schienen ihm einige Zähne zu fehlen, Wyatt sah ihn an. »Mein Gott! Was haben sie mit Ihnen gemacht?«
Dawson sah ihn einige Sekunden an, ohne etwas zu sagen, und dann brachte er ein Grinsen zustande. »Haben Sie sich in letzter Zeit einmal selbst angesehen?« fragte er, mühsam mit geschwollenen Lippen sprechend.
»Kommen Sie!« sagte Wyatt. »Wir müssen sehen, daß wir rauskommen.«
»Ich kann nicht«, sagte Dawson mit verhaltener Wut. »Die Schweine haben mich festgeschnallt.«
Wyatt trat näher heran und sah, daß es stimmte. Zwei breite Gurte gingen über Dawsons Körper, und die Schnallen waren so weit unter dem Bett, daß sie nicht zu erreichen waren. Er bückte sich unter das Bett und begann sie zu lösen. »Was geschah, nachdem man Sie zusammengeschlagen hatte?« fragte er.
»Das ist das Komische«, sagte Dawson verwirrt. »Ich wachte hier drin auf und hatte diese Verbände um. Warum in Teufels Namen haben sie das getan?«
»Ich habe Roseau Angst eingejagt«, sagte Wyatt. »Ich bin froh, daß es half.«
»Sie wollten mich noch nicht verlieren, schätze ich«, sagte Dawson. »Deshalb haben sie mich festgeschnallt. Ich habe Höllenangst ausgestanden. Ständig rechnete ich damit, daß eine Granate durch die Decke kommen würde. Zweimal meinte ich, es wäre passiert.«
»Zweimal? Ich meinte, da war nur ein Treffer.«
Dawson stieg aus dem Bett. »Ich glaube, es waren zwei.« Er zeigte auf einen Stuhl. »Helfen Sie mir bitte mit meinen Hosen; ich glaube nicht, daß ich es allein kann – nicht mit diesen Händen. Oh, wie gern würde ich diesen Hundesohn Roseau treffen.«
»Wie geht es mit Ihren Beinen?« fragte Wyatt, während er ihm beim Anziehen half.
»Die sind in Ordnung.«
»Wir haben eine kleine Kletterpartie vor uns; nicht weit, nur auf die Straße hinunter. Ich glaube, Sie schaffen es.«
Sie gingen in den Korridor hinaus. »Da ist eine Zelle etwas weiter hinten, die ist gut gelüftet«, sagte Wyatt. »Dort ist unser Ausgang.«
Ein Schuß hallte schrecklich laut durch den Korridor, und eine Kugel bewarf Wyatt mit Steinsplittern, als sie neben seinem Kopf von der Wand abprallte. Er bückte sich schnell und drehte sich um. Roseau verfolgte sie wankend durch den Korridor. Er war in einer schrecklichen Verfassung. Seine Uniform hing in Fetzen an ihm, und sein rechter Arm hing schlaff herab, als wäre er gebrochen. Er hielt einen Revolver in der linken Hand, und das war es vielleicht, was Wyatt rettete. Der nächste Schuß ging weit fehl.
Er schrie: »Die Zelle dort!« und schob Dawson kräftig. Dawson rannte die paar Meter zur Tür, hastete hindurch und hielt erschrocken an. Er verlor fast das Gleichgewicht bei dem Versuch, nicht in den unerwarteten Abgrund zu fallen. Wyatt zog sich langsamer zurück und ließ die Augen nicht von Roseau, der den Gang entlanggerannt kam. Roseau sagte kein Wort; er wischte sich mit dem Rücken der Hand, in der er den Revolver hielt, das Blut aus seinen fanatischen Augen, und sein Kiefer bewegte sich, als er unsicher wieder zielte. Wyatt sprang durch die Zellentür, als der Schuß losging, und hörte einen deutlichen Knall, als die Kugel sich in den Türpfosten grub.
»Hier herüber!« schrie Dawson, und Wyatt schritt eilig über die Trümmer und auf den schmalen Sims. »Wenn dieser verrückte Hund herauskommt, müssen wir wohl springen.«
»Es gibt kaum eine bessere Methode, sich die Beine zu brechen«, sagte Wyatt. Er fühlte mit seiner Hand etwas Loses, und seine Finger krümmten sich um einen faustgroßen Stein.
»Hier kommt er«, sagte Dawson.
Roseau schlurfte durch die Tür und schien den Abgrund vor seinen Füßen gar nicht zu bemerken. Er schwankte vorwärts, seinen Blick auf Wyatt geheftet, bis seine Stiefelspitzen über dem Leeren hingen, und hob mit zitternder Hand seinen Revolver.
Wyatt warf den Stein und traf Roseau seitlich am Kopf. Der Revolver ging los, und Roseau drehte sich, verlor den Halt und stürzte vornüber in die Trümmer unter ihm. Sein Arm legte sich über die Schulter des Toten und der neuerlich aufgewirbelte Staub setzte sich wieder auf die offenen, verwundert blickenden Augen des Toten.
Dawson holte tief Luft. »Jesus! War das ein unnachgiebiger Hund. Vielen Dank, Wyatt.«
Wyatt zitterte. Er stand auf dem Sims und wartete, bis das Zittern aufhören würde. Dawson sah auf Roseau hinunter: »Er wollte Sie hineinziehen – ich tat es nicht, Wyatt. Ich habe ihm nichts erzählt.«
»Ich hatte das auch nicht angenommen«, sagte Wyatt ruhig. »Wir wollen sehen, daß wir herunterkommen. Es ist hier jetzt nichts los, aber das könnte sich verdammt schnell ändern.«
Langsam kletterten sie auf die Straße hinunter. Es war schwierig für Dawson, weil seine Hände schmerzten, aber Wyatt half ihm. Als sie auf dem Gehsteig standen, fragte Dawson: »Was tun wir jetzt?«
»Ich gehe zurück zum Imperiale«, sagte Wyatt. »Ich muß Julie finden. Ich muß wissen, ob sie noch in St. Pierre ist.«
»In welcher Richtung ist das?«
»Quer über den Platz«, sagte Wyatt und zeigte die Richtung.
Sie gingen über die Place de la Libération Noire, und Dawson starrte entsetzt auf die Folgen des Blutbades. Es lagen Leichen überall, zu Hunderten. Sie konnten nicht mehr als fünf Meter geradeaus laufen, ohne ausweichen zu müssen, und sie gaben es schließlich auf und stiegen über die Toten hinweg. Plötzlich drehte Dawson sich um und übergab sich; er hatte lange nichts gegessen oder getrunken, und sein Erbrechen war trocken und anstrengend.
Wyatt stieß mit dem Fuß an etwas, das metallen und hohl klang. Er sah herunter und fand den Kopf eines Mannes; die Augen starrten ausdruckslos, und in der linken Schläfe war ein Loch.
Es war der Bronzekopf des Serrurier-Standbildes.