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Es überlief mich, wie es so schön heißt, eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph:
Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage, Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera … hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna …
Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an allein zurechtkommen müssen.
Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein!
Oder doch?
Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver.
»Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er mit einer erstickten Stimme, wie ich sie gar nicht von ihm kannte - er klang wie ein Fremder.
»Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich meine …«
Aber Vater hatte bereits stampfend und schnaufend wie ein Güterzug den Rückzug in sein Arbeitszimmer angetreten.
Als Mrs M. mit der Hand vor dem Mund das Kehrblech holen lief, verdrückte ich mich ebenfalls in mein Zimmer.
 
Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren riesige, düstere Zeppelin-Hangare, und meines, das sich im Süd-, beziehungsweise »Tar«-Flügel befand, war das allergrößte. Die frühviktorianische Tapete (senfgelb mit einem sonderbaren Muster, das an blutrote Garnklumpen erinnerte) ließ es noch größer wirken: eine kalte, uferlose, zugige Einöde. Sogar im Sommer war der Gang quer durchs Zimmer zum fernen Waschtisch am Fenster ein Abenteuer, vor dem jeder Polarforscher zurückgeschreckt wäre. Nicht zuletzt deswegen schob ich diesen Gang auf und kletterte schnurstracks auf mein Himmelbett, wo ich im Schneidersitz und in eine Wolldecke gehüllt bis in alle Ewigkeit hocken und über mein Leben nachsinnen konnte.
So dachte ich beispielsweise daran, wie ich versucht hatte, mit einem Buttermesser Kratzproben von meiner nach Gelbsucht aussehenden Tapete zu entnehmen. Dazu angeregt hatte mich Daffy, als sie einmal mit vor Schreck geweiteten Augen eine Geschichte von A. J. Cronin nacherzählt hatte, in der irgendein armer Teufel erst krank wurde und dann starb, weil sein Schlafzimmer mit arsenhaltiger Wandfarbe gestrichen war. Hoffnungsvoll brachte ich die abgeschabten Brösel hoch ins Labor zur Analyse.
Aber bei mir gab es keinen langweiligen Marsh-Test, vielen Dank auch! Ich zog die Methode vor, bei der Arsen erst in sein Trioxid umgewandelt wird, dann zusammen mit Natriumacetat erhitzt wird, um Kakodyloxid zu ergeben. Letzteres ist nicht nur eine der allergiftigsten Substanzen auf unserem Planeten, sondern hat zusätzlich den Vorteil, dass sie abscheulich stinkt, nämlich nach verschimmeltem Knoblauch, nur tausendmal schlimmer. Ihr Entdecker Bunsen (der mit dem Brenner) hielt damals fest, dass einem von einem Hauch davon nicht nur Hände und Füße kribbeln, sondern sich auch auf der Zunge ein ekliger schwarzer Schleim ablagert. Herr im Himmel, wie mannigfaltig sind doch deine Werke!
Du kannst dir meine Enttäuschung sicher vorstellen, als ich herausfand, dass meine Probe keinerlei Arsen enthielt. Die Farbe bestand aus irgendeinem stinknormalen Pflanzensaft, vermutlich von der gemeinen Salweide (Salix caprea) gewonnen oder von einem anderen harmlosen, todlangweiligen Gewächs.
Irgendwie lenkte das meine Gedanken wieder zurück zu Vater.
Warum hatte ihm die Entdeckung vor der Küchentür solche Angst eingejagt? War es überhaupt Angst gewesen, was ich auf seinem Gesicht gelesen hatte?
Doch, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel. Was sollte es sonst gewesen sein? Mit Vaters Jähzorn, seiner Ungeduld, seiner Übermüdung, seiner unvermittelten Niedergeschlagenheit war ich nur allzu vertraut. Alle diese Stimmungen zogen hin und wieder über sein Gesicht wie Wolkenschatten über unsere englischen Hügel.
Dabei fürchtete sich Vater ganz gewiss nicht vor toten Vögeln. Ich hatte schon oft zugesehen, wie er einer dicken, runden, gebratenen Weihnachtsgans zu Leibe gerückt war und dabei sein Besteck geschwungen hatte wie ein orientalischer Mordbube. Im vorliegenden Fall durfte es ihm ja wohl kaum einen Schrecken eingejagt haben, dass das Tier noch Federn gehabt hatte. Oder war es das tote Auge gewesen?
