2
Es überlief mich, wie es so schön heißt,
eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern
mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir
ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am
nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph:
Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage,
Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren
plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera …
hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna …
Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die
Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und
etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an
allein zurechtkommen müssen.
Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil
verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein!
Oder doch?
Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie
ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh
aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine
Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten
Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit
dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver.
»Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er
mit einer
erstickten Stimme, wie ich sie gar nicht von ihm kannte - er klang
wie ein Fremder.
»Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs
Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich
meine …«
Aber Vater hatte bereits stampfend und schnaufend
wie ein Güterzug den Rückzug in sein Arbeitszimmer
angetreten.
Als Mrs M. mit der Hand vor dem Mund das Kehrblech
holen lief, verdrückte ich mich ebenfalls in mein Zimmer.
Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren riesige,
düstere Zeppelin-Hangare, und meines, das sich im Süd-,
beziehungsweise »Tar«-Flügel befand, war das allergrößte. Die
frühviktorianische Tapete (senfgelb mit einem sonderbaren Muster,
das an blutrote Garnklumpen erinnerte) ließ es noch größer wirken:
eine kalte, uferlose, zugige Einöde. Sogar im Sommer war der Gang
quer durchs Zimmer zum fernen Waschtisch am Fenster ein Abenteuer,
vor dem jeder Polarforscher zurückgeschreckt wäre. Nicht zuletzt
deswegen schob ich diesen Gang auf und kletterte schnurstracks auf
mein Himmelbett, wo ich im Schneidersitz und in eine Wolldecke
gehüllt bis in alle Ewigkeit hocken und über mein Leben nachsinnen
konnte.
So dachte ich beispielsweise daran, wie ich
versucht hatte, mit einem Buttermesser Kratzproben von meiner nach
Gelbsucht aussehenden Tapete zu entnehmen. Dazu angeregt hatte mich
Daffy, als sie einmal mit vor Schreck geweiteten Augen eine
Geschichte von A. J. Cronin nacherzählt hatte, in der irgendein
armer Teufel erst krank wurde und dann starb, weil sein
Schlafzimmer mit arsenhaltiger Wandfarbe gestrichen war.
Hoffnungsvoll brachte ich die abgeschabten Brösel hoch ins Labor
zur Analyse.
Aber bei mir gab es keinen langweiligen Marsh-Test,
vielen Dank auch! Ich zog die Methode vor, bei der Arsen erst in
sein Trioxid umgewandelt wird, dann zusammen mit Natriumacetat
erhitzt wird, um Kakodyloxid zu ergeben. Letzteres ist nicht nur
eine der allergiftigsten Substanzen auf unserem Planeten, sondern
hat zusätzlich den Vorteil, dass sie abscheulich stinkt, nämlich
nach verschimmeltem Knoblauch, nur tausendmal schlimmer. Ihr
Entdecker Bunsen (der mit dem Brenner) hielt damals fest, dass
einem von einem Hauch davon nicht nur Hände und Füße kribbeln,
sondern sich auch auf der Zunge ein ekliger schwarzer Schleim
ablagert. Herr im Himmel, wie mannigfaltig sind doch deine
Werke!
Du kannst dir meine Enttäuschung sicher vorstellen,
als ich herausfand, dass meine Probe keinerlei Arsen enthielt. Die
Farbe bestand aus irgendeinem stinknormalen Pflanzensaft,
vermutlich von der gemeinen Salweide (Salix caprea) gewonnen
oder von einem anderen harmlosen, todlangweiligen Gewächs.
Irgendwie lenkte das meine Gedanken wieder zurück
zu Vater.
Warum hatte ihm die Entdeckung vor der Küchentür
solche Angst eingejagt? War es überhaupt Angst gewesen, was ich auf
seinem Gesicht gelesen hatte?
Doch, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel.
Was sollte es sonst gewesen sein? Mit Vaters Jähzorn, seiner
Ungeduld, seiner Übermüdung, seiner unvermittelten
Niedergeschlagenheit war ich nur allzu vertraut. Alle diese
Stimmungen zogen hin und wieder über sein Gesicht wie
Wolkenschatten über unsere englischen Hügel.
