21
Im Flur machte ich Halt und lauschte
reglos. Dank der Par kettböden und getäfelten Wände hatte Buckshaw
eine mindestens so gute Akustik wie die Royal Albert Hall. Auch
wenn alles still war, herrschte auf Buckshaw eine ganz besondere
Stille, die ich überall wiedererkannt hätte.
Behutsam nahm ich den Telefonhörer ab und drückte
ein paarmal auf die Gabel.
»Ein Ferngespräch nach Doddingsley bitte. Tut mir
leid, die Nummer habe ich gerade nicht parat, aber ich möchte mit
dem dortigen Gasthaus verbunden werden … wie heißt es doch gleich?
Zum roten Fuchs oder Zum reichen Fährmann …
jedenfalls irgendwas mit R und F.«
»Augenblick bitte«, erwiderte die gelangweilte,
aber kompetent klingende Stimme am anderen Ende der knackenden
Leitung.
Das konnte ja wohl nicht so schwer sein, dachte
ich. Das R F lag gleich am Bahnhof, gegenüber vom Bahnsteig,
und Doddingsley war schließlich keine Weltstadt.
»Ich habe hier nur Einträge für die
Traubenstube und Zum fröhlichen Kutscher.«
»Das ist es! Zum fröhlichen Kutscher!«
Der unanständige Laut, den ich zu hören glaubte,
stammte gewiss aus dem Gebrodel ganz tief unten in meinen
Gedanken.
»Die gewünschte Nummer lautet Doddingsley zwo-drei.
Falls Sie später noch einmal anrufen wollen.«
»Danke schön«, sagte ich, da hörte ich auch schon
das Freizeichen in der Leitung, und gleich darauf hob jemand
ab.
»Doddingsley zwo-drei, Zum fröhlichen
Kutscher, Cleaver am Apparat.«
Cleaver war bestimmt der Wirt.
»Ich möchte bitte Mister Pemberton sprechen. Es ist
dringend.«
Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man ein
Hindernis, sogar ein nur angenommenes, am besten überwindet, indem
man Dringlichkeit vortäuscht.
»Der ist nicht da«, erwiderte Cleaver.
»Ach, du lieber Himmel!« Ich trug richtig dick auf.
»Da habe ich ihn wohl gerade verpasst. Könnten Sie mir sagen, wann
er weggegangen ist? Dann weiß ich in etwa, wann ich ihn zu erwarten
habe.«
Mensch, Flave, dachte ich, du solltest dich um
einen Sitz im Parlament bemühen.
»Er ist am Samstagmorgen abgereist.
Vorgestern.«
»Verbindlichsten Dank«, säuselte ich in einem Ton,
mit dem ich auch den Papst irregeführt hätte. »Sie haben mir
wirklich sehr geholfen.«
Ich legte den Hörer so vorsichtig wieder auf die
Gabel wie ein frisch geschlüpftes Küken.
»Was treibst du da?«, fragte eine dumpfe
Stimme.
Ich fuhr herum. Hinter mir stand Feely. Ihr Mund
und das Kinn waren mit einem dicken Wollschal verhüllt.
»Was treibst du da?«, wiederholte sie. »Du weißt
genau, dass wir das Instrument nicht benutzen dürfen.«
»Und was treibst du selber?«, konterte ich. »Willst
du rodeln gehen?«
Als Feely sich auf mich stürzen wollte, verrutschte
der Schal und enthüllte zwei rote geschwollene Lippen von derselben
Farbe wie der Südpol eines Pavians.
Ich war zu erschrocken, um zu lachen. Der Giftefeu,
mit
dem ich ihren Lippenstift getränkt hatte, hatte ihren Mund in
einen blasenbedeckten Krater verwandelt, der dem Popocatepetl alle
Ehre gemacht hätte. Mein Experiment war schließlich doch noch von
Erfolg gekrönt! Einen Tusch, Maestro!
Leider hatte ich gerade keine Zeit, meinen Triumph
schriftlich zu dokumentieren. Mein Notizbuch würde noch ein
Weilchen warten müssen.
Maximilian saß in senffarben kariertem Tweed
gewandet auf dem Rand der gemauerten Pferdetränke im Schatten des
Marktkreuzes und baumelte wie Humpty Dumpty mit den winzigen Füßen
in der Luft. Er war so klein, dass ich ihn beinahe übersehen
hätte.
»Haruh, mon vieux, Flavia!«, rief er, und
ich brachte Gladys kurz vor den Spitzen seiner Lacklederschuhe zum
Stehen. Schon wieder in die Falle getappt! Jetzt musste ich das
Beste draus machen.
»Tag, Max. Ich muss Sie was fragen.«
»Hoho!«, machte er. »Einfach so! Du willst mich
etwas fragen! Ohne irgendeine Einleitung? Ohne irgendwelche
Neuigkeiten von deinen lieben Schwestern? Ohne irgendwelchen
Klatsch und Tratsch aus den Konzerthallen der Welt?«
»Na ja«, erwiderte ich ein bisschen verlegen, »im
Radio kam Der Mikado.«
»Und wie war’s? Vom Ausdruck her? Die meisten
Sänger pflegen bei Gilbert und Sullivan schrecklich zu
brüllen.«
»Aufschlussreich.«
»Aha! Aber in welcher Hinsicht? Der gute Arthur hat
ein paar der großartigsten Stücke komponiert, die je in unserem
Inselkönigreich geschrieben wurden, zum Beispiel Der verklungene
Ton. Ich finde G. und S. immer wieder hochspannend. Weißt du
eigentlich, dass ihre unverbrüchliche Freundschaft an einer
Meinungsverschiedenheit über den Preis eines Teppichs
zerbrach?«
Ich musterte ihn forschend. Wollte er mich auf den
Arm nehmen? Aber er schien es ganz ernst zu meinen.
»Ich platze verständlicherweise vor Neugier darauf,
was sich kürzlich Unerfreuliches bei euch auf Buckshaw zugetragen
hat, meine liebe Flavia, aber ich weiß, dass deine Lippen schon aus
Schamgefühl, Familiensinn und Verpflichtung gegenüber der Obrigkeit
dreifach versiegelt sind. Wenn auch nicht notwendigerweise in
dieser Reihenfolge, hab ich Recht?«
Ich nickte.
»Dann darfst du nunmehr deine Frage an das Orakel
richten.«
»Sind Sie in Greyminster zur Schule
gegangen?«
Max kicherte zwitschernd wie ein kleiner gelber
Vogel.
»Wo denkst du hin! Das wäre dann doch eine Nummer
zu edel für mich gewesen. Nein, ich bin auf dem Kontinent zur
Schule gegangen, besser gesagt in Paris, und dort fand meine
Ausbildung eher draußen als drinnen statt. Aber mein Vetter Lombard
ist ein alter Greyminsterianer. Er lobt die Schule in den höchsten
Tönen, wenn er nicht gerade beim Pferderennen ist oder bei Montfort
Karten spielt.«
»Hat Ihr Vetter irgendwann einmal den Rektor Dr.
Kissing erwähnt?«
»Den Briefmarken-Guru? Mein liebes Mädchen, er
spricht kaum von jemand anderem. Er verehrt den alten Herrn
richtiggehend. Behauptet steif und fest, nur dem alten Kissing
hätte er das zu verdanken, was aus ihm geworden ist, was zwar
nichts Besonderes ist, aber immerhin …«
»Lebt er denn noch? Dr. Kissing, meine ich? Er muss
doch schon steinalt sein, oder? Ich würde alle meine Besitztümer
drauf verwetten, dass er längst tot ist.«
»Dann wärst du dein Geld aber schnell los«,
erwiderte Max amüsiert. »Und zwar bis auf den letzten Penny!«
Haus Krähenwinkel schmiegte sich in die Kissen des
gemütlichen Bettes, das von den Junkerbergen und dem sogenannten
Kürbiskopf gebildet wurde. Letzteres war eine eigenartige Erhebung,
die von weitem wie ein Hügelgrab aus der Eisenzeit aussah, aus der
Nähe betrachtet jedoch deutlich größer und wie ein Totenschädel
geformt war.
Ich lenkte Gladys in die Pooker’s Lane, die am
Unterkiefer des Schädels, beziehungsweise an seinem östlichen Rand
entlangführte. Am Ende der Straße säumten dichte Hecken die Zufahrt
zum Haus Krähenwinkel.
War man an diesen struppigen Überlebenden längst
vergangener Zeiten vorbeigefahren, erstreckten sich nach Osten,
Westen und Süden ungepflegte, stachlige Rasenflächen. Trotz des
sonnigen Tages lagen an mehreren schattigen Stellen noch letzte
Nebelschwaden über dem ungemähten Gras. Hier und da ragte eine
riesige Rotbuche auf. Die dicken Stämme und die herabhängenden
Zweige dieser Bäume ließen mich immer an eine bedrückte
Elefantenfamilie denken, die allein durch die kahle afrikanische
Savanne zieht.
