22. Kapitel
David saß mit dem Rücken gegen einen dicken Baumstamm gelehnt und ließ sich von der Nachmittagssonne wärmen. Über das flache, fast profillose Land wehte eine ständige Brise. Auch war die Ebene fast ohne Bäume bis auf die wenigen, die auf der Hacienda standen.
Am Horizont türmten sich graue Wolken, dort, wo die Berge im Dunst schwebten, ihre blauweißen Schneekappen scheinbar in der Luft, losgelöst von der übrigen Welt.
Aber er beobachtete die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit, insbesondere die Hacienda und die Leute, die aus und ein gingen. Die meisten waren Soldaten in olivbraunen Uniformen.
Ich wollte zur Weltregierung nach Messina und bin in irgendeinem Revolutionsnest in Argentinien gelandet, sagte sich David. Ein Irrtum von 10.000 Kilometern in der Navigation.
Er hatte sich absichtlich von den übrigen Passagieren abgesetzt, die sich zusammenrotteten und blökten wie Schafe. Sie aßen, wenn man sie aufforderte, und versuchten ihre Furcht zu verbergen. Sie klatschten und erfanden Gerüchte. David wußte, daß er allein sein mußte, wenn sich eine Chance zur Flucht bieten sollte, um die Gelegenheit beim Schopf zu fassen, sonst würden ihm die anderen im Wege sein.
Und er wußte auch bereits, wie er entkommen konnte. Es war ziemlich einfach. Vor der Hacienda parkten einige Autos, und was noch besser war, mehrere Elektrokräder. Nur ein einziger Mann lungerte als Wache am Tor herum, und er schien viel eher daran interessiert, Kette zu rauchen und mit den weiblichen Geiseln zu flirten als aufzupassen.
Doch wohin des Weges? Das ist die Frage. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich in bezug auf irgendein vernünftiges Ziel befanden. Seine Computerverbindung funktionierte immer noch nicht, und der Gedanke trieb ihn schier an den Rand der Verzweiflung. Ich bin allein, dachte er, ganz allein in einer Welt, wo mehr als sieben Milliarden Menschen leben. Keiner würde ihm sagen, was er wissen mußte, keiner konnte Kontakt mit ihm aufnehmen und all jene Daten über Geographie, über die politische Lage, über Straßenkarten, Wetterbedingungen und all die Millionen Details, über die er Bescheid wissen mußte, bevor er überhaupt versuchen konnte, zu fliehen.
Blind davonlaufen kam überhaupt nicht in Frage. Das war sinnlos, der Weg hätte geradewegs in den Tod oder erneut in Gefangenschaft geführt.
Dann erblickte er Bahjat, die von der Hacienda kommend langsam in das leere Grasland hinausschritt, das sich nach allen Seiten ausdehnte. Zwei Soldaten folgten ihr, mit Karabinern über den Schultern.
Sie hat eine Leibwache? fragte sich David. Warum wohl? Von welcher Seite sollte ihr Gefahr drohen? Von den Passagieren? Oder ist sie jetzt eine Gefangene?
Er hatte bereits früher einige der Entführer beobachtet, die sich frei auf dem Grundstück herumtrieben, ohne Soldaten auf den Fersen. Also ist sie keine Gefangene. Vielleicht ist es eine Art Ehrenwache. Sie ist ihr Anführer.
Aber sie machte keinen fröhlichen Eindruck. In ihrem hübschen Gesicht stand Kummer und Ausweglosigkeit geschrieben.
Irgend etwas mußte mit ihr passiert sein. Sie weiß…
David setzte sich kerzengerade auf. Sie weiß eine ganze Menge! wurde ihm plötzlich bewußt. Sie weiß alles, was ich brauche, um hier wegzukommen. In diesem hübschen Köpfchen steckt ein Computer, in dem alle Informationen gespeichert sind, die ich brauche.
David kam sich plötzlich wie ein Löwe vor, der im hohen, vergilbenden Gras sitzt und geduldig seine Beute belauert.
Bahjat schritt langsam und ziellos dahin, wobei sie blicklos geradeaus starrte. David beobachtete und wartete. Die Sonne neigte sich gen Westen, versank in grauen Wolken, und der Wind frischte auf. David ignorierte die Kühle und die zunehmende Schwüle der Luft, ignorierte auch den nagenden Hunger in seiner Magengrube. Er hatte die ganze Nacht draußen verbracht und dann das Frühstück und das Mittagessen verpaßt, während er das Haus, die Wachen, die Militärstreifen, die Autos und Motorräder beobachtete.