Dabei fürchtete sich Vater ganz gewiss nicht vor
toten Vögeln. Ich hatte schon oft zugesehen, wie er einer dicken,
runden, gebratenen Weihnachtsgans zu Leibe gerückt war und dabei
sein Besteck geschwungen hatte wie ein orientalischer Mordbube. Im
vorliegenden Fall durfte es ihm ja wohl kaum einen Schrecken
eingejagt haben, dass das Tier noch Federn gehabt hatte. Oder war
es das tote Auge gewesen?
Und die Briefmarke konnte es auch nicht gewesen
sein. Vater liebte Briefmarken mehr als seine eigenen Kinder. Das
Einzige, was er noch inniger geliebt hatte als diese bunten
Papierchen, war Harriet gewesen. Und die war, wie schon erwähnt,
tot.
So tot wie die Schnepfe.
War Vater deshalb so erschüttert gewesen?
»Nein! Nein! Geht weg!« Die barsche Stimme drang
durch mein offenes Fenster und schnitt meinen Gedankenfaden -
Schnips! - mitten durch.
Ich warf die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief
ans Fenster und spähte in den Küchengarten hinunter.
Es war Dogger, der da gerufen hatte. Er stand mit
dem Rücken an der Gartenmauer aus verwitterten roten Ziegeln und
spreizte die wettergegerbten Finger.
»Kommt mir ja nicht zu nahe! Haut ab!«
Dogger war Vaters Bediensteter, sein Faktotum. Und
er war allein im Garten.
Man munkelte - beziehungsweise Mrs Mullet munkelte
-, Dogger habe zwei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft
geschmachtet, gefolgt von über einem Jahr der Folter, des Hungers,
der Mangelernährung und Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie des
Todes, zwischen Thailand und Burma, wo er, so hieß es, gezwungen
gewesen war, sich von Rattenfleisch zu ernähren.
»Du musst nachsichtig mit ihm sein, Schatz«, hatte
sie gemeint. »Er ist völlig mit den Nerven runter.«
Ich schaute zu ihm hinab, wie er so im Gurkenbeet
stand, die vorzeitig weiß gewordenen Haare nach allen Seiten
abstehend und den Blick, allem Anschein nach ohne etwas zu sehen,
gen Himmel gerichtet.
»Ist schon gut, Dogger«, rief ich. »Ich hab sie von
hier oben aus im Griff.«
Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, doch
da wandte
er mir und meiner Stimme ganz langsam das Gesicht zu wie eine
Sonnenblume. Ich hielt den Atem an. Man kann nie wissen, wozu
jemand in einer solchen Verfassung fähig ist.
»Alles klar, Dogger«, rief ich. »Sie sind
weg.«
Da sackte er in sich zusammen, als hätte man ihm
den Strom abgeschaltet.
»Miss Flavia?« Seine Stimme bebte. »Bist du das,
Miss F lavia?«
»Ich komm runter!«, rief ich. »Bin gleich
da.«
Ich sauste wie ein geölter Blitz die Hintertreppe
hinunter in die Küche. Mrs Mullet war nach Hause gegangen, aber der
Schmandkuchen stand zum Abkühlen am offenen Fenster.
Nein, dachte ich, Dogger braucht jetzt etwas zu
trinken. Vater verwahrte seinen Whisky in einem verschlossenen
Bücherschrank in seinem Arbeitszimmer. Außerdem durfte ich ihn dort
nicht stören.
Zum Glück entdeckte ich in der Speisekammer einen
Krug kalter Milch. Ich goss ein großes Glas ein und rannte in den
Garten.
»Bitteschön!«
Dogger nahm das Glas mit beiden Händen entgegen,
starrte es lange an, als wüsste er nicht recht, was er damit
anfangen sollte, dann setzte er es zitternd an die Lippen. Er trank
es mit langen Zügen aus und gab es mir zurück.
Er sah beinahe glückselig aus, wie ein Engel von
Raffael, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch
wieder.
