9

Als das erste Morgengrau am Himmel erschien, streckte Julie ihre verkrampften Beine aus. Sie hatte sie unter ihren Körper gezogen gehabt, um sie einigermaßen trocken zu halten, aber das war ihr nicht gelungen. Wenigstens hatten sie aber nicht im strömenden Wasser gelegen. Der Wind hatte mit Tagesanbruch nachgelassen; er heulte nicht mehr so teuflisch und überschüttete sie nicht mehr mit Sturzbächen, aber immer noch schoß eine lehmige Flut durch die Schlucht hinunter.

Es war eine böse Nacht gewesen. In ihrer kleinen Höhle unter dem großen Felsblock waren sie gegen den Sturm gut geschützt; er hatte um sie herum getobt, aber sie blieben unbehelligt. Mit dem Wasser war es etwas anderes. Es kam von oben, erst langsam, dann in einer immer stärkeren Sturzflut, die über den Felsblock schoß und vor ihren Füßen niederfiel. Sie brachte alle Äste, Zweige und Blätter mit, die in der Schlucht über ihnen gelegen hatten.

Als der Wind stärker wurde, zerriß er die Wasserwand vor ihren Gesichtern. Er zerstiebte das Wasser und blies es als feinen Sprühregen über den Berghang. Und wenn der Wind drehte und wirbelte, ging es ihnen, als hätte jemand eine Wanne voll Wasser in die Höhle geschüttet. Das geschah mit monotoner Regelmäßigkeit jede Stunde wenigstens ein dutzendmal.

Ihr Unterschlupf war eng, klein – und sicher. Die Wände der Schlucht stiegen auf beiden Seiten steil an, und der Wind, der über den offenen Hang raste, sog manchmal tatsächlich die Luft aus dieser Rinne, und während der schlimmsten Zeit mußten sie manchmal zwei Herzschläge lang nach Luft schnappen. Aber das schadete ihnen nicht, ja es half ihnen eher, denn mit der Luft wurde auch das Wasser herausgerissen, und das verschaffte ihnen für Augenblicke Erleichterung.

Sie konnten entweder ihre Beine ausstrecken und den Wasserfall über ihre Füße strömen lassen, wobei sie blaue Flecken oder Schlimmeres riskierten, wenn die Flut Äste oder Steine herunterspülte, oder auf ihren Beinen sitzen und einen Krampf bekommen. Sie wechselten zwischen den beiden Methoden ab – streckten die Beine aus, wenn der Krampf zu schlimm wurde. Das Wasser war nicht sehr kalt, worüber Julie froh war, und sie bildete sich ein, sie wurde so sauber gewaschen, daß sie ihr Leben lang nicht mehr unter die Dusche zu gehen brauchte. Schon allein der Gedanke an das Rauschen der Brause zu Hause in ihrem Badezimmer machte sie krank.

Zuerst konnten sie sich noch bequem unterhalten. Rawsthorne fühlte sich besser nach dem Rum. Er sagte: »Wir werden hier vielleicht ein wenig naß werden, aber ich glaube, wir werden mit dem Felsen im Rücken sicher sein.«

»Er wird nicht herunterkommen?« fragte Mrs. Warmington ängstlich.

»Das glaube ich nicht. Er scheint fest eingebettet zu sein – ich glaube sogar, daß es gewachsener Fels ist.« Er sah durch das herabfallende Wasser. »Und da unten kann das Wasser gut ablaufen. Es wird sich nicht stauen und uns ertränken. Wir müssen nur ruhig sitzenbleiben, bis alles vorbei ist.«

Julie horchte nach dem ansteigenden Kreischen des Windes über ihnen. »Es hört sich an, als sollte die ganze Insel weggefegt werden.«

Rawsthorne lachte matt. »Sie wurde 1910 nicht weggefegt – ich sehe keinen Grund, warum sie es jetzt sollte.«

Julie nahm ihre Beine aus dem Wasserfall und zog sie unter den Körper. »Jetzt haben wir genug Wasser – mehr als genug.« Nach einer Pause sagte sie: »Ich möchte wissen, wie all die Menschen mitten in einer Schlacht aus St. Pierre herausgekommen sind.«

»Meine Vermutung ist, daß Favel etwas damit zu tun hat«, sagte Rawsthorne versonnen. »Er muß schon, denn sie sind am Negrito, seiner Verbindungslinie zu den Bergen.«

»Sie meinen, Dave Wyatt hat ihm von dem Hurrikan berichtet?«

»Ich hoffe es. Das würde bedeuten, daß der junge Mann lebt. Aber vielleicht hatte Favel andere Informationsquellen; vielleicht bekam er eine Nachricht aus dem Stützpunkt oder sonstwoher.«

»Ja«, sagte sie leise und verfiel wieder in Schweigen.

Der Regenfall verstärkte sich, und aus dem Bach, der durch die Schlucht hinunterschoß, wurde eine brodelnde Sturzflut. Der Wind wurde stärker, und jetzt passierte es, daß Wirbel das Wasser in die Höhle warfen, so daß sie nach Atem rangen und sich an den Felsen anklammerten, aus Furcht, ins Tal geschwemmt zu werden. Mrs. Warmington hatte große Angst und wollte sich einen sicheren Platz suchen, aber Julie hielt sie zurück.

Rawsthorne fühlte sich nicht gut. Die Ereignisse der letzten beiden Tage waren zuviel für ihn gewesen, und sein Herz, das schon unter normalen Umständen nicht besonders gut war, begann sich aufzulehnen. Er bezweifelte, ob er auf ihrer Flucht von der Küste noch weiter hätte gehen können, und er war froh über die Ruhepause, so ungemütlich es auch war. Er dachte über Julie nach; sie war ein prächtiges Mädchen, stark und zäh, wenn es nötig war, und nicht bange, ein Risiko einzugehen. Er merkte, daß ihre Gedanken bei Wyatt waren, und er hoffte, daß beide diese schreckliche Nacht überleben würden, auf daß sie wieder zusammenkommen und ihr normales Leben fortsetzen könnten. Aber sie würden beide nicht mehr sein wie vorher, nicht in ihrer Einstellung zur Welt und, besonders nicht, zueinander. Er hoffte, sie würden einander wiederfinden.

Was diese verdammte Warmington mit ihrem ewigen Gejammer anging, da hätte er nicht das geringste dagegen gehabt, wenn sie aus der Höhle davongespült worden wäre. Dann hätten sie wenigstens mehr Platz gehabt, und sie wären von einer kräftezehrenden Bürde befreit gewesen. Er schnappte nach Luft, als er von einer Wasserwand zugedeckt wurde und von allen Gedanken nur der Wunsch zu überleben übrigblieb.

***

So ging die Nacht dahin, ein Schrecken, der sich nach Stunden messen ließ, eine lauwarme Hölle aus tosendem Sturm und stürzendem Wasser. Aber der Wind ließ gegen Morgen nach, und die Höhle wurde trockener und nicht mehr alle paar Minuten überschwemmt. Julie lockerte ihre verkrampften Beine und dachte, daß sie, so unglaublich es schien, wohl überleben würden. Sie stieß Rawsthorne an, der sagte: »Ja, der Wind läßt nach. Ich glaube, wir kommen gut davon.«

»Mein Gott, ich werde froh sein, wenn ich hier herauskomme«, sagte Julie. »Aber ich weiß nicht, ob ich stehen kann. Danach, wie mir jetzt ist, werde ich erst wieder laufen lernen müssen.«

»Können wir hinausgehen?« fragte Mrs. Warmington. Es war das erste Lebenszeichen von ihr seit langer Zeit.

