5. Kapitel

Ich ging die Fleet Street runter und suchte nach Michael English. Das war der Journalist, der den Report über Peter Billson verbrochen hatte. Die Redaktion hatte gemeint, er säße wahrscheinlich im Presseklub. Im Presseklub hieß es, ich sollte es mal im El Vino versuchen. In einem Pub in der Nähe vom Strand fand ich ihn dann.

Er war groß, schlaksig, blond und mißfiel mir auf den ersten Blick. Aber meine Sympathien waren da wohl durch den Billson-Artikel getrübt. Er zockte mit ein paar anderen Journalisten und sah mich zweifelsträchtig an, als ich ihm meine Visitenkarte vor die Nase hielt.

»Ein Sicherheitsdienst!« sagte er. Ein bißchen nervös war er schon. Ich gab ein verbindliches Lächeln von mir. »Ich möchte mich einmal mit Ihnen über Billson unterhalten.«

»Der kleine Schelm! Was hetzt der denn jetzt Sie auf mich?« Besorgnis umwaberte ihn wie Londoner Nebel.

»Sie sind ihm kürzlich begegnet?«

»Und ob! Er kam in die Redaktion und hat einen Riesenwirbel veranstaltet. Und mit Prozessen gedroht.« English lachte schnaubend, aber unfroh. »Unser Anwalt hat ihn natürlich elegant abgeschmettert.«

Ich gab mich begriffsstutzig. »Es überrascht mich, daß er Sie behelligt haben sollte. Wenn die Fakten in Ihrem Report stimmen, riskiert er doch ein paar Jahre Zuchthaus. Allerdings dürfte ihn sein weißes Haar wohl heute davor bewahren, nehme ich an.«

English blickte überrascht. »Doch nicht der Alte! Jemand, der sich als Sohn ausgab – der sich Paul Billson nannte. Hat eine ziemliche Show abgezogen.«

Ich sah mich um und entdeckte einen unbesetzten Ecktisch. »Ich möchte mal mit Ihnen über alles reden. Da drüben ist es einigermaßen ruhig. Was trinken Sie?«

Erst zögerte er, dann zuckte er die Achseln. »Von mir aus. Ich nehm einen doppelten Scotch.«

Ich bestellte, und er sagte: »Ich nehme an, Sie ermitteln im Auftrag der Versicherungsgesellschaft.« Ich gab ein mehrdeutiges Murmeln von mir, um ihm seinen Glauben zu lassen, und er fuhr fort: »Ich dachte, die hätten den Fall längst zu den Akten gelegt. Tritt da nicht Verjährung ein oder so was Ähnliches?«

Ich sah ihm zu, wie er sich unaufmerksam Wasser ins Glas goß, und lächelte rätselhaft.

»Der Fall ist noch nicht abgeschlossen«, sagte ich.

Am Tag nach dem Erscheinen des Berichts war English zum Chefredakteur gerufen worden – einen Tag, bevor Billson verschwand.

Der Chefredakteur versuchte eben, mit einem zornbebenden Besucher fertig zu werden, der zusammenhanglose Drohungen ausstieß. Chefredakteur Graydon erklärte laut: »Hier kommt Mr. English, der den Artikel verfaßt hat. Setz dich, Mike. Wir wollen versuchen, die Sache ins reine zu bringen.«

Er knipste die Sprechanlage ein: »Bitten Sie Mr. Harcourt zu mir.«

English sah Ärger auf sich zukommen. Harcourt war der Hausanwalt des Verlages, und wenn der gebraucht wurde, konnte das nichts Gutes bedeuten. Er räusperte sich und sagte: »Um was geht's denn?«

Graydon erläuterte: »Das ist Mr. Billson. Anlaß seines Besuches scheint die Story über seinen Vater in der gestrigen Nummer zu sein.«

English schaute sich Billson an. Er sah einen reichlich unscheinbaren Mann, der augenblicklich stark erregt war: das Gesicht kreideweiß, dumpfrote Flecken auf den Wangen. Billson verkündete mit überkippender Stimme: »Glatte Verleumdung ist das! Ich bestehe auf einer Gegendarstellung und einer öffentlichen Entschuldigung!«

Graydon versuchte, ihn zu beschwichtigen. »Ich bin überzeugt, daß Mike die Wahrheit so geschrieben hat, wie er sie sieht. Was sagst du dazu, Mike?«

»Natürlich. Genau. Alle Fakten sind anhand der Gerichtsakten und der Pressedokumentation von damals überprüft worden.«

»Ich beschwere mich nicht wegen der Fakten«, sagte Billson. »Aber diese verdammten Anspielungen! Ich habe in meinem Leben noch nie so etwas Mieses gelesen. Wenn Sie mir die öffentliche Entschuldigung verweigern, gehe ich vor Gericht!« Graydon warf English einen Blick zu, dann sprach er begütigend: »Aber so weit wollen wir es doch nicht kommen lassen, Mr. Billson. Unter erwachsenen Menschen müßte sich doch ein allseits befriedigendes Einvernehmen herstellen lassen.« Er blickte auf, da Harcourt die Chefredaktion betrat, und stellte mit einem Seufzer der Erleichterung fest: »Sehen Sie, sogar Mr. Harcourt, der Leiter unserer Rechtsabteilung, will sich der Sache annehmen.«

Graydon umriß knapp den Sachverhalt, und Harcourt bat sich erst einmal ein Exemplar der Wochenendbeilage aus, mit welcher er sich dann zum Lesen hinsetzte. Ein unbehagliches Schweigen breitete sich im Raum aus, dieweil der Anwalt das umfängliche Druckwerk studierte. Graydon klopfte unruhig mit den Fingern auf sein Knie. English saß ganz still und hoffte sehr, daß niemand den Schweiß auf seiner Stirn bemerkte. Und Billson rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während seine innere Spannung wuchs.

Nach scheinbar endlosen Minuten legte Harcourt schließlich die Zeitungsseiten nieder. »Worüber beklagen Sie sich eigentlich, Mr. Billson?«

»Das ist doch wohl klar genug! Mein Vater ist beleidigt worden, und ich verlange auf der Stelle eine Entschuldigung, oder ich verklage Sie!« Er richtete einen drohenden Finger auf English. »Ich verklage ihn und die ganze Zeitung!«

»Ich verstehe«, sagte Harcourt bedächtig. Er beugte sich vor. »Was ist denn Ihrer Meinung nach Ihrem Vater tatsächlich zugestoßen?«

»Er ist mit dem Flugzeug abgestürzt!« schrie Billson. »Und dabei ist er umgekommen, das ist meine feste Überzeugung.« Er schlug mit der Hand auf die Zeitung. »Das hier ist reine Verleumdung!«

»Ich fürchte, da werden Sie wohl nicht klagen können«, sagte Harcourt. »Klagen können Sie nur, wenn es um Ihren eigenen Ruf geht. Sehen Sie, es ist so: Aufgrund feststehender Rechtsgrundsätze gibt es keine Verleumdung von Verstorbenen.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann meinte Billson ungläubig: »Aber dieser Mensch hat doch geschrieben, daß mein Vater nicht tot ist.«

»Aber Sie halten ihn für tot, und Sie wollen ja klagen. So geht es einfach nicht, Mr. Billson. Und wenn Sie mir nicht glauben, was natürlich Ihr gutes Recht ist, empfehle ich Ihnen, sich mit Ihrem eigenen Anwalt zu beraten. Ich lege Ihnen das sogar in Ihrem eigenen Interesse dringend nahe.«

»Wollen Sie mir ernsthaft weismachen, daß jeder billige Schreiberling den Namen meines Vaters ungestraft durch den Dreck ziehen darf?« Billson schäumte vor Wut.

Harcourt sprach mahnend: »Mäßigen Sie sich, Mr. Billson. Sonst dreht sich der Spieß um. Mit dergleichen unkontrollierten Äußerungen gerät man leicht in Schwierigkeiten.«

Billson warf seinen Stuhl um, als er aufsprang. »Und ob ich mir juristischen Beistand hole!« schrie er und starrte English an. »Ihnen werde ich's zeigen, Sie verdammter Kerl!«

Dann knallte er die Tür hinter sich zu.

Harcourt griff nach der Zeitung und blätterte Englishs Artikel auf. Er vermied es, English direkt anzusehen und sprach Graydon an: »Ich schlage vor, in Zukunft bei Veröffentlichungen ähnlicher Art die Empfehlungen der juristischen Abteilung vor der Drucklegung einzuholen und nicht danach.«

»Sind wir aus dem Schneider?« fragte Graydon.

»Rein rechtlich schon«, sagte Harcourt. Dann, angewidert, fügte er hinzu: »Zum moralischen Aspekt steht mir natürlich kein Urteil zu. Sollte die Witwe klagen, sieht es freilich anders aus. Hier ist unmißverständlich dargelegt, daß sie sich bei einem Versicherungsbetrug zum Komplizen ihres Mannes gemacht habe. Denn wie anders hätte Billson sich in den Genuß der Versicherungssumme setzen sollen?«

Graydon nahm sich English vor: »Was ist mit der Witwe?«

»Kein Problem. Die ist vor gut einem Jahr gestorben. Im Krieg hatte sie einen Norweger geheiratet, seitdem hieß sie Aarvik. Auf die Idee, eine Story über Billson zu schreiben, kam ich übrigens, als ich von Helen Billsons Tod las.«

Harcourt schnaubte und ging, und Graydon grinste English an. »Das war ziemlich knapp, Mike.« Er nahm einen Bleistift zur Hand. »Und sei so nett, Mike, bevor du gehst – stell den Stuhl wieder auf.«

Ich gab noch einen aus für English. »Paul Billson hatte also überhaupt keine Chance?«

English lachte: »Nicht die geringste. Seinen Ruf habe ich ja nicht angegriffen. Menschenskind, ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, daß der Kerl existiert.«

»Paul Billson interessiert mich eigentlich weniger«, sagte ich. »Glauben Sie wirklich, daß Peter Billson seinen Tod inszenierte, um die Versicherung zu bescheißen?«

»Schon möglich«, sagte English. »Jedenfalls gibt's so 'ne prima Story.«

»Aber glauben Sie selbst es auch?«

»Spielt das eine Rolle, was ich glaube?« English nahm einen Schluck. »Natürlich glaube ich's nicht. Ich glaube schon, daß Billson drauf gegangen ist.«

»Sie fühlten sich also ziemlich sicher bei der Aufforderung an Peter Billson, wieder in Erscheinung zu treten?«

»Ich wette immer gern auf sichere Pferde«, grinste er. »Wenn er wirklich die Versicherung aufs Kreuz gelegt hat, dürfte er wohl kaum auf den Köder hereinfallen, oder? Ich befand mich auf sicherem Boden – bis sein Sohn wie der Kasperl aus der Kiste auftauchte.«

Ich sagte: »Was nun die Versicherung angeht – hunderttausend Pfund ist ja eine Menge Zeug. Die Prämie muß verteufelt hoch gewesen sein.«

»Gar nicht mal. Die Flugzeuge von 1936 waren längst nicht mehr die mit Stricken und Schreinerleim zusammengestöpselten Eigenbaukisten der zwanziger Jahre. Die Fachleute zweifelten kaum mehr, daß jedes Flugzeug sein Ziel erreichen konnte. Die Frage war nur noch: wie schnell. Und es war die Zeit der Zeitungskriege. Die Tageszeitungen gingen damals fast mit Messern aufeinander los, um sich gegenseitig die Leser wegzuschnappen. Eine Versicherungsprämie war lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein, verglichen mit allem, was sonst im Konkurrenzkampf aus dem Fenster geworfen wurde. Aber eine Zahl wie hunderttausend Pfund ist immer gut für eine Schlagzeile.«

»Hatte Billson eigentlich bei dem Wettflug eine Chance?«

»Aber klar. Er war der heiße Favorit. Die ›Luftikus‹, also die Northorp, die er flog, war eine der besten Maschinen ihrer Zeit. Und ein Klassepilot war er auch.«

»Wer hat denn die Rallye gewonnen?«

»Ein Deutscher namens Helmut Steiner. Ich glaube, Billson hätte siegen können, wenn er am Leben geblieben wäre. Steiner wurde nur erster, weil er jedes Risiko auf sich nahm.«

»Was für Risiken?«

English zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Zeit – so alt bin ich ja nicht –, aber ich habe eine Menge darüber gelesen. Es war die Nazizeit, in Berlin lief die Olympiade, und die Herrenrasse war versessen darauf, sich auf allen Gebieten zu beweisen. Deutsche Rennwagen siegten auf allen Pisten, weil ›Auto-Union‹ Staatszuschüsse kassierte, und deutsche Bergsteiger kraxelten wie die Idioten auf jeden Alpengipfel. Ich glaube, genau um diese Zeit purzelten auch ein paar die Eiger Nordwand runter – das bewies zwar nicht, daß sie gute Kletterer waren, aber immerhin, daß sie gute Nazis waren. Deutschland war nun einmal wild entschlossen, jeden bei allem zu schlagen, egal, um welchen Preis.«

»Und Steiner?«

»Natürlich auch vom Hitler-Regime finanziell unterstützt. Seine Maschine war ein abgerüsteter Luftwaffenjäger, sein Mechanikerteam die beste Mannschaft in der Branche, von der Luftwaffe abgestellt. Sicher, er war ein prima Flieger, kein Zweifel, aber wahrscheinlich wußte auch er, daß Billson einfach besser war. Also stürzte er sich auf Teufelkommraus in jedes Risiko – und kam damit durch. Er beanspruchte seine Maschine bis zum Gehtnichtmehr, und bei der Landung in Kapstadt flog sie ihm auch prompt um die Ohren. Hat Schwein gehabt, daß ihm das nicht schon früher passiert ist.«

Das war etwas zum Nachdenken. »Sabotage?«

Englisch starrte mich an. »Auf die Idee ist noch keiner gekommen. Das ist ja ein dicker Hund!«

»Und?«

»Mein Gott, was Versicherungen sich alles einfallen lassen, um an anderer Leute Geld zu kommen! Was wollen Sie denn machen, wenn es wirklich Sabotage war? Die deutsche Regierung auf hunderttausend Pfund verklagen? Ob Bonn darauf reinfällt? Also, ich weiß nicht …« Er zuckte die Achseln. »Billsons Maschine ist nie gefunden worden. Da sehe ich wenig Hoffnung für Sie.«

Ich leerte mein Glas. Viel war jetzt wohl aus English nicht mehr herauszuholen, also schliff ich eine scharfe Klinge, um ihm noch eins überzubraten. »Sie glauben also fest, daß Billson Ihnen nicht mehr in die Quere kommen kann?«

»Keine Chance«, lachte er. »Harcourt mag ja ganz fromm und salbungsvoll sein, aber den Billson hat er sauber zusammengeknotet und als Muster-ohne-Wert-Paket heimgeschickt. Tote kann man eben nicht verleumden. Und Billson schwört auf den Tod seines Vaters.«

Ich lächelte milde. »Es gab mal einen Mann namens Wright, der schrieb ein paar schlimme Sachen über einen gewissen William Ewart Gladstone, wobei er durchblicken ließ, daß dieser ein arger Philister sei, vor allem im Sexuellen. Das war 1927, und Gladstone war schon lange tot. Aber sein Sohn, der damalige Lord Gladstone, nahm nicht nur Anstoß, sondern auch einen guten Anwalt. Wie Paul Billson heute, wurde auch ihm damals gesagt, Tote könnten nicht verleumdet werden, aber trotzdem nagelte er diesen Wright an die Wand.«

English bedachte mich mit einem Blick aus feuchten Augen. »Aber wieso denn?«

»Er verleumdete Wright bei jeder Gelegenheit. Er nannte Wright einen Lügner, einen Trottel und eine Memme – immer in aller Öffentlichkeit. Er sorgte sogar dafür, daß Wright aus seinem Klub gefeuert wurde. Schließlich mußte Wright, um seinen eigenen Ruf zu schützen, Gladstone vor Gericht zitieren. Gladstone ließ Norman Birkett für sich auftreten, der ein phantastischer Anwalt war, und Birkett machte Wright dann im Gerichtssaal zur Minna. Als der Fall erledigt war, war auch Wright erledigt; sein beruflicher Leumund war restlos am Boden zerstört.« Und jetzt setzte ich das Messer an: »So könnte es Ihnen auch ergehen.«

English winkte ab. »Billson schafft das nicht. Das ist einfach nicht der Typ dafür.«

»Er könnte es schon schaffen«, sagte ich. »Es muß ihm nur jemand helfen.« Und jetzt drehte ich das Messer noch einmal herum: »Mir zum Beispiel würde es ein Vergnügen sein, als Zeuge für Billson aufzutreten und zu beschwören, Sie hätten mir selbst erzählt, daß Sie Billsons Vater für tot halten – im Gegensatz zu den Behauptungen in Ihrem kleinen Schmutzartikel.«

Ich stand auf und ließ ihn sitzen. An der Tür des Pubs blieb ich stehen und schaute noch einmal zurück. Er saß in der Ecke und sah aus, als hätte ihn einer in den Bauch getreten.