»Du hast einen weißen Schnurrbart«, stellte ich
fest, bückte mich zu den Gurken hinab, riss ein großes grünes Blatt
ab und wischte ihm damit über die Oberlippe.
Sein leerer Blick belebte sich.
»Milch und Gurken …«, stammelte er. »Gurken und
Milch …«
»Gift!«, rief ich, vollführte Luftsprünge und
schlug mit den Armen wie ein Huhn mit den Flügeln, um ihm zu
zeigen, dass
alles in Ordnung war. »Tödliches Gift!« Wir mussten beide ein
bisschen lachen.
Er blinzelte.
»Meine Güte!«, sagte er und sah sich im Garten um,
wie eine Prinzessin, die soeben aus einem hundertjährigen Schlaf
erwacht, »also, wenn das kein schöner Tag wird …!«
Vater erschien nicht zum Mittagessen. Probehalber
legte ich das Ohr an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und wartete so
lange, bis ich hörte, wie drinnen die Seiten der philatelistischen
Zeitschrift umgeblättert wurden und die väterliche Kehle sich
räusperte. Die Nerven, dachte ich mir.
Am Tisch war Daphne, die Nase tief in ihrem Horace
Walpole, ihr Gurkensandwich lag aufgeweicht und in Vergessenheit
geraten vor ihr. Ophelia seufzte unablässig vor sich hin, schlug
die Beine übereinander, dann wieder auseinander und schließlich
wieder übereinander und starrte ins Leere, sodass ich nur vermuten
konnte, dass sie in Gedanken mit Ned Cropper, dem Hansdampf in
allen Gassen aus dem Dreizehn Erpel, flirtete. Sie war viel
zu versunken in ihren überheblichen Tagtraum, um mitzubekommen,
dass ich mich vorbeugte und einen prüfenden Blick auf ihre Lippen
warf, als sie geistesabwesend nach einem Rohrzuckerwürfel langte,
ihn in den Mund steckte und draufloslutschte.
»Mensch«, verkündete ich aufs Geratewohl, »morgen
früh werden die Pickel aber prächtig sprießen.«
Sie stürzte sich auf mich, aber ich war schneller
als sie mit ihren Flossen.
Oben schrieb ich in mein Labortagebuch:
Freitag, 2. Juni 1950, 13.07 Uhr. Noch keine
erkennbare Reaktion. »Ohne Geduld keine Genialität« -
Disraeli
Ich konnte nicht einschlafen. Meistens schlafe ich
wie ein Stein, kaum dass das Licht aus ist, aber an diesem Abend
war es anders. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf
verschränkt, und ließ den Tag noch einmal an mir
vorüberziehen.
Da war zunächst der Vorfall mit Vater. Nein, das
war nicht ganz richtig. Zuerst hatte der tote Vogel auf der
Schwelle gelegen - dann hatte Vater auf den Anblick reagiert. Ich
glaubte zwar, Angst in seinem Gesicht gelesen zu haben, aber mich
plagte trotzdem ein klitzekleiner Zweifel.
In meinen Augen - in unser aller Augen - kannte
Vater keine Furcht. Er hatte im Krieg viel Schreckliches erlebt,
dermaßen Schreckliches, dass man ihn am besten nicht darauf
ansprach. Er hatte Harriets Verschwinden und die Nachricht von
ihrem Tod verkraftet. Und stets war er tapfer, standhaft, zäh und
unerschütterlich gewesen. Unglaublich britisch. Immer Haltung
bewahren! Aber diesmal …
Zum anderen der Vorfall mit Dogger: Arthur
Wellesley Dogger, um ihn »vollständig samt seinem Vatersnamen« (wie
er es an seinen besseren Tagen nannte) zu bezeichnen. Dogger war
ursprünglich als Vaters Diener zu uns gekommen; aber dann, als »die
äußerst vielfältigen Pflichten« (seine Worte, nicht meine), die
diese Stellung mit sich brachte, ihn gar zu sehr drückten, fand er
es »opportuner«, erst zum Butler ernannt zu werden, dann zum
Chauffeur, dann zum Haushandwerker und zu guter Letzt wieder zum
Chauffeur. In den letzten paar Monaten war er die Karriereleiter
wie ein welkes Blatt sanft hinuntergetrudelt, bis er auf seinem
gegenwärtigen Posten als Gärtner zur Ruhe gekommen war und Vater
unseren Hillman Kombi der Tombola von St. Tankred gestiftet
hatte.