Hinter den Rotbuchen spazierten zwei uralte Damen
in lebhaftem Zwiegespräch daher, als konkurrierten sie um die Rolle
der Lady Macbeth. Die eine war in ein durchsichtiges
Musselin-Nachthemd gewandet und hatte eine Morgenhaube auf dem
Kopf, die dem 18. Jahrhundert zu entstammen schien, während ihre
Gefährtin, die in ein zyanblaues Zeltkleid gehüllt war,
Messingohrringe groß wie Suppenteller trug.
Das Haus selbst war das, was man oft schwärmerisch
als »altehrwürdiges Gemäuer« bezeichnet. Der ehemalige Stammsitz
der Familie de Lacey, von der die Ortschaft Bishop’s Lacey ihren
Namen hat (angeblich waren es entfernte Verwandte der de Luces),
war im Lauf der Zeit immer mehr heruntergekommen, vom Landhaus
eines geschäftstüchtigen, erfolgreichen hugenottischen
Leinenhändlers zu dem, was es heute war, nämlich einem privaten
Altersheim, das Daffy und ich sofort
»Bleak House« getauft hatten. Beinahe wünschte ich mir meine
Schwester herbei.
Zwei staubbedeckte Automobile, die nebeneinander
auf dem Vorhof standen, bezeugten den Mangel sowohl an Personal als
auch an Besuchern. Ich ließ Gladys neben einer uralten Araukarie
ins Gras fallen und ging die bemooste, abgebröckelte Vortreppe
hoch.
Auf einem handgemalten Schild stand Bitte
klingeln. Ich zog an dem Emaillegriff. Von drinnen ertönte ein
hohles Scheppern wie von einem auf Kuhglocken gespielten
Angelus-Läuten und kündigte den Bewohnern, wer sie auch sein
mochten, meine Ankunft an.
Da nichts geschah, klingelte ich noch einmal. Die
beiden alten Damen spielten mittlerweile »Teegesellschaft«,
knicksten anmutig und affektiert, hielten unsichtbare Tassen und
Untertassen vor sich und spreizten zierlich die kleinen Finger
ab.
Ich legte das Ohr an die wuchtige Tür, aber bis auf
einen Grundton, bei dem es sich offenbar um die Atemzüge des
Gebäudes handelte, war nichts zu vernehmen. Daraufhin schob ich die
Tür auf und trat ein.
Das Erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch
nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser
Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des
Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte
auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von
Bittermandelaroma wahr, das genauso unverkennbar roch wie Blausäure
- das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet
wurden.
Die weitläufige Diele war in Irrenhaus-Apfelgrün
gestrichen: grüne Wände, grüne Wandtäfelung, grüne Decke. Auf dem
Boden lag billiges braunes Linoleum, das mit derart brutalen
Furchen und Rillen übersät war, dass man vermuten konnte, ein
Archäologe habe es aus dem Kolosseum in Rom geborgen und
hier einer zweiten Verwendung zugeführt. Jedes Mal, wenn ich auf
eine der vielen braunen Pusteln trat, gab der Bodenbelag ein
widerliches Pffft! von sich. Irgendwann würde ich mich
einmal mit der Frage beschäftigen müssen, ob ein Farbton eigentlich
Brechreiz verursachen kann.
An der Wand ganz hinten saß in einem
chromblitzenden Rollstuhl ein Greis und starrte mit offenem Mund an
die Decke, als wartete er darauf, dass dort eine Erscheinung
auftauchte.
An einer anderen Wand stand ein Schreibtisch. Er
war unbesetzt. Nur eine silberne Glocke und ein abgegriffenes
Pappschild mit der Aufschrift Bitte klingeln deutete auf das
Vorhandensein irgendwelchen verborgenen Personals hin.
Ich schlug viermal auf den Klingelknopf. Bei jedem
Bing zwinkerte der alte Mann heftig, löste den Blick aber
nicht von der Decke.
Da erschien mit einem Mal, als wäre sie durch eine
Geheimtür in der Holzvertäfelung geschlüpft, ein Hauch von einer
Frau. Sie trug eine weiße Uniform und eine blaue Haube, unter die
sie emsig lose, fettige, strohblonde Strähnen stopfte.
Sie machte den Eindruck, als hätte sie etwas
verbrochen und wäre sich darüber im Klaren, dass ich davon
wusste.
»Ja, bitte?«, fragte sie in piepsigem, aber
nichtsdestotrotz energischem und somit typischem
Krankenschwesternton.
»Ich möchte Dr. Kissing besuchen«, sagte ich. »Ich
bin seine Urenkelin.«
»Dr. Isaac Kissing?«
»Eben den. Gibt es denn hier noch einen Dr.
Kissing?«
Daraufhin machte das Phantom in Weiß wortlos auf
dem Absatz kehrt, und ich folgte ihr durch einen Durchgang in einen
schmalen Wintergarten, der sich über die gesamte Länge des Gebäudes
erstreckte. Auf halbem Weg blieb sie stehen und deutete wie der
dritte Geist in Dickens’ Weihnachtsgeschichte mit dem
Finger, dann war sie verschwunden.
Am anderen Ende des mit hohen Fenstern versehenen
Wintergartens, im Schein des einzigen Sonnenstrahls, dem es
gelungen war, in das düstere Gebäude einzudringen, saß ein alter
Mann in einem Korbrollstuhl. Ein Heiligenschein aus blauem Rauch
umschwebte sein Haupt. Auf einem Beistelltischchen türmte sich ein
unordentlicher Stapel Zeitungen, der jederzeit einstürzen
konnte.
Der Mann war in einen mausgrauen Morgenmantel
gehüllt, genau wie Sherlock Holmes, nur dass sein Morgenmantel mit
lauter Brandlöchern übersät war, wodurch er entfernt an einen
Leoparden erinnerte. Darunter trug er einen schwarzen Anzug und ein
gestärktes Hemd mit altmodischem Vatermörderkragen. Auf seinem
langen, gelockten gelblich-grauen Haar saß ein pflaumenfarbenes
Samtkäppchen, und an seiner Unterlippe klebte eine brennende
Zigarette, deren graue Asche sich wie eine mumifizierte
Nacktschnecke krümmte.
»Tag, Flavia«, begrüßte er mich. »Ich habe schon
auf dich gewartet.«
Eine Stunde war vergangen. Eine Stunde, in der mir
zum ersten Mal richtig bewusst geworden war, was wir im Krieg alles
verloren hatten.
Der Auftakt war nicht sehr vielversprechend
gewesen.
»Ich muss dich gleich warnen, dass ich wenig Übung
darin habe, mich mit kleinen Mädchen zu unterhalten«, hatte Dr.
Kissing verkündet.
Ich biss mir auf die Zunge und hielt die
Klappe.
»Bei Jungen hat es sich bewährt, sie mittels
Schlägen und anderen Kunstgriffen zu halbwegs zivilisierten
Menschen zu erziehen, aber ein Mädchen, dem aufgrund seiner Natur
solche Züchtigungen vorenthalten bleiben müssen, bleibt doch immer
eine Art terra incognita, nicht wahr?«
Mir war klar, dass es eine rein rhetorische Frage
war. Ich zog die Mundwinkel hoch und hoffte, so etwas wie ein
Mona-Lisa-Lächeln
hinzubekommen, zumindest eines, das den Erfordernissen der
Höflichkeit Genüge tat.
»Du bist also Schnäppis Tochter«, fuhr der Alte
fort. »Dabei siehst du ihm kein bisschen ähnlich.«
»Angeblich komme ich mehr nach meiner Mutter
Harriet.«
»Ach ja, die gute Harriet. Was für eine Tragödie.
Wie furchtbar für euch alle.«
Er streckte die Hand aus und tippte auf eine Lupe,
die bedenklich wacklig auf dem Zeitungseisberg balancierte.
Außerdem öffnete er ein Etui mit Players, aus dem er sich
eine neue Zigarette auswählte.
»Ich tue mein Bestes, um mit dem Weltgeschehen
Schritt zu halten, jedenfalls mit dem Weltgeschehen, wie es sich in
den Augen dieser Schreiberlinge darstellt. Meine eigenen Augen, das
gebe ich zu, beobachten diese Parade nun seit fünfundneunzig Jahren
und sind des Ganzen ein wenig müde geworden.
Trotzdem gelingt es mir, über die Geburten,
Todesfälle, Hochzeiten und Verbrechen, die sich in unserer
beschaulichen Grafschaft ereignen, einigermaßen auf dem Laufenden
zu bleiben. Und ich habe natürlich weiterhin Punch und
Lilliput abonniert.
Soviel ich weiß, hast du zwei Schwestern, Ophelia
und Daphne.«
Ich nickte abermals.
»Ja, ja, unser Schnäppi hatte immer eine Vorliebe
für alles Ausgefallene. Darum habe ich mich auch nicht gewundert,
als ich gelesen habe, dass er seine ersten beiden Nachfahren nach
einer Hysterikerin bei Shakespeare und einem griechischen
Nadelkissen benannt hat.«
»Wie bitte?«
»Daphne wurde von Eros mit einem liebestötenden
Pfeil durchbohrt, ehe sie von ihrem Vater in einen Baum verwandelt
wurde.«
»Ich meinte die andere, die wahnsinnige
Ophelia.«
»Die ist ja nun völlig übergeschnappt.« Er drückte
den Stummel in dem überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich
die nächste Zigarette an. »Oder bist du anderer Meinung?«
Die Augen, die mich aus dem runzligen
Greisengesicht ansahen, blickten so wach und aufmerksam wie die
jeden Lehrers, der mit dem Zeigestock in der Hand vor einer
Wandtafel steht, und ich spürte, dass meine Rechnung aufgehen
würde. Ich war kein »kleines Mädchen« mehr. Im Gegensatz zu Daphne,
die lediglich in einen Lorbeerbaum verwandelt worden war, hatte ich
mich in einen Schuljungen aus der Unterstufe verwandelt.
»Eigentlich nicht, Sir«, erwiderte ich. »Ich glaube
eher, dass Ophelia für Shakespeare eine Art Symbol war … wie die
Kräuter und Blumen, die sie pflückt.«
»Hä? Wie kommst du denn darauf?«
»Na ja, Ophelia ist das unschuldige Opfer einer
mörderischen Familie, deren Mitglieder allesamt in höchstem Maße
selbstsüchtig sind. So sehe ich das zumindest.«
»Soso. Ist ja ausgesprochen interessant.«
»Trotzdem«, setzte er nach einer kurzen Pause
hinzu, »war es mir eine Genugtuung, dass dein Vater vom
Lateinunterricht immerhin so viel behalten hat, um dich Flavia zu
nennen, die Goldhaarige.«
»Mein Haar ist aber eher mausbraun.«
»Ach so.«
Wir schienen in einer der Sackgassen angelangt zu
sein, wie es sie im Gespräch mit alten Menschen öfter gibt. Ich
dachte schon, der alte Mann sei mit offenen Augen eingedöst.
Aber da sagte er unvermittelt: »Na schön, dann zeig
mal her.«
»Sir?«
»Meinen Rächer von Ulster. Ich würde gern
einen Blick drauf werfen. Du hast ihn doch dabei, nicht
wahr?«
»Ich … schon, Sir, aber woher …?«
»Dann wollen wir mal kombinieren«, sagte er
seelenruhig, als hätte er verkündet: Lasset uns beten.
»Horace Bonepenny, seinerzeit Zauberkünstler sowie
langjähriger Schwindler und Betrüger, liegt auf einmal tot im
Garten seines alten Schulfreundes Schnäppi de Luce. Wieso?
Höchstwahrscheinlich ist Erpressung im Spiel. Darum wollen wir von
Erpressung ausgehen. Nur ein paar Stunden sind vergangen, da
stöbert Schnäppis Tochter im Zeitungsarchiv von Bishop’s Lacey nach
Artikeln über das Ableben meines lieben alten Kollegen Mr Twining,
er ruhe in Frieden. Woher ich das weiß? Das liegt doch auf der
Hand.«
»Miss Mountjoy.«
»Sehr gut, Kleine. Tilda Mountjoy, ganz recht. Seit
einem Vierteljahrhundert meine Augen und Ohren im Dorf und der
Umgebung.«
Ich hätte es wissen müssen! Miss Mountjoy war ein
Spitzel!
»Weiter im Text. Am letzten Tag seines Lebens kam
es dem Dieb Bonepenny in den Sinn, sich im Dreizehn Erpel
einzuquartieren. Anschließend gelingt es dem dummen Grünschnabel -
nun ja, ein Grünschnabel ist er nicht mehr, aber dumm allemal -,
sich von irgendwem abmurksen zu lassen. Ich habe schon seinerzeit
zu Mr Twining gesagt, dass es mit dem Burschen kein gutes Ende
nehmen würde. Meine Vorhersage war zutreffend, wie ich in aller
Bescheidenheit anmerken möchte. Dieser Bonepenny hatte schon immer
etwas Teuflisches an sich.
Aber ich schweife ab. Kurz nach seinem Ableben wird
sein Zimmer im Gasthaus von einer holden Maid durchsucht, deren
Namen ich nicht zu nennen wage, die mir aber gerade eben sittsam
gegenübersitzt und in ihrer Tasche herumspielt. Was mag wohl
darinnen sein? Ich tippe auf ein gewisses Fitzelchen
orangenmarmeladenfarbenes Papier mit dem Porträt unserer
verstorbenen Majestät, Königin Victoria, sowie der Kennung TL.
Quod erat demonstrandum - Q. E. D.«
»Q. E. D.«, bestätigte ich, holte den
Pergamin-Umschlag heraus und hielt ihn dem Greis hin. Mit
zitternden Händen - ob vor Alter oder vor Aufregung, hätte ich
nicht zu sagen gewusst - und indem er das hauchdünne Papier wie
eine Pinzette benutzte, schälte er die Seiten des Umschlags mit
nikotinfleckigen Fingern nach unten. Als die orangefarbenen Ecken
der beiden Rächer frei lagen, fiel mir auf, dass seine
fleckigen Fingerkuppen und die Briefmarken fast dieselbe Farbe
hatten.
»Alle Wetter!«, schnaufte er sichtlich erschüttert.
»Du hastAAwiedergefunden! Diese Marke gehört Seiner Ma jestät,
weißt du das? Sie wurde erst vor wenigen Wochen bei einer
Ausstellung in London gestohlen, das stand in allen
Zeitungen.«
Er blickte mich vorwurfsvoll über den Rand seiner
Brille an, musste aber sofort wieder den Schatz betrachten, den er
in Händen hielt. Er schien mich ganz zu vergessen.
»Seid mir gegrüßt, meine Freunde«, flüsterte er.
»Wir haben uns ja so lange nicht gesehen!«
Er griff zur Lupe und studierte beide Marken
gründlich.
»Und du, meine heißgeliebte kleine TL- was du wohl
alles zu erzählen hast!«
»Horace Bonepenny trug alle beide bei sich«, warf
ich ein. »Ich habe sie im Gasthaus in seinem Gepäck
entdeckt.«
»Du hast sein Gepäck durchwühlt?« Dr. Kissing
blickte nicht auf. »Uff! Die Polizei wird nicht gerade Purzelbäume
über den Dorfanger schlagen, wenn sie das hört … und du dann wohl
auch nicht mehr.«
»Ich habe sein Gepäck nicht durchwühlt. Er hatte
die Marken unter einem Aufkleber auf seinem Koffer
versteckt.«
»Unter dem sie einfach hervorgepurzelt kamen, als
du zufällig draufgetippt hast.«
»Genauso war’s.«
»Sag mal«, er hob jäh den Kopf und sah mich an,
»weiß dein Vater eigentlich, dass du hier bist?«
»Nein. Vater ist wegen Mordes angeklagt. Er sitzt
in Hinley im Arrest.«
»Großer Gott! Ist er’s denn gewesen?«
»Keine Ahnung. Manchmal denke ich ja, dann wieder
nein. Das Ganze ist ein einziges Kuddelmuddel.«
»Am Anfang ist alles immer ein einziges
Kuddelmuddel. Sag mir eins, Flavia: Wofür interessierst du dich von
allen Wissensgebieten dieser Welt am meisten? Was ist deine
allergrößte Leidenschaft?«
»Die Chemie«, antwortete ich, ohne zu
überlegen.
»Bravo!«, sagte Dr. Kissing. »Diese Frage habe ich
zu meiner Zeit ganzen Heerscharen von Hottentotten gestellt, und
alle haben irgendeinen Blödsinn geantwortet. Große Töne spucken und
hirnverbrannte Träumereien. Du dagegen hast es fertiggebracht, dich
auf ein einziges Wort zu beschränken.«
Das Korbgeflecht ächzte grässlich, als er sich mir
zuwandte. Ich bekam schon einen Schreck, weil es sich anhörte, als
hätte er sich die morsche Wirbelsäule gebrochen.
»Natriumnitrit«, sagte er. »Das ist dir ja
sicherlich ein Begriff.«
Ein Begriff? Natriumnitrit war ein bewährtes
Gegenmittel bei Zyankalivergiftung. Ich kannte mich mit allen
seinen Verbindungen aus. Wie aber kam er ausgerechnet auf dieses
Beispiel? Konnte er Gedanken lesen?
»Schließ die Augen«, fuhr er fort. »Stell dir vor,
du hältst ein Reagenzglas in der Hand, das zur Hälfte mit einer
drei ßigprozentigen Salzsäurelösung gefüllt ist. Dazu gibst du ein
paar Kristalle Natriumnitrit. Was geschieht?«
»Dazu brauche ich nicht die Augen zuzumachen. Die
Lösung wird orange … orange und trüb.«
»Ausgezeichnet! Orange wie diese beiden
eigensinnigen Briefmarken, nicht wahr? Und dann?«
»Nach einer Weile, nach zwanzig, dreißig Minuten
vielleicht, wird die Lösung wieder klar.«
»Klar. Damit wäre meine Herleitung
abgeschlossen.«
Ich grinste befreit und ein bisschen dümmlich, als
wäre mir eine große Last von den Schultern genommen.
»Als Lehrer müssen Sie ein wahrer Zauberer gewesen
sein, Sir.«
»Ja, das war ich wohl … zu meiner Zeit. Und jetzt
hast du mir meinen kleinen Schatz wiedergebracht.« Er heftete den
Blick wieder auf die Briefmarken.
Damit hatte ich nicht gerechnet, ja, ich war gar
nicht auf die Idee gekommen. Ich hatte nur herausfinden wollen, ob
der Besitzer des Rächers noch am Leben war. Anschließend
hätte ich Vater die Marke ausgehändigt, der sie der Polizei
übergeben hätte, die wiederum dafür sorgen würde, dass sie ihrem
rechtmäßigen Besitzer zurückerstattet würde. Dr. Kissing merkte
sofort, dass ich verunsichert war.
»Andere Frage«, sagte er. »Was hättest du getan,
wenn du hergekommen wärst und man dir mitgeteilt hätte, dass ich
bereits in den ewigen Jagdgründen weile?«
»Sie meinen … dass Sie gestorben wären, Sir?«
»Ach, richtig, so heißt das ja, ›gestorben‹.«
»Dann hätte ich die Marke wahrscheinlich meinem
Vater gegeben.«
»Damit er sie behält?«
»Er weiß bestimmt, was damit zu tun ist.«
»Das dürfte der Besitzer der Marke wohl am
allerbesten wissen, oder?«
Ich wusste schon, dass die richtige Antwort »Ja«
lautete, aber es wollte mir nicht über die Lippen. Ich wollte die
Marke unbedingt Vater geben, auch wenn mir das eigentlich nicht
zustand. Genauso dringend wollte ich beide Marken Inspektor Hewitt
übergeben. Warum bloß?
Dr. Kissing zündete sich noch eine Zigarette an und
sah aus
dem Fenster. Dann nahm er eine der beiden Marken aus dem Umschlag
und gab mir die andere.
»Hier hast du die AA. Sie ist nicht mein, sie
gehört mir nicht, wie es im Volkslied heißt. Soll dein Vater
damit verfahren, wie er es für richtig hält. Es ist nicht an mir,
das zu entscheiden.«
Ich nahm den Rächer von Ulster entgegen und
schlug ihn vorsichtig in mein Taschentuch ein.
»Die exquisite kleine TL dagegen gehört mir, da
beißt die Maus keinen Faden ab.«
»Sie freuen sich doch bestimmt, dass Sie die
wertvolle Marke wieder in Ihr Album einsortieren können, Sir«,
sagte ich enttäuscht und steckte den anderen Rächer
ein.
»In mein Album?« Sein krächzendes Lachen endete in
einem Hustenanfall. »Meine Alben sind längst, wie es der selige
Dowson einmal nannte, vom Winde verweht.«
Er wandte das Greisengesicht wieder dem Fenster zu
und schaute geistesabwesend in den Park hinaus, wo die beiden alten
Damen unter den vom Sonnenschein besprenkelten Buchen immer noch
wie exotische Schmetterlinge umherflatterten und eine Art
kunstvollen Tanz aufführten.
»So viel hab ich vergessen, Cynara, vom
Winde
verweht,
Die Rosen, übermütig in die Menge geworfen,
Der Tanz, um nicht an deine bleichen Lilien zu denken,
Doch elend war ich, krank vor einst’ger
Leidenschaft,
Die ganze Zeit, denn lang hab ich getanzt …
Ich war dir treu, Cynara - doch auf meine Art!
verweht,
Die Rosen, übermütig in die Menge geworfen,
Der Tanz, um nicht an deine bleichen Lilien zu denken,
Doch elend war ich, krank vor einst’ger
Leidenschaft,
Die ganze Zeit, denn lang hab ich getanzt …
Ich war dir treu, Cynara - doch auf meine Art!
Das stammt aus seinem Non Sum Qualis eram Bonae
Sub Regn o Cynarae, du kennst es vielleicht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber es ist sehr
schön.«
»An einem so abgeschiedenen Ort wie diesem
untergebracht
zu sein«, sagte Dr. Kissing mit ausholender Gebärde, »ist, wie man
schon am baufälligen Äußeren dieses noblen Anwesens erkennt, auch
finanziell einigermaßen ruinös.«
Er sah mich an, als hätte er einen gelungenen Witz
gemacht. Als ich keine Miene verzog, zeigte er auf den Tisch.
»Gib mir mal eins von den Alben. Das
oberste.«
Da sah ich erst, dass unter der Tischplatte noch
ein Fach angebracht war, in dem zwei dicke, in Leder gebundene
Alben klemmten. Ich pustete den Staub weg und reichte ihm das
oberste.
»Nein, nein … schlag du es auf.«
Ich öffnete das Album auf der ersten Seite, die nur
zwei Marken enthielt, eine schwarze und eine rote. Doch an den
gummihaltigen Spuren und den mit einem Lineal gezogenen Linien
erkannte man, dass die Seite einmal voll gewesen sein musste. Ich
blätterte zur nächsten Seite weiter … und zur übernächsten. Das
Album war nur noch eine ausgeweidete Hülle, geplündert und so
spärlich bestückt, dass es sogar ein Schuljunge schamhaft versteckt
hätte.
»Wie du siehst, kostet es nicht wenig, ein noch
schlagendes Herz zu versorgen. Quadrätchen für Quadrätchen trennt
man sich von seinem Leben. Viel ist nicht mehr davon übrig,
was?«
»Aber der Rächer von Ulster!«, rief ich aus.
»Der muss doch ein Vermögen wert sein!«
»Allerdings.« Dr. Kissing betrachtete seinen Schatz
abermals durch die Lupe.
»In Romanen ist manchmal von einer Gnadenfrist zu
lesen, die jemandem gewährt wird, wenn die Falle bereits
zugeschnappt ist, oder aber von dem Pferd, dem kurz vor der
Ziellinie das Herz stehen bleibt.«
Er kicherte ironisch und zog ein Taschentuch
hervor, um sich die Augen zu wischen.
»›Zu spät! Zu spät!, so die Maid‹, und so weiter.
›Und noch fünfzehn Minuten bis Buffalo.‹«
»Ach, das Schicksal treibt gern seine Späße«, fuhr
er mit gedämpfter Stimme fort. »Wer hat das gesagt? War das nicht
Cyrano de Bergerac?«
Ganz kurz dachte ich, welchen Spaß es Daffy machen
würde, sich mit dem alten Herrn zu unterhalten, aber nur ganz kurz.
Dann zuckte ich die Achseln.
Mit einem heiteren Lächeln nahm Dr. Kissing die
Zigarette aus dem Mund und hielt die glühende Spitze an die Ecke
des Rächers von Ulster.
Mir war zumute, als hätte mir jemand einen
Feuerball ins Gesicht geschleudert und Stacheldraht um die Brust
gespannt. Ich fuhr erst zusammen, dann erstarrte ich vor Schreck,
konnte nur hilflos zusehen, wie die Briefmarke zu qualmen anfing
und ein Flämmchen sich gemächlich, aber unerbittlich durch das
jugendliche Antlitz Königin Viktorias fraß.
Als das Flämmchen an seinen Fingern ankam, ließ Dr.
Kissing die geschwärzte Marke auf den Boden fallen. Unter dem Saum
seines Morgenmantels tauchte ein blank gewienerter schwarzer Schuh
auf, stellte sich sachte auf die Asche und zermalmte sie mit ein
paar kurzen Drehbewegungen.
Es dauerte nur drei dröhnende Herzschläge, dann
erinnerte nur noch ein schwarzer Fleck auf dem Linoleum in Haus
Krähenwinkel an den Rächer von Ulster.
»Die Marke in deiner Tasche hat ihren Wert soeben
verdoppelt«, verkündete Dr. Kissing. »Hüte sie gut, Flavia. Jetzt
ist sie die Einzige ihrer Art auf der ganzen Welt.«