Schließlich wandte sich Bahjat wieder dem Haus zu, nachdem sie sich so weit entfernt hatte, daß sie und ihre Begleiter zu Schemen geworden waren, verloren und aufgesogen in der weiten, flachen Landschaft. In der Ferne rollte Donner, und irgendwo am Horizont flammten Blitze auf. Aber David ließ die Wache und das Mädchen nicht aus den Augen.
Er lächelte grimmig in sich hinein. Was könnte sarkastischer sein, als einen Kidnapper zu kidnappen?
Das Trio bewegte sich langsam wieder auf die Hacienda zu in Richtung Eingang, wo die Autos und Kräder parkten. Die Wache am Tor war immer noch mit ihrer Raucherei beschäftigt und schwatzte anstatt den Parkplatz zu bewachen, mit jemandem, der hinter der Tür stand.
David erhob sich langsam, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken und glitt lautlos hinter die beiden Wachmänner, die Bahjat begleiteten. Ihre Karabiner trugen sie über der Schulter. Einer von ihnen trug eine automatische Pistole am Gürtel.
In den Wolken, die im Westen standen, zuckten immer häufiger Blitze, und der Donner rollte hohl über die Ebene. Die Wachen blickten himmelwärts und unterhielten sich leise auf spanisch.
Dann wandte sich einer von ihnen in Internationalem Englisch an Bahjat. »Es wird gleich regnen.«
»Und ziemlich heftig«, pflichtete ihm sein Kamerad ebenfalls auf englisch bei. »Wir sollten lieber ins Haus gehen, bevor wir naß werden.«
»Mir würde es nichts ausmachen, mit ihr naß zu werden. Ich würde sie mit meinem Körper gegen das Toben der Elemente schützen.«
»Wobei der Blitz in deinen Arsch einschlagen würde!«
Sie lachten.
David legte die letzten zwanzig Meter, die zwischen ihm und der Wache lagen, wie eine Raubkatze zurück, die auf ihre Beute losgeht. Zunächst schlug er den Mann mit der Pistole mit einem Handkantenschlag in den Nacken nieder. Der Mann stürzte nach vorn.
Der andere drehte sich um die eigene Achse, wobei er den Karabiner von der Schulter zu kriegen versuchte, den Mund weit aufgerissen, so daß alle Zähne sichtbar wurden, die Augen vor Überraschung und Schrecken geweitet. Er war höchstens achtzehn oder neunzehn Jahre alt, registrierte David, als er einen Treffer in seiner Magengrube landete.
Der Mann klappte zusammen, atmete keuchend aus und stöhnte. David riß den Karabiner mit beiden Händen an sich und versetzte ihm einen Hieb mit dem Gewehrkolben. Der Soldat streckte sich im Gras aus und lag still.
Für einen Augenblick konnte es David kaum glauben, daß es so leicht gegangen war. Die Überraschung ist stets die beste Waffe, dachte er, sich an die Worte seines Kampftrainers erinnernd. Tu stets das Unerwartete. Der alte Okinawa wäre mit der Leistung seines Schülers zufrieden gewesen.
Während sich Bahjat umdrehte, um zu sehen, was das Geräusch hinter ihrem Rücken zu bedeuten hatte, bückte sich David, um den zweiten Karabiner zu erhaschen. Er schwang die Waffe über die Schulter und zog die Pistole aus dem Halfter. Die Wache am Tor kehrte ihm immer noch den Rücken zu. David sah, daß er sich immer noch mit einer der Stewardessen unterhielt. Bahjat schaute ihm sprachlos zu.
Er steckte die Pistole in den Gürtel und winkte ihr mit dem Karabiner zu. »Rein in den nächsten Wagen, los!« zischte er. Sie zögerte. »Das Auto!« flüsterte er drängend. »Steigen Sie ein und starten Sie!«
Sie trat an den nächsten Wagen und öffnete die Tür zum Fahrersitz. »Haben Sie den Schlüssel?« flüsterte sie zurück.
David warf einen kurzen Blick auf die Wache am Tor, dann blickte er Bahjat an. »Was für einen Schlüssel? Der Wagen ist offen.«
»Der Zündschlüssel. Man braucht einen Schlüssel, um den Wagen anzulassen.«
Auf Eiland Eins gab es keine Autos, und die Elektrokräder wurden mit Hilfe eines Schalters angelassen. David wußte nicht, ob er ihr trauen durfte und stand unschlüssig in aufsteigender Panik neben dem Wagen.