Armer Dogger! So dachte ich, obwohl mich Daphne
ermahnt hatte, so dürfe man über niemanden denken oder sprechen.
»Das ist nicht nur herablassend, sondern schließt obendrein jede
künftige Verbesserung aus.«
Trotzdem. Wer hätte den Anblick vergessen können,
wie Dogger an der Mauer gestanden hatte? Ein einfältiger Bär von
einem Mann, der hilflos dasteht, die Haare ebenso in Unordnung wie
sein Werkzeug, und einer Miene, als ob … als ob …
Ein leises Rascheln lenkte mich ab. Ich drehte den
Kopf lauschend zur Seite.
Nichts.
Es ist nun mal so, dass ich zufälligerweise
unglaublich gut höre, dass ich, wie Vater einmal meinte, die
Spinnweben an den Wänden klappern höre wie Hufeisen. Auch Harriet
hat so gut gehört, und manchmal stelle ich mir vor, dass ich in
gewisser Hinsicht ein absurdes Überbleibsel von ihr bin: zwei
geisterhafte Ohren, die durch die heiligen Hallen von Buckshaw
spuken und Dinge hören, die vielleicht lieber ungehört
blieben.
Aber da war es wieder! Der Widerhall einer Stimme,
dumpf und tonlos, als raunte jemand in eine leere Keksdose.
Ich schlüpfte aus dem Bett und huschte auf
Zehenspitzen ans Fenster. Ohne den Vorhang beiseitezuziehen, spähte
ich in den Küchengarten hinunter, gerade als der Mond
zuvorkommenderweise hinter einer Wolke hervorglitt und die Szenerie
in ein Licht tauchte, wie es gut zu einer erstklassigen Aufführung
von Ein Sommernachtstraum gepasst hätte.
Aber mehr als seine silbernen Strahlen, die
zwischen Gurken und Rosen umhertanzten, war nicht zu
erkennen.
Dann hörte ich jemanden reden: eine Art zorniges
Brummen wie von einer Biene im Spätsommer, die gegen eine
Fensterscheibe fliegt. Ich warf einen von Harriets seidenen
japanischen Morgenmänteln über (einen von zweien, die ich vor der
großen Säuberung gerettet hatte), schlüpfte in die perlenbestickten
indianischen Mokassins, die mir als Hausschuhe dienten, und schlich
zum Treppenabsatz. Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus.
Auf Buckshaw gab es zwei Haupttreppen, die sich
spiegelbildlich
vom ersten Stock ins Erdgeschoss wanden, wo sie dicht vor dem
schwarzen Strich auf dem Boden endeten, der das im
Schachbrettmuster geflieste Foyer teilte. Meine Treppe, die des
»Tar«- oder Ostflügels, endete vor der weitläufigen, farbig
ausgemalten Eingangshalle zum Waffenmuseum im Westflügel. Dahinter
lag Vaters Arbeitszimmer. Von dort kam die Stimme, und dorthin zog
es mich.
Ich legte das Ohr an die Tür.
»Abgesehen davon, Schnäppi«, sagte eine schurkische
Stimme hinter der Täfelung, »wie konntest du mit dieser Erkenntnis
weiterleben? Wie konntest du einfach so weitermachen?«
Einen beklemmenden Augenblick lang dachte ich
schon, der Schauspieler Georg Sanders wäre nach Buckshaw gekommen
und würde Vater hinter verschlossenen Türen eine Gardinenpredigt
halten.
»Verschwinde«, sagte Vater. Sein Ton war zwar nicht
ärgerlich, aber so ruhig und beherrscht, dass ich genau wusste, wie
zornig er war. Ich sah seine gefurchte Stirn, seine geballten
Fäuste und die wie Bogensehnen gespannten Kiefermuskeln vor
mir.