Und die Briefmarke konnte es auch nicht gewesen sein. Vater liebte Briefmarken mehr als seine eigenen Kinder. Das Einzige, was er noch inniger geliebt hatte als diese bunten Papierchen, war Harriet gewesen. Und die war, wie schon erwähnt, tot.
So tot wie die Schnepfe.
War Vater deshalb so erschüttert gewesen?
»Nein! Nein! Geht weg!« Die barsche Stimme drang durch mein offenes Fenster und schnitt meinen Gedankenfaden - Schnips! - mitten durch.
Ich warf die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und spähte in den Küchengarten hinunter.
Es war Dogger, der da gerufen hatte. Er stand mit dem Rücken an der Gartenmauer aus verwitterten roten Ziegeln und spreizte die wettergegerbten Finger.
»Kommt mir ja nicht zu nahe! Haut ab!«
Dogger war Vaters Bediensteter, sein Faktotum. Und er war allein im Garten.
Man munkelte - beziehungsweise Mrs Mullet munkelte -, Dogger habe zwei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft geschmachtet, gefolgt von über einem Jahr der Folter, des Hungers, der Mangelernährung und Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie des Todes, zwischen Thailand und Burma, wo er, so hieß es, gezwungen gewesen war, sich von Rattenfleisch zu ernähren.
»Du musst nachsichtig mit ihm sein, Schatz«, hatte sie gemeint. »Er ist völlig mit den Nerven runter.«
Ich schaute zu ihm hinab, wie er so im Gurkenbeet stand, die vorzeitig weiß gewordenen Haare nach allen Seiten abstehend und den Blick, allem Anschein nach ohne etwas zu sehen, gen Himmel gerichtet.
»Ist schon gut, Dogger«, rief ich. »Ich hab sie von hier oben aus im Griff.«
Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, doch da wandte er mir und meiner Stimme ganz langsam das Gesicht zu wie eine Sonnenblume. Ich hielt den Atem an. Man kann nie wissen, wozu jemand in einer solchen Verfassung fähig ist.
»Alles klar, Dogger«, rief ich. »Sie sind weg.«
Da sackte er in sich zusammen, als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.
»Miss Flavia?« Seine Stimme bebte. »Bist du das, Miss F lavia?«
»Ich komm runter!«, rief ich. »Bin gleich da.«
Ich sauste wie ein geölter Blitz die Hintertreppe hinunter in die Küche. Mrs Mullet war nach Hause gegangen, aber der Schmandkuchen stand zum Abkühlen am offenen Fenster.
Nein, dachte ich, Dogger braucht jetzt etwas zu trinken. Vater verwahrte seinen Whisky in einem verschlossenen Bücherschrank in seinem Arbeitszimmer. Außerdem durfte ich ihn dort nicht stören.
Zum Glück entdeckte ich in der Speisekammer einen Krug kalter Milch. Ich goss ein großes Glas ein und rannte in den Garten.
»Bitteschön!«
Dogger nahm das Glas mit beiden Händen entgegen, starrte es lange an, als wüsste er nicht recht, was er damit anfangen sollte, dann setzte er es zitternd an die Lippen. Er trank es mit langen Zügen aus und gab es mir zurück.
Er sah beinahe glückselig aus, wie ein Engel von Raffael, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch wieder.
»Du hast einen weißen Schnurrbart«, stellte ich fest, bückte mich zu den Gurken hinab, riss ein großes grünes Blatt ab und wischte ihm damit über die Oberlippe.
Sein leerer Blick belebte sich.
»Milch und Gurken …«, stammelte er. »Gurken und Milch …«
»Gift!«, rief ich, vollführte Luftsprünge und schlug mit den Armen wie ein Huhn mit den Flügeln, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. »Tödliches Gift!« Wir mussten beide ein bisschen lachen.
Er blinzelte.
»Meine Güte!«, sagte er und sah sich im Garten um, wie eine Prinzessin, die soeben aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht, »also, wenn das kein schöner Tag wird …!«
 
Vater erschien nicht zum Mittagessen. Probehalber legte ich das Ohr an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und wartete so lange, bis ich hörte, wie drinnen die Seiten der philatelistischen Zeitschrift umgeblättert wurden und die väterliche Kehle sich räusperte. Die Nerven, dachte ich mir.