»Noch nicht. Wir werden warten, bis es heller ist, und der Wind wird dann auch noch weiter nachgelassen haben.« Rawsthorne zog den Kopf zwischen die Schultern und starrte vor sich hin. »Ich habe das Gefühl, man könnte da draußen leicht ertrinken, besonders wenn man in der Dunkelheit herumirrt.«

Sie blieben also in ihrem engen Unterschlupf, bis sie undeutlich die Wände der Schlucht erkennen konnten, und dann begaben sie sich hinaus ins herrliche Tageslicht. Zuerst tauchte Julie vorsichtig unter dem herunterstürzenden Wasservorhang hindurch, dann Mrs. Warmington und zuletzt Rawsthorne, der sich langsam und mühsam bewegte, als wären seine Gelenke eingerostet. Julies Haar flatterte in dem Wind, der die Schlucht hinunterfegte – es war noch immer ein starker Sturm, aber kein Hurrikan mehr.

Sie watete knietief durch das dahinschießende Wasser zum Ufer. Dort drehte sie sich um und streckte ihre Hand nach Mrs. Warmington aus, die kreischte und ausrutschte. »Mein Schuh«, rief sie, »ich habe meinen Schuh verloren.«

Aber der war weg, von dem tosenden Wasser zu Tale gespült. »Macht nichts«, sagte Julie. »Es ist nicht so wichtig. Wir werden vielleicht jetzt nicht mehr weit laufen müssen.«

Rawsthorne kam nach und sagte: »Ich wüßte gern, was unten im Tale vorgeht. Ich glaube, es wäre wichtig zu wissen.«

Julie warf ihm einen schnellen Blick zu. »Wenn wir hier herausklettern, können wir hinuntersehen. Ich glaube, hier könnten wir hochkommen.«

Die Erde hatte sich in dicken, glitschigen Schlamm verwandelt, und es war nicht leicht, aus der Schlucht hinauszuklettern. Sie wankten und rutschten in dem glitschigen Steilhang, kamen aber schließlich hinauf, indem sie sich an Ästen und zähen Grasbüscheln hochzogen. Alles, was sie anpackten, hielt fest – nur das Starke war übriggeblieben, alles Schwache war vernichtet worden.

Sogar der karge Berghang zeigte Beschädigungen. Die meisten der niedrigen, verkrüppelten Bäume zeigten weißes Holz, wo Äste abgerissen waren, und es waren frische Narben an der roten Erde, wo ganze Bäume ausgerissen wurden. Kaum ein Baum hatte noch ein Blatt, und der ganze Berghang war vollkommen blankgefegt.

Rawsthorne sah ins Tal hinunter. »Mein Gott!« rief er aus. »Sehen Sie den Gran Negrito – den Fluß!«

Die ganze Talsohle war von einer bleifarbenen Wasserfläche ausgefüllt. Das Negrito-Tal entwässerte den größten Teil der Südhänge des Massif des Saints, und die ungeheuren Wassermengen, die von den Bergen herunterkamen, hatten sich mit dem durch die Flut in die Mündung gedrückten Wasser vereinigt. Der Fluß hatte die Uferdämme durchbrochen, hatte die Plantagen überflutet und Straßen und Brücken zerstört. Sogar wo sie standen, so hoch über dem Tal, und trotz des starken Windes hörten sie das Murmeln der Fluten.

Mrs. Warmington war weiß im Gesicht. »Lebt dort unten niemand mehr?«

»Die Menschen, die wir sahen, kletterten die Hänge herauf«, sagte Rawsthorne. »Es ist nicht anzunehmen, daß die Fluten sie erfaßt haben.«

»Lassen Sie uns hinuntersteigen und nachsehen«, schlug Julie vor.

»Nein!« sagte Rawsthorne scharf, und Julie sah ihn überrascht an. »Ich glaube nicht, daß wir den Hurrikan schon hinter uns haben.«

»Das ist Unsinn«, sagte Mrs. Warmington. »Der Wind wird immer schwächer. Natürlich ist er vorbei.«

»Das verstehen Sie nicht«, sagte Rawsthorne. »Ich glaube, wir sind im Auge des Hurrikans. Wir haben die zweite Hälfte noch vor uns.«

»Meinen Sie, wir müssen all das noch einmal durchmachen?« fragte Julie erschrocken.

Rawsthorne lächelte bedauernd. »Leider müssen wir das wahrscheinlich.«

»Aber Sie wissen es nicht bestimmt«, sagte Mrs. Warmington. »Nicht wahr, Sie wissen es nicht bestimmt?«

»Nicht bestimmt, aber ich glaube, wir sollten noch nichts riskieren. Es hängt alles davon ab, ob der Hurrikan uns genau getroffen hat oder ob er uns nur gestreift hat. Wenn er uns voll getroffen hat, sind wir im Auge und müssen noch die zweite Hälfte über uns ergehen lassen. Ich verstehe jedoch nicht genug vom Wetter; Wyatt könnte es uns sagen, wenn er hier wäre.«

»Aber er ist nicht hier«, sagte Mrs. Warmington. »Er hat sich ins Gefängnis gebracht.« Sie hoppelte über den Berghang und sah hinunter. »Dort unten sind Leute – ich kann sie laufen sehen.«

Rawsthorne und Julie gingen zu ihr hinüber und sahen an den tiefer liegenden Hängen Menschen krabbeln. »Es ist auf eine Art gut, daß die Talsohle überflutet ist«, sagte er. »Sie können nicht hinuntergehen, wo sie vielleicht in der zweiten Hälfte dem Sturm zum Opfer fallen würden.«

»Also, ich gehe hinunter«, sagte Mrs. Warmington mit unerwarteter Bestimmtheit. »Ich habe es satt, mich von Ihnen beiden herumschubsen zu lassen. Außerdem habe ich Hunger.«

»Machen Sie keine Dummheiten!« sagte Julie. »Mr. Rawsthorne versteht mehr davon als Sie. Hier oben sind Sie sicherer.«

»Ich gehe«, sagte Mr. Warmington und rückte ein Stück von ihnen ab. »Und Sie werden mich nicht daran hindern.« Ihr Kinn zitterte vor törichter Halsstarrigkeit. »Ich halte es für Unsinn zu sagen, daß wir noch so einen Sturm kriegen, wie wir eben gehabt haben – so etwas gibt es nicht. Und dort unten wird es etwas zu essen geben, ich sterbe vor Hunger.«

Sie wich aus, als Julie auf sie zutrat. »Und Sie schieben mir für alles die Schuld zu, ich kenne Sie. Sie kommandieren und stoßen mich dauernd herum – das würden Sie nicht tun, wenn ich stärker wäre als Sie. Ich meine, Sie sollten sich schämen, eine Frau zu schlagen, die älter ist als Sie. Deshalb gehe ich – ich gehe zu den Leuten dort.« Sie sprang zurück, als Julie nach ihr greifen wollte, und wackelte den Berg hinab. Sie humpelte komisch, weil sie nur einen Schuh anhatte. Rawsthorne rief Julie zurück: »Oh, lassen Sie das verdammte Weib laufen! Sie war die ganze Zeit nur eine Plage, und ich freue mich, sie von hinten zu sehen.«

Julie stoppte und kam langsam wieder den Berg herauf. »Meinen Sie, daß sie durchkommt?« fragte sie zweifelnd.

»Das ist mir ganz egal«, sagte Rawsthorne müde. »Sie hat uns die ganze Zeit nur Schwierigkeiten gemacht, und ich sehe nicht ein, warum wir uns umbringen sollen bei dem Versuch, ihr das Leben zu retten. Wir haben unser möglichstes für sie getan, mehr können wir nicht tun.« Er setzte sich auf einen Stein und stützte den Kopf in die Hände. »Gott, bin ich müde.«

Julie beugte sich über ihn. »Sind Sie krank?«

Er hob das Gesicht und lächelte ihr müde zu. »Es geht schon, meine Liebe. Es fehlt mir nichts weiter. Ich bin nur einfach zu alt. In nasser Kleidung herumzusitzen bekommt einem in meinem Alter nicht mehr.« Er sah den Berg hinunter. »Sie ist nicht mehr zu sehen. Sie ist auch noch in die falsche Richtung gelaufen.«

»Was?«

Rawsthorne lächelte und zeigte mit der Hand in die Richtung von St. Pierre. »Die Straße nach St. Michel ist dort drüben, sie verläßt St. Pierre und hält sich an den Hängen des Negrito-Tals, bevor sie über den Kamm und dann zur Küstenstraße hinüberführt. Wenn wir weggehen wollen, würde ich vorschlagen, dort hinüberzugehen, ich glaube nicht, daß die Straße überflutet ist.«

»Aber Sie meinen nicht, daß wir weggehen sollten?« sagte Julie sachlich.