»Reg dich ab, alter Junge«, entgegnete die ölige
Stimme. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ein für alle Mal. Das weißt
du genauso gut wie ich.«
»Twining hatte Recht«, sagte Vater. »Du bist
wirklich eine widerwärtige Kreatur.«
»Twining? Der olle Teebeutel ist doch inzwischen
seit drei ßig Jahren tot, Schnäppi, genau wie Jacob Marley. Und
ebenso wie Marleys treibt auch sein Geist noch immer sein Unwesen.
Wie dir vielleicht aufgefallen ist.«
»Und wir haben ihn umgebracht«, sagte Vater
tonlos.
Hatte ich mich verhört? Das konnte doch nicht
…
Ich nahm das Ohr von der Tür, beugte mich zum
Schlüsselloch hinunter und verpasste deshalb Vaters nächste Worte.
Er stand neben dem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür. Der
Fremde wandte mir den Rücken zu. Er war auffallend groß, bestimmt
eins neunzig, schätzte ich. Mit den roten Haaren und dem schäbigen
grauen Anzug erinnerte er mich an den Kanadakranich, der
ausgestopft in einer düsteren Ecke im Feuerwaffenmuseum
stand.
Ich spitzte wieder die Ohren.
»… Schande verjährt nicht«, sagte der Fremde. »Was
sind schon ein paar Tausender für dich, Schnäppi? Du musst nach
Harriets Tod doch einen ordentlichen Reibach gemacht haben. Mensch,
allein die Versicherung …«
»Halt dein dreckiges Maul!«, rief Vater. »Und
verschwinde, sonst …«
Da packte mich jemand von hinten und drückte mir
eine raue Hand auf den Mund. Mir blieb fast das Herz stehen.
Der Griff war so fest, dass ich nicht mal zappeln
konnte.
»Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir
jemand heiser ins Ohr.
Es war Dogger.
»Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh
wieder ins Bett.«
Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und
warf ihm einen giftigen Blick zu.
Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen,
dass sein Blick ein bisschen milder wurde.
»Zisch ab!«, raunte er.
Also zischte ich ab.
In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend
auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die
Rechnung gemacht hatte.
Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf
gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine
ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der
Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt!
Was bildete der Kerl sich überhaupt ein?
Dir werd ich’s zeigen, dachte ich.
»Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich
laut.
Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle
gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die
zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller,
warf mich aufs Bett und sang schallend:
»DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah,
DAH-dah-dah-dah …«
Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem
jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd
wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der
Träume wiegen lässt …
Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau
die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines
Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es
immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde
die Sonne aufgehen.
Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett.
Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der
Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig,
ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu
beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden
geschehen war.
Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten
hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen
Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte
Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte
liegen lassen.
Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung
richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was
ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich
mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter.
Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass
jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte
ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls
es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als
Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung
gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen.
Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten
Rhabarberoder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten
Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten
irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem
Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu
ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen
verfütterte.
Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige
Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt
hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages
jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder
Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter
einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf
in den Schoß gelegt hätte.
Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste
auf Hände und Knie.
»Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob
mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem
Lehm verschmiert.
»Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter.
Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich
da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas
Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir
die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen
weißen, dreisten Rechen handeln.
Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich
musste mir
eingestehen, dass es eine Hand war. Eine Hand an einem Arm; an
einem Arm, der sich tiefer ins Gurkenbeet hineinschlängelte.
Und dort, am Ende des Armes, von den zart
leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün
getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des
Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden.
Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille
war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder:
teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten
wollte.
Als ich wir schon beinahe mit den Nasen
zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf.
Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich
nicht rühren konnte.
Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte
dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort,
bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht:
»Vale«, sagte er.
Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den
Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen
Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge
lag.
Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem
chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus
einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief
in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis.
Dann brachen sie.
Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen
war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein
siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch
das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich
fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig
zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene,
metallische Tönung der Haut, als würde sie vor meinen Augen vom
Hauch des Todes gestreift.
Und dann diese absolute Stille.
Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet
hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit
Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte.