36. Kapitel
David kämpfte sich durch einen kalten, grauen Nebelvorhang, der ihn einhüllte. Er konnte nichts sehen, konnte sich nicht rühren, konnte auch nichts fühlen, außer der eiskalten Feuchtigkeit, die in alle seine Poren drang und ihn bis auf die Knochen erzittern ließ.
Immerhin konnte er wenigstens etwas hören. Weit entfernt in der grauen Finsternis, die ihn umgab, konnte er gedämpfte Stimmen vernehmen. Man sprach über etwas Wichtiges, man sprach über ihn, etwas von eminenter Wichtigkeit.
Doch es war einfach zu kalt. Schlafen, sagte David zu sich. Schlaf! Vergiß alles andere und gönne dir Schlaf! Du hast es verdient zu ruhen, du hast dir diesen herrlichen Schlaf verdient. Du brauchst diesen Schlaf nach all dem, was du durchgemacht hast.
Nach all dem, was du durchgemacht hast. Der Gedanke hallte in ihm wider. Es war etwas dran an dem, was ihm die innere Stimme sagte. Es ging um Leben oder Tod – um Davids Leben oder Tod.
Er erschauerte und stöhnte. Mit jeder Faser seines Willens versuchte er, den Nebel zu durchdringen, der alles um ihn einhüllte. Nichts. Er war immer noch blind und hilflos. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und über die Beine. Er spürte seine Finger, diese Finger, die etwas Weiches und doch Festes umklammerten.
David merkte allmählich, daß er sich auf einer Art Liegesitz befand, der so weit gesenkt worden war, daß er schon fast einer Liege glich. Und der Schauer, den er gespürt hatte, entpuppte sich als eine Art Schwingung von jener zwerchfellerschütternden Art, die vom Donner einer startenden Rakete erzeugt wurde.
Wir befinden uns in einer Raumfähre, wurde ihm plötzlich klar. Wir starten nach Eiland Eins.
Er fror immer noch erbärmlich und konnte nichts sehen. Dennoch wurden die massiven Drogen, die man in seinen Kreislauf gepumpt hatte, allmählich abgebaut. Sein Körper erholte sich schneller, als es seine Entführer für möglich gehalten hätten.
David bewegte keinen Muskel. Er hielt die Augen geschlossen. Doch sein Tastsinn verriet ihm, was er wissen wollte. Der Sicherheitsgurt einer Raumfähre spannte sich fest über seine Brust. Seine Handgelenke waren an den Armlehnen festgebunden. Man hatte ihm einen Stoffsack über den Kopf gezogen, er konnte den Stoff an Nase, Kinn und Ohren spüren. Sein Atem, der durch den Stoff drang, roch nach Schweiß.
Es ist mein eigener Schweiß, dachte er. Ich bin in Schweiß gebadet. Ich bin drauf und dran, die Drogen zu überwinden, indem ich sie ausschwitze.
Das Donnern und die Schwingungen verebbten. David spürte sein Gewicht dahinschwinden, und das Gefühl des Schwebens und Fallens der Schwerelosigkeit kam über ihn. Sein leerer Magen begann zu rebellieren, doch durch eine plötzliche Willensanstrengung gelang es ihm, dieses Gefühls Herr zu werden. Er entspannte sich und verlegte sich aufs Horchen.
Jetzt konnte er verstehen, was gesprochen wurde, und konnte die einzelnen Stimmen auseinanderhalten.
»Es ist unsinnig, ihn am Leben zu erhalten«, sagte Hamud mit gedämpfter Stimme. »Er wird uns zur Last, sobald wir auf Eiland Eins sind.«
Dann war die röhrende Stimme Leos zu hören, als er sagte: »Scheherazade meint, wir könnten ihn dort oben brauchen.«
»Wir haben alle Informationen, die wir brauchen und die wir von ihm bekommen konnten.«
»Ich weiß nicht recht. Die Weltraumkolonie ist verdammt groß. Vielleicht kann er uns noch mehr sagen. Dinge, die wir ihn gar nicht gefragt haben.«
»Er weiß zu viel über Eiland Eins«, zischte Hamud. »Sobald er dorthin zurückkehrt, wird er gefährlich. Er wird versuchen zu fliehen und uns zu bekämpfen.«
David nickte vor sich hin. Ich bin schon dran.
»Schau«, sagte Leo unterdrückt. »Scheherazade sagt, daß wir den Burschen auf Eiland Eins brauchen. Also leg dich nicht mit ihr an!«
»Wenn du dich vor ihr fürchtest« – David hörte ein Rascheln, wie wenn jemand in seine Hosentasche greift, was Hamud wirklich getan hatte –, »so kann ich ihm noch eine Portion von diesem Stoff einjagen. Sie würde es nie erfahren. Dann würde er an einer Überdosis sterben, das ist alles.«
David konnte sich die Spritze lebhaft vorstellen. Er hatte sie oft genug gesehen, nachdem man ihn an diesem Stuhl in der Zelle festgeschnallt hatte.
»Ich fürchte mich vor niemandem«, meinte Leo. »Aber ihre Methode leuchtet mir eher ein als deine.«
»Sie liebt ihn«, grollte Hamud. »Sie ist eine Frau und denkt eher mit ihren Drüsen als mit ihrem Kopf.«
»So? Nun, ich benutze meinen Kopf zum Denken, und ich glaube, sie ist vernünftiger als du.«
»Ach was!«
David hörte das Klicken eines Sicherheitsgurtes, der gelöst wurde, dann spürte er, wie Hamuds Körper neben ihm emporschwebte, roch seinen Schweiß, seinen Atem. Er konnte den harten Kunststoff der Spritze in Hamuds Hand richtig fühlen.
Ein Keuchen, dann sagte Leo: »Laß ihn in Frieden, Mann, oder ich werde dir deinen verdammten Arm brechen!«
Hamuds hautnahe Gegenwart wich zurück. David konnte sich lebhaft vorstellen, wie Leos riesige Pranken Hamuds Arm fest umklammerten. Dann vernahm er das Geräusch berstenden Kunststoffs.
»Du siehst nicht besonders gut aus«, sagte Leo. »Hast du dich jemals bei Nullgravitation aufgehalten?«
»Nein.« Hamuds Stimme war wie dunkle Watte.
»Besser du bewegst deinen Arsch in irgendeinen Waschraum und schluckst ein paar Pillen. Du bist ziemlich grün um die Nase.«
Einige Augenblicke lang konnte David nichts hören. Aber er fühlte, wie Leos riesiger Leib über ihm schwebte.
»Danke«, sagte David.
»Bist du wach?«
»Ich habe alles mitbekommen. Vielen Dank.«
Leo kam näher und flüsterte: »Halt den Mund, Bleichgesicht! Ich habe dir keinen Gefallen getan.«
»Es ist schon das zweitemal, daß du mich hättest umbringen können, aber du hast es nicht getan.«
»Schit… Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Befehlen ist eine Sache, aber es selbst tun… nun, ich habe jedenfalls noch keinen umgebracht.«
David speicherte diesen Bruchteil von Information in seinem Gedächtnis. »Hast du bereits Nullgravitation erlebt?«
»Nur einmal, als ich noch Football spielte. Die haben damals die ganze Mannschaft zu einer Publicity-Veranstaltung nach Alpha geschickt. Nun sei aber schön still und laß sie glauben, daß du noch immer hinüber bist. Hamud hat dich genug gequält. Wenn er erfährt, daß du bei Bewußtsein bist, wird er dich bei der ersten Gelegenheit ins Land der Träume befördern.«
»Nochmals vielen Dank«, sagte David. Dann lehnte er sich zurück und ließ sich genußvoll in den Schlaf gleiten. Vorerst war er in Sicherheit. Und er hatte das Gefühl, von einem mächtigen Löwen beschützt zu werden.
Cyrus Cobb kratzte sich irritiert am Hals. Der vermaledeite Hemdkragen drohte ihn jeden Augenblick zu strangulieren. Und diese verdammten Diplomaten spielten ihre üblichen kindlichen Spiele, während die anderen herumstanden wie ein Haufen idiotischer Lanzenträger.
Der Präsident von Eiland Eins stand im Empfangsraum für Passagiere, einer kleinen Vorhalle, die nur wenige Menschen gleichzeitig fassen konnte. Jetzt aber war sie gerammelt voll mit Journalisten, Kamerateams, neugierigen Bürgern von Eiland Eins, Sicherheitsbeamten (mit und ohne Uniform), VIPs und einer Auswahl Bürokraten der Weltregierung und aus dem Stab von El Libertador.
Auch in der Halle hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Man konnte selbst die nackten zweckdienlichen Kunststoffwände und die Bodenfliesen nicht sehen. Der einzige freie Platz war der schmale rote Teppich, den einer dieser Burschen aus Messina mitgebracht hatte.