»Nein. Ich fürchte, wir bekommen noch mehr Wind. Wir haben einen sicheren Ort gefunden, und ich meine, wir sollten lieber hierbleiben, solange wir es nicht sicher wissen. Wenn der Wind in drei oder vier Stunden nicht wieder zunimmt, können wir beruhigt gehen.«

»Also gut – bleiben wir hier«, sagte Julie. Sie ging hinüber an den Rand der Schlucht und sah auf die glatte Wasserwand unter dem Felsblock. Die Höhle war vollkommen hinter diesem Wasservorhang verborgen. Sie lachte und wandte sich wieder zu Rawsthorne um. »Ein Gutes hat die Sache – wir werden jetzt viel mehr Platz haben, wo die dicke Tante weg ist.«

***

Wyatt stand auf dem Höhenrücken vor St. Pierre und blickte über die Stadt. Die Flut war zurückgegangen seit seinem schrecklichen Anblick im Licht eines Blitzes, aber die Hälfte der Stadt war immer noch unter Wasser. Die entscheidende Welle hatte häßliche Beweise der Zerstörung zurückgelassen: die Trümmer einer abgerissenen Stadt an der Hochwassergrenze im halben Hang. Die Häuser unten, von denen aus nur einige Stunden vorher der Angriff geführt wurde, waren vollkommen verschwunden, und ebenfalls verschwunden war das Hüttenviertel im Mittelgrund. Nur der Stadtkern stand noch – einige moderne Hochhäuser aus Stahl und Beton und die älteren Steingebäude, die schon mehr als einen Hurrikan überstanden hatten.

In der Ferne war der Radarturm verschwunden, der den Stützpunkt Cap Sarrat markierte; er war vom Hurrikan umgelegt worden wie ein Grashalm von der Sichel. Der Stützpunkt selbst war zu niedrig und zu weit entfernt, um zu sehen, ob viel weiterer Schaden angerichtet wurde. Wyatt sah aber Wasser schimmern, wo eigentlich kein Wasser sein sollte.

Und von der Armee der Regierung war nichts zu sehen – keine Bewegung in der zerstörten Stadt.

Causton und Dawson kamen den Hang herauf und gesellten sich zu Wyatt. »Was für ein Trümmerhaufen!« sagte Causton und stieß vielsagend die Luft aus. »Ich bin froh, daß wir die Bevölkerung herausgeschafft haben.« Er wühlte in seiner Tasche und brachte ein Feuerzeug und eine Schachtel durchnäßte, zerweichte Zigaretten zum Vorschein. »Ich habe immer meinen Stolz darin gesehen, auf alles vorbereitet zu sein. Hier habe ich mein wasserdichtes Feuerzeug, das unter allen Umständen funktioniert.« Er knipste, und es erschien eine ruhige, stabile Flamme. »Aber sehen Sie sich meine verdammten Zigaretten an!«

Dawson sah die Flamme an, die in der ruhigen Luft brannte, ohne zu flackern. »Sind wir wirklich im Zentrum dieses Hurrikans?«

Wyatt nickte. »Genau im Auge. Etwa eine Stunde weiter, und wir sind wieder im dicken Schlamassel drin. Ich glaube aber nicht, daß Mabel noch viel mehr Regen bringt, es sei denn, daß der verdammte Bursche stehenbleibt. Das tun sie manchmal.«

»Machen Sie es nicht noch schlimmer!« bat Causton. »Es reicht schon, daß wir noch einmal so eine Tortur vor uns haben.«

Dawson rieb sich mit der verbundenen Hand unbeholfen das Ohr. »Ich habe schreckliche Ohrenschmerzen.«

»Komisch«, sagte Causton, »ich auch.«

»Das ist der niedrige Druck«, sagte Wyatt. »Halten Sie Ihre Nase zu und blasen Sie sie dann auf, um den Druck auszugleichen!« Er zeigte mit dem Kopf auf die überflutete Stadt. »Es ist der niedrige Luftdruck, der all das Wasser hier festhält.«

Während die andern häßliche Schnarchgeräusche machten, sah er zum Himmel hinauf. Dort war eine Wolkendecke, von der er nicht sagen konnte, wie dick sie war. Er hatte gehört, daß man im Auge eines Hurrikans den blauen Himmel sehen konnte, aber er hatte ihn noch nie selbst gesehen, noch hatte er jemand getroffen, der ihn gesehen hatte, und er war geneigt, das als eine der Übertreibungen abzutun, die in der Wetterkunde häufig zu finden waren. Er faßte seinen Ärmel an und merkte, daß er fast trocken war. »Geringer Druck«, sagte er, »und geringe Feuchtigkeit. Sie werden schnell abtrocknen. Sehen Sie dort!« Er zeigte auf eine Stelle, wo der Erdboden zu dampfen anfing.

Causton beobachtete eine Gruppe von Männern, die den Hang hinunter in Richtung auf St. Pierre marschierten. »Sind Sie sicher, daß Favel weiß, daß wir noch mehr Wind zu erwarten haben?« fragte er. »Diese Leute laufen ins Verderben, wenn sie nicht schleunigst zurückkommen.«

»Er weiß Bescheid«, sagte Wyatt. »Wir haben darüber gesprochen. Wir wollen einmal zu ihm hingehen – wo, sagte er, wo sein Hauptquartier war?«

»Ein Stück die Straße hinauf – es ist nicht weit.« Causton lachte. »Sind wir gut genug angezogen für einen Besuch?«

Wyatt sah die andern an – sie waren von Kopf bis Fuß mit Schlamm beschmiert, und als er an sich heruntersah, entdeckte er, daß er ebenso aussah. »Ich bezweifle, ob Favel besser aussieht«, sagte er. »Kommen Sie!«

Sie gingen zurück, an ihrem Deckungsloch vorbei, und plötzlich blieb Causton wie angewurzelt stehen. »Guter Gott!« hauchte er. »Sehen Sie sich das an!«

Im nächsten Loch lag ein Körper mit einem ausgestreckten Arm. Der Handrücken, der normalerweise von einem satten Braun gewesen wäre, sah schmutzig grau aus, als wäre alles Blut aus ihm abgezogen. Aber was Causton so erschreckt hatte, war die Tatsache, daß dem Körper der Kopf fehlte. Es war auch kein Kopf in der Nähe zu finden.

»Ich glaube, ich weiß, wie das gekommen ist«, sagte Wyatt. »Es kam etwas über uns geflogen, als der Wind am schlimmsten war, und ich glaube, es war eine Wellblechtafel. Sie schlug etwa hier auf und flog dann wieder auf.«

»Aber wo ist der Kopf?« fragte Dawson verstört.

»Der wird auch weggeflogen sein. Es war ein starker Wind.«

Dawson sah krank aus und ging weg. Causton sagte beklommen: »Das … das hätte auch jedem von uns passieren können.«

»Es hätte können«, gab Wyatt zu. »Aber es ist nicht. Kommen Sie!«

Seine Gefühle waren eingefroren. Der Anblick eines gewaltsamen Todes berührte ihn nicht. Er hatte zuviel vom Töten gesehen, zu viele erschossene und in Stücke gerissene Männer. Er hatte selbst einen Mann getötet. Zugegeben, Roseau verdiente den Tod, wenn je ein Mann ihn verdiente, aber Wyatt war ein Produkt seiner Umgebung, und das Töten kam ihn nicht leicht an. Der Anblick eines durch einen unglücklichen Zufall in einem Hurrikan Umgekommenen bedeutete ihm nichts, weil er den einzelnen Toten einer ganzen toten Armee gegenüberstellte – die auch in einem Hurrikan umgekommen war, aber nicht zufällig.