»Auch die Motorräder?« Die Wache nahm den Zigarettenstummel mit Daumen und Zeigefinger aus dem Mund. David wußte, daß er die Kippe auf den asphaltierten Boden des Parkplatzes schleudern würde, wie er es schon wiederholt getan hatte.
»Natürlich«, erwiderte Bahjat.
Sagt sie die Wahrheit? Was kann ich tun, wenn die mich anlügt?
Doch Bahjat hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. »Ich kann das Motorrad kurzschließen«, sagte sie. »Das geht ganz einfach.«
Ein Blitz zuckte über den Himmel, und David duckte sich, während er auf den Donner wartete. Bahjat eilte zum nächsten Motorrad und beugte sich über den Motor. Die Wache drehte sich um und schaute zum Himmel. Der Donner explodierte direkt über ihrem Kopf, während die Wache vor Schreck erstarrte und die Zigarettenkippe wie eine Blume im Schatten des Torbogens der Hacienda glühte.
David warf einen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, daß die beiden Wachmänner immer noch bewußtlos am Boden lagen. Doch der andere am Tor hatte die Waffe gezogen und kam über die Treppe auf sie zu. Die Stewardeß stand immer noch im Torbogen und schaute wie gebannt zu.
David hatte seine Schießübungen nur als Teil jener Tests absolviert, denen ihn die Biomediziner routinemäßig unterzogen. Er zielte hoch, spürte mit dem Daumen, daß die Waffe entsichert war und drückte ab. Die Pistole knallte, er konnte den Rückstoß in seiner Hand fühlen. Der Türrahmen splitterte, eine Staubwolke stieg auf und Mauerwerk rieselte herab.
Wie jeder ausgebildete Soldat zog der Wachmann den Kopf ein und legte sich, Deckung suchend, flach auf die Treppenstufen.
»Motor läuft!« rief Bahjat. »Los!«
Sie saß bereits im Sattel. David feuerte einen zweiten Schuß ab, diesmal in den Boden direkt vor die Nase der Wache, dann schwang er sich auf den Rücksitz. Der zweite Karabiner klatschte gegen seinen Rücken.
Die Wache am Tor versuchte verzweifelt, sich so dünn wie möglich zu machen. Er hatte zwar die Waffe in der Hand, aber er lag mit dem Gesicht nach unten und versuchte, so wenig Zielfläche wie nur möglich zu bieten.
Bahjat schaltete, und sie fuhren mit aufheulendem Motor los. »Die Autos und die anderen Räder!« rief sie über die Schulter. »Zerschießen Sie die Reifen!«
»Wie?« Es blitzte, und der Donner krachte sofort hinterher. Es blitzte erneut, und die Erde erzitterte. Vom Himmel fielen dicke Regentropfen.
»Die Autos und Räder fahrunfähig schießen – damit sie uns nicht verfolgen können!« Bahjat versuchte, den Donner zu übertönen.
Plötzlich war es stockfinster. Der Regen klatschte auf die Erde. Im Handumdrehen waren die beiden pitschnaß und konnten kaum die Finger vor den Augen sehen. David lehnte sich leicht zurück, den Karabiner an der Hüfte und feuerte blindlings auf die geparkten Fahrzeuge. Die Knallerei war ohrenbetäubend. Die Waffe in seiner Hand hüpfte und schlug zurück, als wollte sie sich befreien. Bahjat lenkte das Rad zwischen die aufgereihten Fahrzeuge, David aber verlor das Gleichgewicht und klatschte rücklings in eine Pfütze.
Er rappelte sich mühsam hoch und feuerte eine weitere Salve in die parkenden Wagen. Ein Wasserstofftank explodierte in einer pilzförmigen, orangeroten Flamme, dann ein zweiter. Er konnte die Wache nicht sehen, auch nicht Bahjat und das Motorrad. Da stand er nun, ballerte weiter und sah, wie die Räder umfielen, wie Reifen barsten, er sah Autos, die umkippten und in Flammen aufgingen, als die Geschosse einschlugen, spürte er die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht und den kalten Regen, der ihm den Rücken hinabrann.
Endlich schwieg seine Waffe. Bahjat war nur einige Meter von ihm entfernt, der einsame Scheinwerfer des Motorrads schien verloren in Wind, Regenschauern und Finsternis.
»Los!« rief sie. »Schnell!«
David schleuderte den leergeschossenen Karabiner von sich und schwang sich in den Sattel. »Nichts wie weg hier!« sagte er, während sie in den Regen und in die Dunkelheit hinausrasten.