Cobb dachte kurz daran, wie gern er David bei sich gehabt hätte. Er ist nicht tot. Mittlerweile hätte man seine Leiche gefunden. Er war bis New York gekommen und ist bei den Kämpfen nicht getötet worden. Vielleicht war er heute dabei. Er muß wieder heimkehren. Das ganze Affentheater hier ist keinen Pfifferling wert, bis…
Der Empfänger, der an seiner Ohrmuschel befestigt war, klickte. »Sie haben die Sache geregelt, Chef. Boweto kommt als erster, als Vertreter der Weltregierung. Dann kommt El Libertador.«
»Wie haben sie sich geeinigt?« sagte Cobb ins Mikrofon, das unter seinem Kragen verborgen war.
Die Stimme in seinem Ohr kicherte. »Die Hauptverhandlungspartner haben eine Münze geworfen.«
»Sehr intelligent – nachdem sie uns eine halbe Stunde haben warten lassen.«
»Sie haben eine weniger primitive Einrichtung erwartet, Boß. Sie glaubten, es gäbe hier zwei Empfangshallen, so daß sie gleichzeitig auftreten könnten.«
»Sie hätten noch einmal nachfragen sollen. Wir haben ihnen mitgeteilt, daß wir durchaus in der Lage sind, zwei Raumfähren gleichzeitig zu empfangen. Aber keiner hat sich um diese gottverdammte Empfangshalle geschert, oder um die Luftschleuse.«
Gamal Al-Hazimi, der neben Cobb stand, verfolgte das Geplauder über sein eigenes Miniator-Radiofon, doch seine Gedanken waren ganz woanders. Zumindest ist Bahjat nach hier unterwegs.
Hatte sie aber wirklich Abstand von ihren unsinnigen revolutionären Ideen genommen? Sie sagt, all diese Gewalt ödet sie an. Will sie nicht dennoch hier irgendeine Guerillabewegung ins Leben rufen? Er mußte fast lachen. Nun gut, ihre kindliche Auflehnung mir gegenüber war nichts weiter als eine psychologische Reaktion. Jetzt will sie wieder bei mir sein, und ich glaube, sie wird allmählich erwachsen. Er legte die Stirn in Falten. Das wird unser nächster Streit sein. Ein Ehemann.
Zum hundertsten Male während der letzten halben Stunde wünschte Cobb, den Einflüsterungen seiner Mitarbeiter nicht nachgegeben und kein Festgewand angezogen zu haben. Dieses mistige Hemd mit dem hohen, steifen Kragen, der überall zwickte und zwackte, dieser konservative dunkle Anzug mit Schößen und Stiefeln anstatt seiner bequemen Slipper. Verfluchte Stammesriten! grollte er, barbarischer Klimbim!
Schließlich aber wurde die metallene Innenluke der Luftschleuse geöffnet. Die Menge atmete auf und drängte sich an die Sperre aus Samtschnüren, die den roten Teppich säumte. Recorder surrten und Kameras klickten.
Vier Soldaten der Weltarmee in Uniform marschierten auf, Zeremoniendegen an ihrer Seite und kleine, aber echte Laserpistolen im Gürtel. Sie stellten sich zu beiden Seiten der Luftschleuse auf. Dann traten vier Zivilisten durch die Luke, darunter zwei Frauen. Für Cobb sahen sie aus wie ›Blitzmädchen‹.
Endlich zwängte sich Kowie Boweto durch die Luke, mit breitem Lächeln für die Anwesenden und für die Kameras. Er trug einen beigen Anzug mit offenem Hemdkragen und ein goldenes Medaillon, das an einer schweren Kette über seiner breiten Brust baumelte. Die Menge applaudierte, als Boweto selbstsicher über den roten Teppich schritt und seine Hand ausstreckte, um Cobbs Hand zu ergreifen.
Cobb war überrascht darüber, wie kurz dieser Mann geraten war. Er selbst war zwar auch nicht sehr groß, er maß knapp einsachtzig, doch nun wurde er gewahr, daß man den neuen starken Mann der Weltregierung auf Bildern und selbst auf dem Bildschirm optisch vergrößert hatte, damit Boweto gewaltiger wirkte als er tatsächlich war. Haben alle Politiker den Napoleon-Komplex? dachte Cobb, während er Höflichkeitsfloskeln mit Boweto austauschte. Sollte das der Grund sein, warum sie Politiker werden?
Boweto baute sich neben Cobb auf, während sein Hofstaat Cobb die Hand drückte und ihre Runde bei Al-Hazimi und den anderen machte. Diese verfluchte Empfangszeremonie, dachte Cobb, die muß schon Kaiser Augustus erfunden haben.
Dann, nachdem sich die Menge etwas beruhigt hatte, wurde die Luke der Luftschleuse geschlossen. Cobb rechnete sich im Geist aus, wie lange es dauern würde, bis die Luke wieder aufging. Als er genau bis einhundertfünfzig gezählt hatte, schwang die Luke wieder auf, und vier Soldaten des El Libertador traten ein. Sie trugen einfache Khakiuniformen und flache automatische Pistolen in ölglänzenden Halftern.
Unmittelbar hinter ihnen erschien ein fünfter Mann in Khaki, ohne Rangabzeichen und Ordensbänder. Hätte Cobb keine Bilder von El Libertador gesehen, so hätte er wahrscheinlich nicht gewußt, daß dies der Mann war, jener Revolutionär, der der Weltregierung so viele Schwierigkeiten bereitet hatte.
Er war größer als Boweto, obwohl er ihn nicht um Haupteslänge überragte. Sein graumeliertes Haar und sein von grauen Fäden durchzogener Bart verliehen ihm einen Anflug von Würde. Er drückte Cobbs Hand freundlich und fest, mit einem warmen Lächeln.
»Colonel Villanova«, sagte Cobb.
»Dr. Cobb. Ich danke Ihnen für die Verantwortung, die Sie übernommen haben, Gastgeber dieses Treffens zu sein.«
»Die Freude ist ganz meinerseits. Ich will nur hoffen, daß dieses Treffen produktiv sein wird.« Cobb machte eine kleine Kehrtwendung. »Darf ich Sie mit Kowie Boweto bekannt machen, dem ehrenwerten Vorsitzenden des Rates der Weltregierung. Boweto, Colonel Cesar Villanova…« – und in Abweichung des Programms, das seine Leute vorbereitet hatten, setzte er hinzu – »in der Tat besser bekannt als El Libertador.«
Boweto mußte sich beherrschen, als er Villanovas infamen Beinamen hörte. Doch dann rang er sich ein Lächeln ab und ergriff Villanovas Hand, als die Kameras zur Großaufnahme aufzoomten.
»Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen«, sagte Boweto.
»Es ist mir eine Ehre, Sir«, erwiderte Villanova.
Cobb aber dachte: Jetzt haben sie genug Süßholz geraspelt, um uns für ein ganzes Jahrhundert zu verzuckern.
Irgend jemand klopfte ihm auf die Schulter. David war sofort hellwach, mußte einen Augenblick der Panik überwinden, weil er nichts sah, dann aber erinnerte er sich an den Sack über seinem Kopf.
»Geht’s dir gut?« Es war Evelyns Stimme.
Er aber holte tief Luft, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er, und das stimmte. Sein Kopf war klar. Die Schauer hatten sich gelegt, und ihm war auch nicht mehr kalt. Er bewegte Finger und Zehen und fand, daß alles in Ordnung war.
»Ich habe furchtbaren Hunger«, sagte er.
»Ich bring’ dir was.«
David spürte, wie sie sich von ihm entfernte. Das Shuttle schwebte immer noch schwerelos. Er konnte das leise Surren von Ventilatoren und sonstigen Servo-Geräten hören, aber keine Stimmen.
Evelyn kam zurück. »Ich habe etwas heiße Suppe in einem Druckballon und ein paar belegte Brote.«
»Wo sind wir?« fragte er.
»In einer privaten Raumfähre, eins von Al-Hazimis Raumfahrzeugen, und wir fliegen nach…«
»Eiland Eins, ich weiß. Ich meine aber… wo haben sie mich untergebracht?«
»Du befindest dich in der letzten Reihe des hinteren Passagierabteils. Alle anderen sind vorn und beraten über die Pläne zur Besetzung von Eiland Eins.«
»Ich habe ihnen wohl alles gesagt, was sie wissen wollten, nicht wahr?«
»Das ist anzunehmen. Man hat dich schwer unter Drogen gesetzt. Wir dachten, du würdest draufgehen.«
»Noch nicht«, sagte David. »Noch nicht.«
»Ich fürchte, man würde mir nicht erlauben, dir die Kapuze abzunehmen«, sagte Evelyn, »aber ich kann sie etwas hochschieben.«
Er spürte ihre Hände auf seinem Gesicht.
»So. Jetzt kann ich dich füttern. Die trauen mir wirklich nicht. Sie glauben, ich hätte dir geholfen, ins Labor einzubrechen.«
»Wie viele sind es denn?«
»An Bord dieser Fähre? Mit den Piloten zweiundfünfzig. Warum bist du nicht aus dem Labor getürmt, wenn du die Chance hattest?«
»Und zulassen, daß sie Eiland Eins nehmen? Nein. Ich hatte etwas anderes im Sinn.«
»Trotzdem werden sie Eiland Eins nehmen«, meinte Evelyn.
»Ahnt niemand in der Kolonie, daß diese Fähre ein Trojanisches Pferd ist?«
Er konnte fühlen, wie sie den Kopf schüttelte. »Der Himmel weiß, was dieses Scheherazade-Mädchen seinem Vater erzählt hat. Es ist der Scheich Al-Hazimi.«
»Ich weiß.«
»Ja. Das nehme ich an. Es scheint, als ob das ganze Al-Hazimi-Imperium von Guerillas unterwandert wäre, die alle für die RUV arbeiten. Sie hat den Leiter des Flughafens dazu gebracht, ihrem Vater mitzuteilen, sie würde nur zwei Leute mitbringen. Soweit der Scheich Bescheid weiß, ist dieses Schiff so gut wie leer. Es ist die Privatyacht seiner Tochter.«
»Er wird doch wohl nicht so naiv sein«, versetzte David. »Er muß doch irgend etwas ahnen.«
»Im Hinblick auf seine Tochter?« Evelyn verwarf den Gedanken. »Und wo ihn seine ganze Organisation belügt? Wie könnte er auch nur ahnen, daß sie für das Mädchen und nicht für ihn arbeitet?«
David dachte einen Augenblick lang nach. Dann fiel ihm etwas ein, und er fragte: »Wie verträgst du die Schwerelosigkeit? Macht sie dir immer noch zu schaffen?«
»Entsetzlich«, erwiderte sie. »Ich werde mich nie daran gewöhnen.«
»Dann solltest du dich auf deinem Sitz ausstrecken.«
Er spürte, daß sie die Achseln zuckte und lächelte. »Ich habe den Auftrag, dich zu füttern. Die RUV-Leute haben ein ziemlich demokratisches System. Scheherazade befiehlt, und alle anderen gehorchen. Bis auf Hamud – er wettert und knurrt und behauptet dann, es wären seine Befehle.«
»Aber er tut trotzdem, was sie sagt.«
»O ja. Scheherazade ist sehr klug. Sie spielt Hamud geschickt gegen seinen monströsen Widersacher Leo aus. Und sie hält beide auf Trab.«
Er fühlte das Mundstück des Plastikballons an seinen Lippen. David sog daran und spürte die Wärme der Brühe in seinem Mund. Er schluckte und merkte, daß er die Nahrung gut aufnehmen konnte.
David trank seine Suppe aus. Dann fütterte ihn Evelyn mit belegten Broten, die sie kleingeschnitten hatte und ihm Stück für Stück in den Mund schob. Dann gab sie ihm Orangensaft zu trinken.
»Danke«, sagte David. »Es war die beste Mahlzeit seit unserem gemeinsamen Abendessen.«
»Geht es dir wirklich gut? Keine Nachwirkungen von den Drogen?«
»Ich glaube schon. Man hat mir einen ziemlich harten Metabolismus verpaßt«, sagte David.
»Na Gott sei Dank.«
»Wie lange dauert es noch bis Eiland Eins? Wann werden wir landen?«
»Noch etwa eineinhalb Tage«, sagte Evelyn. »Etwas mehr als sechsunddreißig Stunden. Und alles bei Nullgravitation.«
»Dann aber werden sie versuchen, die ganze Kolonie zu besetzen.«
»Die Sonnenspiegelregler, das Kraftwerk, die Docks für die Raumfahrzeuge – das soll als erstes besetzt werden. Und dann die VIPs – als Geiseln.«
»Dr. Cobb?«
»Der ist im Augenblick nicht so wichtig. Hunter Garrison ist dort und all die anderen Mächtigen, denen Eiland Eins gehört. Und El Libertador und der amtierende Präsident der Weltregierung halten dort eine Friedenskonferenz ab. Der Ort wimmelt nur so vor lauter VIP-Geiseln.«
David schwieg.
Sie streichelte seine borstigen Wangen, dann beugte sie sich vor und küßte ihn. »Hör auf, darüber nachzudenken«, sagte Evelyn. »Nur bleib mir am Leben. Tu nichts, was sie aufbringen könnte. Arbeite mit ihnen zusammen, sonst werden sie dich kaltblütig umbringen. Bitte, David, bleib am Leben!«
»Das werde ich«, erwiderte er. »Mach dir keine Sorgen.«
Sie zog die Kapuze über sein Kinn und verließ ihn. David aber lehnte sich in seinem Sitz zurück, während Gedanken durch seinen Kopf jagten.
Sechsunddreißig Stunden. Das ist zu wenig. Die Zeit wird nicht reichen.