***

Das Hauptquartier bestand aus einer Reihe von Erdlöchern. Das Hauptquartier war ein Hinundhereilen von Offizieren. Das Hauptquartier war ein sich ausweitender Kreis von Wirkungen, die von Favel, dem ruhigen Mittelpunkt, ausgingen.

Wyatt kam nicht sofort zu ihm durch. Er hatte nichts dagegen, denn er hatte Favel eingeschätzt und wußte, daß er nicht vergessen sein würde und daß Favel ihn vorlassen würde, sobald er Zeit hatte. Es gab Prioritäten, und Wyatt war nicht unter den ersten. Mit Dawson wartete er am Rande der geschäftigen Gruppe und beobachtete den Betrieb. Immer größere Gruppen von Männern wurden ins Negrito-Tal hinaufgeschickt, und Wyatt hoffte, daß Favel wußte, was er tat.

Causton war verschwunden. Er ging vermutlich seinem Beruf nach, obwohl Wyatt sich nicht vorstellen konnte, was für noch größere Katastrophen er für seine sensationshungrigen Leser finden wollte. Dawson war ungeduldig. »Ich sehe keinen Sinn darin, hier zu warten«, schimpfte er. »Da können wir doch ebenso drüben in unserem Loch sitzen.«

»Ich möchte nicht, daß Favel jetzt einen Fehler begeht«, sagte Wyatt. »Ich werde hier warten. Sie können zurückgehen, wenn Sie wollen, und ich komme dann nach.«

Dawson zuckte mit den Schultern. »Es ist hier nicht anders als sonstwo.« Er ging nicht weg.

Nach einer Weile kam ein großer Neger zu Wyatt herüber, und er bemerkte bei näherem Hinsehen erstaunt, daß es Manning war, dessen Gesicht mit dem allgegenwärtigen Schlamm verschmiert war. »Julio würde gern mit Ihnen sprechen«, sagte er. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Sie haben aber wahrhaftig ins Schwarze getroffen mit diesem Hurrikan.«

»Er ist noch nicht vorbei«, sagte Wyatt kurz.

Manning nickte. »Das wissen wir. Julio ist schon mitten in der Vorausplanung, um zu sehen, was sich aus den Trümmern noch retten läßt. Darüber möchte er mit Ihnen sprechen. Wenn Sie mit ihm gesprochen haben, kann ich Ihnen vielleicht eine Kleinigkeit zu essen besorgen; Sie werden kaum wieder eine Gelegenheit bekommen, bevor wir Mabel ganz los sind.«

Favel empfing Wyatt mit dem gleichen halb lächelnden Gesichtsausdruck. Kaum zu glauben, aber er sah sauber aus, trug ein reines Hemd und hatte Zeit zum Waschen gefunden, obzwar seine Uniformhose vom Schlamm steif war. Er sagte: »Sie haben Ihren Hurrikan nicht übertrieben, Mr. Wyatt. Er war in jeder Beziehung so schlimm, wie Sie ihn vorhergesagt hatten.«

»Er ist es noch«, sagte Wyatt kurz. »Was sollen die Truppen, die Sie ins Negrito-Tal hinauf geschickt haben? Es wird sie erwischen, wenn sie nicht vorsichtig sind.«

Favel winkte ab. »Ein kalkuliertes Risiko. Ich finde, ich bin ständig gezwungen, solche Entscheidungen zu treffen. Lassen Sie uns die Karte ansehen!«

Es war die Karte, in der Wyatt die vermutlich sicheren Gebiete im Negrito-Tal einskizziert hatte. Sie war feucht und mit Schlamm beschmiert, und die Kreidelinien waren ausgelaufen und verwischt. Favel sagte: »Es wurden Melder ausgewählt, die während dieser Unterbrechung des Hurrikans hier Bericht erstatten sollen, und sie sind während der letzten halben Stunde hier angekommen – nicht so viele, wie ich gehofft hatte, aber genug, um mir einen großen Überblick zu verschaffen.« Seine Hand hing über der Karte. »Sie hatten recht, als Sie mir sagten, ich sollte die Leute nicht im Tal lassen – das ganze Tal ist unter Wasser, von der Mündung bis etwa hier.« Er schraffierte das Gebiet schnell mit einem Bleistift ein. »Das sind etwa fünfzehn Kilometer. Der Gran Negrito hat die Uferdämme durchbrochen, und es kommt noch mehr Wasser von den Bergen den Gran Negrito selbst und auch den P'tit Negrito herunter. Die Brücken sind weg, und die Straßen sind unter Wasser.«

»Es sieht schlimm aus«, sagte Wyatt.

»Es ist schlimm«, pflichtete Favel ihm bei. »Diese Straße, die Abkürzung nach St. Michel durch das Negrito-Tal, ist ziemlich frei. Zur Zeit ist sie die einzige befahrbare Straße nach St. Pierre. Weil sie am Hang entlangführt, ist sie flutfrei. Es gibt einige Hindernisse, umgestürzte Bäume und so. Und die drei Brücken sind nicht sicher. Es sind schon Männer dabei, die Straße zu räumen und nach den Brücken zu sehen. Andere Männer graben sich dort gegen die zweite Hälfte des Hurrikans ein. Sobald alles vorbei ist, werden sie herauskommen und diese Brücken endgültig instandsetzen.«

Wyatt nickte. Das klang vernünftig.

»Nun, Mr. Wyatt. Wie lange wird St. Pierre überflutet bleiben?«

Wyatt sah auf die Karte. »Was bedeutet diese Linie, die Sie hier eingezeichnet haben?«

»Das ist die Flutgrenze im Augenblick – soweit wir sie kennen.«

»Das ist etwa die Fünfmeter-Konturlinie – das können wir also ergänzen.« Er nahm den Bleistift und zeichnete eine flotte Kurve ein. »Das umfaßt die halbe Stadt, einen großen Teil von Cap Sarrat, all das niedrige Gelände hier, mit Ihrem Flugplatz, aber östlich von hier ist nicht viel, weil das Gelände hier um diese Landzunge höher liegt. Dieses ganze Gebiet ist unter Wasser als Folge des niedrigen Druckes, aber sobald Mabel weiterzieht, wird sich die Lage sehr schnell normalisieren.«

»Also können wir nach St. Pierre hinein, sobald der Hurrikan vorbei ist.«

»Ja, ohne weiteres.«

»Wie ist es mit den Überschwemmungen im Negrito-Tal – wie lange wird es dauern, bis die sich verlaufen?«

Wyatt zögerte. »Das ist eine andere Sache. Der Fluß ist von der Mündung her aufgestaut worden und wird noch durch das Hochwasser hier in der Santego Bay blockiert. Dazu kommt all das Wasser, das von den Bergen herunterkommt. Und alles muß durch das Flußbett zur See abfließen. Das wird lange dauern, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange genau.«

»Das hatte ich mir schon gedacht«, sagte Favel. »Ich hatte eine Woche geschätzt, als mindestes.« Sein Finger zeichnete eine Linie auf die Karte. »Ich habe ein Regiment hier hinauf in Marsch gesetzt, auf der Straße nach St. Michel, mit der Anweisung, sich am Kamm entlang einzugraben. Wenn der Hurrikan vorbei ist, werden sie hinuntergehen und die Menschen über die Berge auf die Straße führen, um sie hier an den Fluten vorbei zurückzutransportieren.« Er blickte auf. »Andere Teile dieses Regiments werden nach St. Michel und an der Küste entlang vorstoßen. Es gibt noch andere Städte auf San Fernandez, außer St. Pierre. Diese Männer jetzt schon zu schicken ist riskant, aber wir sparen zwei Stunden dadurch, und in zwei Stunden lassen sich eine Menge Menschenleben retten, Mr. Wyatt.« Er schüttelte den Kopf. »Es wird uns an Medikamenten, Decken und Kleidung fehlen; es wird uns an allem fehlen, was Menschen zum Leben brauchen.«

»Die Amerikaner werden zurückkommen«, sagte Wyatt. »Commodore Brooks wird über Funk Hilfe angefordert haben. Ich wette, sie beladen schon jetzt Rettungsflugzeuge in Miami.«

»Ich hoffe es«, sagte Favel. »Glauben Sie, daß die Flugplätze zu gebrauchen sein werden?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich würde sagen, Ihr eigener Flugplatz dürfte erledigt sein, aber der Militärflugplatz des Stützpunkts ist schlechtwetterfest gebaut, der könnte noch brauchbar sein.«

»Ich werde das prüfen lassen, sobald der Hurrikan vorbei ist«, sagte Favel. »Ich danke Ihnen, Mr. Wyatt, – Sie haben mir wertvolle Dienste erwiesen. Wie lange Zeit haben wir noch?«

Wyatt blickte zu dem grauen Himmel hinauf und sah dann auf die Uhr. Er spürte den ersten schwachen Windhauch an seiner Wange entlangstreifen. »Keine ganze Stunde mehr«, sagte er. »Ich würde sagen, in dreiviertel Stunden, dann kommt der Wind wieder. Ich nehme nicht an, daß es diesmal viel Regen gibt.«

Favel lächelte. »Ein kleiner Trost.«

Wyatt zog sich ein Stück zurück, und Manning drückte ihm eine offene Dose in die Hand. »Essen Sie, solange Sie können!«

»Danke.« Wyatt sah sich um. »Ich sehe Ihren Kumpan Fuller nirgendwo.«

Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über Mannings Gesicht. »Er ist tot«, sagte er leise. »Er wurde bei dem letzten Angriff verwundet und starb während des Hurrikans.«

Wyatt wußte nichts zu sagen. Zu sagen, daß es ihm leid täte, wäre zu wenig gewesen, daher sagte er gar nichts.

Manning sagte: »Er war ein guter Kerl – nicht allzu schlau, aber man konnte sich auf ihn verlassen, wenn man in Not kam. Man kann vielleicht sagen, ich habe ihn umgebracht – ich habe ihn hier hineingezogen.«

Es ging Wyatt auf, daß auch andere ihre Schuldgefühle hatten. Er fühlte sich deswegen nicht besser, aber es gab ihm ein besseres Verständnis. Er sagte: »Wie ist das alles gekommen?«

»Wir waren im Kongo«, sagte Manning. »Wir arbeiteten für Tschombe – Söldner, wissen Sie. Die Sache dort ging zu Ende, als ich dies hier übernahm, und ich fragte Fuller, ob er nicht Lust hätte mitzukommen. Der Sold war so verdammt hoch, daß er sofort ja sagte. Nicht, daß ihm das Geld jetzt viel nützen würde.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber das ist bei dem Geschäft mit drin.«

»Was werden Sie jetzt tun?«

»Hier ist nicht mehr viel zu tun«, sagte Manning. »Julio bat mich zu bleiben, aber ich glaube nicht, daß er wirklich möchte, daß ein Weißer eine große Rolle bei dem spielt, was jetzt kommt. Ich habe gehört, daß es im Yemen Arbeit gibt, bei den Royalisten – vielleicht gehe ich dorthin.«

Wyatt sah diesen großen Mann an, der von Arbeit sprach, wenn er Kämpfen meinte. Er sagte: »Können Sie denn um Himmels willen nicht auf eine leichtere Art Ihren Lebensunterhalt verdienen?«

Manning sagte leise: »Ich glaube nicht, daß Sie mich richtig verstanden haben. Sicher werde ich bezahlt fürs Kämpfen – das werden die meisten Soldaten –, aber ich wähle die Seite, für die ich kämpfe. Meinen Sie, ich hätte für Serrurier gekämpft?«

Wyatt suchte verlegen nach einer Entschuldigung und war froh über die Unterbrechung, als Dawson herüberkam und aufgeregt rief: »He, Dave, ich glaube, das wird Sie interessieren. Da ist eben einer von den Leuten aus dem Negrito-Tal heruntergekommen. Der sagt, da sei eine Amerikanerin dort oben. Wenigstens habe ich ihn so verstanden; diese Sprache ist fürchterlich.«

Wyatt flog herum. »Wo ist der Mann?«

»Der Bursche dort drüben – der eben mit Favel gesprochen hat.«

Wyatt ging hinüber und packte den Mann am Arm. »Haben Sie eine Amerikanerin am Negrito gesehen?« fragte er im Inseldialekt.

Der Mann wandte ihm sein erschöpftes Gesicht zu und schüttelte seinen Kopf. »Ich habe von ihr gehört. Gesehen habe ich sie nicht.«

»Wo war das?«

»Hinter der Straße nach St. Michel – unten im Tal.«

Wyatt zerrte erregt an ihm. »Können Sie es mir auf der Karte zeigen?«

Der Soldat nickte müde und ließ sich führen. Er beugte sich über die Karte und legte seinen Finger darauf. »Hier.«

Wyatt sah verständnislos auf die Karte, und seine Hoffnung sank. Julie würde nicht dort sein, so weit unten im Negrito-Tal. Sie waren die Küstenstraße entlang gefahren. Er fragte: »War das eine alte Frau? – Eine junge Frau? – Welche Haarfarbe? – Wie groß?«

Der Soldat blinzelte ihn dumm an, und Dawson mischte sich ein. »Warten Sie einen Augenblick, Dave! Der Mann ist ganz abgekämpft.« Er drückte dem Mann eine Flasche in die Hand. »Nehmen Sie einen Schluck davon, das wird Sie munter machen.«

Während der Mann aus der Rumflasche trank, sah Dawson auf die Karte. »Wenn es stimmt, daß dieser Bursche von hier oben kommt, wie er sagt, dann hat er eine verdammt weite Strecke in kurzer Zeit zurückgelegt.«

»Es kann nicht Julie sein«, sagte Wyatt bedrückt. »Auf dem Zettel im Imperiale stand, daß sie die Küstenstraße entlangfahren wollten.«

»Vielleicht sind sie das doch nicht«, sagte Dawson. »Vielleicht konnten sie nicht. Es war ja schließlich Krieg, wenn Sie sich erinnern.« Er starrte auf die Karte. »Und wenn sie in die Gegend gefahren sind, müssen sie unter Rocambeaus Armee geraten sein, als er sich zurückzog. Wenn Rawsthorne vernünftig war, hat er sie woandershin gebracht. Hören Sie, Dave; wenn sie in gerader Richtung über die Berge gewandert wären, könnten sie ins Negrito-Tal gekommen sein. Es wäre eine schrecklich harte Wanderung gewesen, aber es wäre möglich.«

Wyatt wandte sich dem Mann wieder zu und befragte ihn noch einmal, aber es hatte keinen Zweck. Er hatte die Frau nicht selbst gesehen, er wußte nichts über ihr Alter, ihre Haarfarbe oder sonst etwas, er wußte lediglich, daß oben am Negrito eine Amerikanerin gesehen worden war. Und Wyatt wußte, daß das nichts zu bedeuten hatte, nicht einmal, daß sie eine Amerikanerin war; für diese Leute waren alle Weißen Amerikaner.

Er sagte müde: »Es kann irgend jemand sein, aber ich kann nichts unversucht lassen. Ich muß hin.«

»He!« rief Dawson erschrocken und langte nach ihm, konnte ihn aber mit seinen verbundenen Händen nicht festhalten. Wyatt schüttelte ihn ab und lief zur Straße.

Manning kam heran und fragte: »Was ist los?«

Dawson würgte. »In einer halben Stunde bricht die Hölle los, und dieser störrische Kerl will zum Negrito – er glaubt, sein Mädchen sei dort oben.«

»Das Marlowe-Mädchen?«

Dawson sah Wyatt nach. »Ja. Entschuldigen Sie mich – irgend jemand muß sich um diesen verrückten Hund kümmern.«

Er rannte hinter Wyatt her, und Manning begann ebenfalls zu rennen. Sie holten ihn ein, und Manning sagte: »Ich bin ein Narr, aber ich glaube, ich kann Sie schneller dort hinbringen. Folgen Sie mir!«

Das brachte Wyatt zum Stehen. Er starrte Manning an und folgte ihm dann. Manning führte ihn ein Stück den Höhenrücken entlang zu einem niedrigen Steinbau. »Hier habe ich mich während des Hurrikans versteckt«, sagte Manning. »Ich habe meinen Landrover drin; Sie können ihn nehmen.«

Wyatt ging hinein, und Dawson fragte: »Was ist das hier?«

»Eine alte Kasematte – vielleicht hundert Jahre alt. Sie gehörte zu den ehemaligen Hafenbefestigungen. Favel wollte nicht hier hereinkommen – er sagte, er wünschte keinen besseren Schutz als seine Leute. Aber ich mußte Fuller pflegen.«

Sie hörten den Motor aufheulen, als Wyatt den Landrover startete und dann rückwärts herausfuhr. Dawson sprang hinein, und Wyatt sagte: »Sie brauchen nicht mitzukommen.«

Dawson grinste. »Ich bin auch ein Verrückter. Ich muß mich um Sie kümmern – muß zusehen, daß Sie heil ins Irrenhaus zurückkommen.«

Wyatt zuckte die Schultern und warf ungestüm den Gang ein. Manning rief: »Verbiegen Sie den Schalthebel nicht, wenn es geht! Er gehört mir, nicht der Firma.« Er winkte, als der Landrover mit einem Satz an ihm vorbeischoß, und er sah ihm mit ernstem Gesicht nach. Dann ging er zurück zum Hauptquartier, wo Favel ihn brauchen würde.

***

Als sie auf der Straße waren, kamen sie leichter voran, und Dawson fragte: »Wohin fahren wir eigentlich genau?«

Der Landrover schoß vorwärts, als Wyatt auf das Gaspedal trat. »Wir fahren so weit wie möglich auf den Berg hinauf, von wo aus man den Negrito überblicken kann«, sagte er. »Bis dorthin, wo die Straße zur Küste und nach St. Michel abbiegt.« Das war dort, wo er und Julie die Aussicht bewundert und schwachen Planter's Punch getrunken hatten. »Ich hoffe nur, die Brücken sind heil.«

Dawson versuchte sich in den Sitz zu stemmen, als der Landrover waghalsig durch eine Kurve schleuderte. »Wie weit ist das?«

»Wir müßten in einer halben Stunde dort sein, wenn wir die ganze Zeit schnell fahren können. Favel sagte, die Straße sei durch umgestürzte Bäume blockiert, aber er sei dabei, sie räumen zu lassen.«

Sie kamen schon höher hinauf, und Dawson sah nach links hinüber und sagte: »Sehen Sie bloß den verdammten Fluß! Er ist wie ein Meer – das ganze Tal ist unter Wasser.«

Wyatt konzentrierte sich auf die Straße. »Das wird salziges Wasser sein, oder sehr brackiges. Das wird den Kulturen nicht guttun.« Er sah nicht einmal hin; seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Fahren. Er fuhr zu schnell für diese Straße mit all ihren Kurven und Serpentinen, und er schnitt die Kurven weit. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß jemand aus der entgegengesetzten Richtung kommen würde, aber möglich war es immerhin. Dieses Risiko ging er ein, um schneller voranzukommen.

Dawson drehte sich um und sah nervös auf die See hinaus. Sie war zu weit weg, als daß man die Wellen sehen konnte, aber er erhaschte einen Blick auf den fernen Horizont, bevor der Landrover um die nächste Kurve schlidderte. Dort türmten sich Wolken – große schwarze Massen, von Blitzen durchzuckt. Er warf einen Blick auf Wyatts entschlossenes Gesicht und dann auf die nasse Straße, die sich an der südlichen Flanke des Negrito-Tals hinauf schlängelte. Das würde knapp werden.

Die Plantagen zu beiden Seiten waren ruiniert. Die weichen Bananenstauden hatte der Sturm umgelegt und auf dem Boden zu einer breiigen Masse zerschlagen. Von den wenigen Stauden, die stehengeblieben waren, wehten zerfetzte Blätter wie vergessene Feldzeichen, aber es war zweifelhaft, ob die Pflanzen die nächsten Stunden überleben würden. Das Zuckerrohr war zäher; die steifen Stengel standen noch aufrecht und rasselten in dem auffrischenden Wind, aber die frischgrünen oberen Blätter waren vollkommen weg, und die Pflanzen würden eingehen.

Sie kamen um eine andere Kurve und stießen auf marschierende Männer. Wyatt bog aus, um sie nicht umzufahren. Er verlor an Geschwindigkeit und schimpfte, als er zurückschalten mußte. Die Soldaten winkten, als sie vorbeifuhren, und Dawson winkte zurück. Er hoffte, sie würden bald Schutz finden – das war keine Zeit, um auf einer offenen Straße zu sein.

Dann kamen sie an die erste Brücke, die über einen Wasserlauf führte, der normalerweise trocken war. Aber jetzt führte er Wasser; ein tosender Strom füllte die enge Schlucht fast aus, schoß unter der Brücke durch und stürzte als Wasserfall über die fast senkrechte Wand auf der anderen Seite der Straße. An der Brücke standen Männer, die verdutzt aufsahen, als der Landrover ankam und Wyatt mit dem Arm Zeichen machte, die bedeuten sollten, daß er hinüber wollte. Ein Sergeant zuckte mit den Schultern und winkte ihn ein, und Wyatt fuhr langsam auf die Brücke.

Dawson sah über den Rand und hielt den Atem an. Er meinte, die Vibration zu spüren, wenn das dahinschießende Wasser von unten gegen die Brücke schlug, und er hoffte inbrünstig, daß die Brücke nicht zu sehr beschädigt war. Da war ein Abgrund von über dreißig Metern, und so etwas hatte ihn schon immer schwindelig gemacht. Er schloß die Augen und öffnete sie erst einige Sekunden später wieder, als er hörte, wie Wyatt schaltete. Die Brücke lag hinter ihnen, und sie setzten den langen Anstieg fort.

Fast jede Minute schickte Wyatt einen Blick zum Himmel. Die Wolken wurden dicker, während der Südrand des Hurrikans näher rückte. Von den wenigen noch stehenden Bananenstauden wehten die zerfetzten Blätter, und er wußte, der große Sturm war nicht mehr weit. Er sagte: »Wir werden vielleicht gerade noch rechtzeitig oben ankommen.«

»Was dann?«

»Dann suchen wir Schutz unterhalb des Kammes. Wir werden nicht allein sein – Favel hat ein Regiment hier heraufgeschickt.«

»Das kommt mir verdammt blödsinnig vor«, bemerkte Dawson. »Wozu soll das gut sein?«

»Es ist eine Sache der Organisation. Die Leute unten im Tal haben keine, sie sind undiszipliniert und isoliert, und nach dem Hurrikan wird das noch schlimmer sein. Wenn Favel eine Gruppe von disziplinierten Männern zu ihnen schicken kann, sobald der Wind nachläßt, kann er viele Menschenleben retten. Haben Sie schon einmal was von Katastrophenschock gehört?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Wenn eine Bevölkerung von einer Katastrophe betroffen wird, bleiben die Überlebenden in einem Schockzustand zurück. Sie sind völlig hilflos. Es ist nicht so, daß sie sich nicht selbst helfen wollen – sie sind nicht fähig dazu. Sie sitzen einfach herum, absolut stumpf, während Hunderte von ihnen sterben, weil ihnen die einfachste Hilfe fehlt – so einfache Dinge, wie eine Decke über einen Verletzten zu decken, werden einfach nicht getan, auch wenn die Decke vorhanden ist. Es ist eine Art Massenstarre.«

»Das klingt schlimm.«

»Es ist auch schlimm. Es kommt auch im Krieg vor, bei schweren Bombenangriffen oder bei Trommelfeuer. Die Rettungsorganisationen des Roten Kreuzes oder die Bergrettungsmannschaften, die sie in der Schweiz haben, wissen, daß die einzige Möglichkeit ist, so schnell wie möglich Leute von außen ins Katastrophengebiet zu befördern.«

»Aber Favels Leute kommen nicht von draußen«, entgegnete Dawson. »Sie haben dasselbe durchgemacht – und dazu einen Krieg ausgefochten.«

»Katastrophenschock wirkt sich bei disziplinierten Gruppen mit dem Rückgrat einer vorhandenen Organisation nicht so aus, aber er trifft zivile Bevölkerungen schwer. Favels Leute können eine Menge helfen.«

Sie fuhren über die zweite Brücke. Diese war eine alte Steinbrücke, die so widerstandsfähig war wie der Fels, aus dem sie gebaut war.

Dann, einige Kilometer weiter, gerieten sie in Wasser. Zuerst war es nur ganz wenig, aber dann vertiefte es sich auf fünfzehn Zentimeter, und die Steuerung machte Schwierigkeiten. Wyatt fluchte. »Favel hat mir gesagt, diese verdammte Straße sei nicht überflutet.«

Das Wasser kam über den offenen Hang herunter und lief quer über die Straße. Der Wind peitschte die Oberfläche des Wassers und blies einen feinen Sprühregen davon. Wyatt fuhr langsam und kam an die letzte Brücke, an der die gewohnte Gruppe von Soldaten stand. »Was ist passiert?« fragte er.

Ein Sergeant drehte sich um und zeigte nach oben. »Blanc, es hat einen Erdrutsch in der Schlucht gegeben.«

»Wie ist die Brücke?«

Der Soldat schüttelte den Kopf. »Sie können nicht hinüber.«

»Das wäre verdammt gelacht«, sagte Wyatt und legte den Gang ein. »Ich fahre drüber.«

»He!« sagte Dawson. »Die macht wirklich keinen guten Eindruck.« Es war eine hölzerne Balkenbrücke, und sie schien entschieden wacklig zu sein. »Das Ding hat sich bewegt – sie ist seitlich verschoben.«

Wyatt fuhr vor und hielt kurz vor der Brücke. Das ganze Balkengerüst hing über, und die Fahrbahn war deutlich geneigt. Er steckte den Kopf zum Fenster hinaus und spähte nach den Pfeilern unten in der Schlucht. Er sah rohes Holz, wo Balken durchgebrochen waren. Der Wind blies ihm die Haare ins Gesicht, und er zog den Kopf ein und warf Dawson einen Blick zu. »Sollen wir es riskieren?«

»Warum lassen wir nicht den Wagen hier?« fragte Dawson. »Sie sagten doch, es ist nicht mehr weit bis zum Kamm.«

»Wir brauchen ihn vielleicht auf der anderen Seite. Ich werde ihn hinüberfahren – steigen Sie aus und gehen Sie zu Fuß hinüber!«

»Ach, Quatsch!« sagte Dawson. »Fahren Sie los!«

Der Landrover kroch langsam auf die Brücke und neigte sich im gleichen Winkel wie die Fahrbahn. Es gab ein böses und langgezogenes Quietschen von irgendwo unter der Brücke, und dann plötzlich ein Krachen, und die ganze Brücke wackelte. Wyatt fuhr genauso langsam weiter, obwohl die Neigung sich deutlich verschlimmert hatte. Er atmete erleichtert auf, als die Vorderräder den festen Grund erreichten, und erlaubte sich, etwas stärker auf das Gaspedal zu drücken. Der Landrover machte einen Satz, und hinter ihnen hörten sie das Krachen von brechendem Holz. Wyatt gab erschrocken Gas. Er spürte, wie die Hinterräder erst leer durchdrehten, und dann jagten sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf der Straße dahin. Dawson sah sich um und sah die Lücke, wo die Brücke gewesen war, und er hörte das Krachen und Brechen unten in der Schlucht. Es standen Schweißperlen auf seiner Stirn, als er sagte: »Favel wird darüber nicht froh sein – Sie haben eine Brücke entzweigemacht.«

»Sie wäre sowieso nicht stehengeblieben«, sagte Wyatt. Sein Gesicht war blaß. »Wir haben es jetzt nicht mehr weit.«

***

Als der Wind nach dieser unglaublichen Stille wieder stärker wurde, sagte Julie gleichmütig: »Sie hatten recht – er kommt wieder.«

»Ja, leider«, sagte Rawsthorne. »Schade.«

Sie verzog das Gesicht. »Gerade wenn ich endlich trocken bin. Jetzt müssen wir wieder unter dem verdammten Wasserfall sitzen.«

»Es ist besser als in der Schlucht«, sagte Rawsthorne müde. »Wir haben wenigstens mehr Schutz als die Leute dort unten.«

Es war so still gewesen während der Pause, daß sie ganz deutlich Stimmengemurmel von der Menschenmenge unten hören konnten. Manchmal war es mehr als ein Murmeln gewesen; als der Wind sich legte, hörten sie eine Frau aus vollem Hals schreien, in langen, klagenden Tönen. Sie hatte lange geschrien und war dann plötzlich still geworden. Julie hatte Rawsthorne angesehen, aber keiner hatte etwas gesagt.

Sie hatte erwartet, die Leute würden den Berg heraufkommen, da die Flut doch das Tal unpassierbar gemacht hatte, aber nichts dergleichen war geschehen. »Sie sind Westinder«, sagte Rawsthorne. »Sie kennen Hurrikane – sie wissen, daß er noch nicht vorbei ist.«

»Ich möchte wissen, wie der Krieg steht«, sagte Julie.

»Der Krieg!« Rawsthorne stieß ein kurzes Lachen aus. »Es dürfte wohl keinen Krieg mehr geben. Hat Wyatt Ihnen erzählt, was bei einem Hurrikan aus St. Pierre würde?«

»Er sagte, es würde eine Flut geben.«

»Wir Engländer haben eine fatale Begabung für Untertreibungen. Wenn die beiden Armeen in St. Pierre kämpften, als der Hurrikan kam, dann gibt es keine Armeen mehr. Keine Regierungsarmee – keine Rebellenarmee; die vollkommene Lösung des Konflikts. Es könnten natürlich noch einige Reste vorhanden sein; versprengt und unbrauchbar und nicht einsatzfähig, aber der Krieg ist aus.«

Julie sah durch blattloses Geäst zum grauen Himmel hinauf. Sie hoffte, daß Wyatt aus der Stadt herausgekommen war. Vielleicht war er irgendwo dort unten – an den Hängen des Negrito-Tals. Sie fragte: »Was ist wohl aus dem Stützpunkt geworden?«

Rawsthorne schüttelte den Kopf. »Dasselbe«, sagte er. »Wyatt schätzte, daß die große Flutwelle den Stützpunkt vollkommen überfluten würde.« Er versuchte, sie aufzuheitern. »Commodore Brooks könnte es sich aber überlegt und den Stützpunkt doch noch geräumt haben. Er ist ja kein Trottel.«

»Dave versuchte ihn zu überreden, aber er hörte nicht auf ihn. Er konnte an dem dummen Schelling nicht vorbeikommen. Ich glaube nicht, daß er evakuiert haben würde; er ist zu steif nackig – ein richtiger Mariner mit seinem ›Pfeif auf Torpedos!‹ und ›Pfeif auf Hurrikane!‹«

»Ich hatte nicht diesen Eindruck von Brooks«, sagte Rawsthorne ruhig. »Und ich kannte ihn sehr gut. Er hatte eine sehr schwierige Entscheidung zu treffen, und ich bin sicher, daß er die richtige traf.«

Julie sah zu dem hohen Baum am Rand der Schlucht und bemerkte, wie die obersten Äste vom Wind umgebogen wurden. Es würde bald Zeit sein, ihren Unterschlupf wieder aufzusuchen. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, sich um Wyatt zu sorgen – sie konnte nichts für ihn tun –, und da war jemand viel näher bei ihr, der ihr Sorgen machte.

Rawsthorne sah sehr krank aus. Sein Atem ging schlecht, und das Sprechen schien ihn anzustrengen. Die Röte war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem schmutzigen Pergament Platz gemacht, und seine Augen wirkten nur noch wie dunkle Löcher in seinem Kopf. Er konnte sich auch nicht mehr gut bewegen; seine Bewegungen waren langsam und unsicher, und seine Hände zitterten. Für die nächsten Stunden wieder bis auf die Haut durchnäßt zu sein war das Schlimmste, was ihm passieren konnte.

Sie fragte noch einmal: »Wäre es nicht klüger hinunterzugehen?«

»Es gibt dort keinen besseren Schutz, als wir hier haben. Die Schlucht bietet uns vollkommenen Schutz gegen den Wind.«

»Aber das Wasser …«

Er lächelte milde. »Meine Liebe, wir würden anderswo genauso naß werden.« Er schloß die Augen. »Sie machen sich Sorgen um mich, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich«, sagte Julie. »Sie sehen nicht besonders gut aus.«

»Ich fühle mich auch nicht besonders gut«, gab er zu. »Es ist ein altes Leiden, das ich schon überwunden glaubte. Gewiß, mein Arzt hatte mir gesagt, ich sollte mich nicht überanstrengen, aber er hatte wohl nicht mit Kriegen und Hurrikanen gerechnet.«

»Es ist Ihr Herz, nicht wahr?«

Er nickte. »Über diese Berge rennen ist gut und schön für jüngere Männer. Sorgen Sie sich nicht, meine Liebe; Sie können nichts daran ändern. Ich will ganz bestimmt nicht mehr weiterrennen. Ich werde still unter diesem Wasserfall sitzen und warten, bis der Wind aufhört.« Er öffnete die Augen und sah sie an. »Sie haben eine große Liebesfähigkeit, Kind. Wyatt ist sehr glücklich zu schätzen.«

Sie errötete und sagte dann leise: »Ich weiß nicht, ob ich ihn je wiedersehen werde.«

»Wyatt ist ein sehr hartnäckiger Mensch«, sagte Rawsthorne. »Wenn er ein Ziel vor Augen hat, wird er sich nicht umbringen lassen – das würde seine Pläne durchkreuzen. Er war sehr um Sie besorgt, wissen Sie, an dem Abend, als die Kämpfe begannen. Ich weiß nicht, was ihn mehr beschäftigte, der Hurrikan oder Ihre Sicherheit.« Er tätschelte ihre Hand, und sie spürte das Zittern seiner Finger. »Er wird nach Ihnen suchen.«

Der Wind riß an den entlaubten Bäumen und trocknete die Tränen, die ihr plötzlich über die Wangen liefen. Sie schluckte schwer und sagte: »Ich glaube, wir sollten jetzt wieder in unser Loch kriechen; der Wind wird stärker.«

Rawsthorne blickte hoch. »Ich nehme an, wir müssen gehen. Es wird nicht angenehm sein hier draußen, wenn der Wind wirklich loslegt.« Er erhob sich mühsam, mit beinahe hörbarem Knirschen der Gelenke, und seine Schritte waren unsicher. Er hielt einen Augenblick an und sagte: »Auf ein paar Minuten wird es nicht ankommen. Ich habe wirklich nicht viel Verlangen nach dem Wasserfall.«

Sie gingen bis zum Rand der Schlucht und sahen hinunter. Das Wasser strömte immer noch über den großen Felsen, obwohl vielleicht nicht mehr ganz so stark. Rawsthorne seufzte. »Es ist kein bequemes Lager für alte Knochen wie meine.« Der Wind zauste sein spärliches Haar.

»Ich glaube, wir sollten hinuntersteigen«, sagte Julie.

»Noch ein Weilchen, meine Liebe.« Rawsthorne drehte sich um und sah über den vom Wind gepeitschten Berghang. »Ich meinte, ich hörte Stimmen in der Nähe – von dort oben.« Er zeigte zum Kamm in der Richtung von St. Pierre.

»Ich habe nichts gehört«, sagte Julie.

Der Wind nahm weiter zu und sang unangenehm in den Ästen der Bäume. »Vielleicht war es nur der Wind«, sagte Rawsthorne. Er lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Haben Sie gehört, was ich eben sagte? Nur der Wind! Recht albern, so etwas in einem Hurrikan zu sagen, meinen Sie nicht? Schön, meine Liebe; wir wollen jetzt hinuntergehen. Der Wind wird nun wirklich stark.« Er ging zu dem hohen Baum hinüber und lehnte sich dagegen, während er an der Kante Halt für seine Füße suchte. Julie kam heran. »Ich werde Ihnen helfen.«

»Es geht schon.« Er ließ sich über die Kante hinunter und begann mit dem Abstieg, und Julie stand bereit, ihm zu folgen. Da kam ein Heulen wie das Geräusch eines Schnellzuges, als eine Bö über sie wegfegte, und von dem Baum kam ein ominöses Knarren.

Julie drehte sich um und sah hinauf. »Aufpassen!« schrie sie.

Der Baum war nicht fest verwurzelt; das vorbeirauschende Wasser hatte das Wurzelwerk unterspült, und es war dem plötzlichen Winddruck nicht gewachsen. Der Baum neigte sich, die Wurzeln rissen aus der Steilwand heraus, und der Stamm stürzte direkt auf Rawsthorne zu.

Julie stürzte vor und stieß ihn weg. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte und fiel hinunter zwischen die Steinblöcke. Der Baum drehte sich im Fallen, und Julie erhielt von einem Ast einen schweren Schlag an den Kopf. Sie taumelte zurück, und der Baum fiel auf sie und zerschmetterte ihre Beine. Die Welt drehte sich um sie, alles war Chaos und Schmerz, und es gab ein Krachen und Brechen von Ästen beim Aufschlag auf den Boden. Dann verblaßten alle Geräusche, sogar das Heulen des Sturmes. Es wurde still um sie und grau und schließlich vollkommen schwarz.

Zuerst wußte Rawsthorne nicht, was los war. Er hörte Julies Schrei und fühlte sich dann in den Abgrund gestoßen. Er war völlig außer Atem von seinem Sturz und lag eine Weile und rang nach Luft. Er spürte eine Beklemmung in der Brust, ein alter Feind, der nichts Gutes verhieß, und er wußte, daß er sich nicht viel bewegen dürfte, sonst würde sein Herz nicht mitmachen. Aber nach einer Weile, als er wieder leichter atmete, setzte er sich auf und blickte nach dem Gewirr von Ästen am Rand der Schlucht.

»Julie!« rief er. »Wo stecken Sie?«

Seine Stimme klang erbärmlich dünn und verlor sich in dem Sturmgeheul. Er rief wieder und wieder, bekam aber keine Antwort. Er sah verzweifelt den Steilhang hinauf. Er mußte sich zwingen hinaufzuklettern, aber er bezweifelte, ob es ihm gelingen würde. Langsam begann er zu klettern. Er setzte seine Kräfte sparsam ein und ruhte sich oft aus, wenn er einen festen Halt für seine Füße fand.

Er kam fast bis nach oben.

Als er seine Hand nach einem festen Felszacken am Rand der Schlucht ausstreckte, schrie er vor Schmerz auf. Er hatte das Gefühl, als hätte ein böser Feind ein glühendheißes Schwert in seine Brust gestoßen, und sein Herz schien sich auszudehnen und zerspringen zu wollen. Er schrie noch einmal auf und stürzte zurück in die Schlucht. Dort blieb er liegen, und das vorbeirauschende Wasser zerrte an seinem Haar.