Am Tisch war Daphne, die Nase tief in ihrem Horace Walpole, ihr Gurkensandwich lag aufgeweicht und in Vergessenheit geraten vor ihr. Ophelia seufzte unablässig vor sich hin, schlug die Beine übereinander, dann wieder auseinander und schließlich wieder übereinander und starrte ins Leere, sodass ich nur vermuten konnte, dass sie in Gedanken mit Ned Cropper, dem Hansdampf in allen Gassen aus dem Dreizehn Erpel, flirtete. Sie war viel zu versunken in ihren überheblichen Tagtraum, um mitzubekommen, dass ich mich vorbeugte und einen prüfenden Blick auf ihre Lippen warf, als sie geistesabwesend nach einem Rohrzuckerwürfel langte, ihn in den Mund steckte und draufloslutschte.
»Mensch«, verkündete ich aufs Geratewohl, »morgen früh werden die Pickel aber prächtig sprießen.«
Sie stürzte sich auf mich, aber ich war schneller als sie mit ihren Flossen.
Oben schrieb ich in mein Labortagebuch:
Freitag, 2. Juni 1950, 13.07 Uhr. Noch keine erkennbare Reaktion. »Ohne Geduld keine Genialität« - Disraeli
Ich konnte nicht einschlafen. Meistens schlafe ich wie ein Stein, kaum dass das Licht aus ist, aber an diesem Abend war es anders. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und ließ den Tag noch einmal an mir vorüberziehen.
Da war zunächst der Vorfall mit Vater. Nein, das war nicht ganz richtig. Zuerst hatte der tote Vogel auf der Schwelle gelegen - dann hatte Vater auf den Anblick reagiert. Ich glaubte zwar, Angst in seinem Gesicht gelesen zu haben, aber mich plagte trotzdem ein klitzekleiner Zweifel.
In meinen Augen - in unser aller Augen - kannte Vater keine Furcht. Er hatte im Krieg viel Schreckliches erlebt, dermaßen Schreckliches, dass man ihn am besten nicht darauf ansprach. Er hatte Harriets Verschwinden und die Nachricht von ihrem Tod verkraftet. Und stets war er tapfer, standhaft, zäh und unerschütterlich gewesen. Unglaublich britisch. Immer Haltung bewahren! Aber diesmal …
Zum anderen der Vorfall mit Dogger: Arthur Wellesley Dogger, um ihn »vollständig samt seinem Vatersnamen« (wie er es an seinen besseren Tagen nannte) zu bezeichnen. Dogger war ursprünglich als Vaters Diener zu uns gekommen; aber dann, als »die äußerst vielfältigen Pflichten« (seine Worte, nicht meine), die diese Stellung mit sich brachte, ihn gar zu sehr drückten, fand er es »opportuner«, erst zum Butler ernannt zu werden, dann zum Chauffeur, dann zum Haushandwerker und zu guter Letzt wieder zum Chauffeur. In den letzten paar Monaten war er die Karriereleiter wie ein welkes Blatt sanft hinuntergetrudelt, bis er auf seinem gegenwärtigen Posten als Gärtner zur Ruhe gekommen war und Vater unseren Hillman Kombi der Tombola von St. Tankred gestiftet hatte.
Armer Dogger! So dachte ich, obwohl mich Daphne ermahnt hatte, so dürfe man über niemanden denken oder sprechen. »Das ist nicht nur herablassend, sondern schließt obendrein jede künftige Verbesserung aus.«
Trotzdem. Wer hätte den Anblick vergessen können, wie Dogger an der Mauer gestanden hatte? Ein einfältiger Bär von einem Mann, der hilflos dasteht, die Haare ebenso in Unordnung wie sein Werkzeug, und einer Miene, als ob … als ob …
Ein leises Rascheln lenkte mich ab. Ich drehte den Kopf lauschend zur Seite.
Nichts.
Es ist nun mal so, dass ich zufälligerweise unglaublich gut höre, dass ich, wie Vater einmal meinte, die Spinnweben an den Wänden klappern höre wie Hufeisen. Auch Harriet hat so gut gehört, und manchmal stelle ich mir vor, dass ich in gewisser Hinsicht ein absurdes Überbleibsel von ihr bin: zwei geisterhafte Ohren, die durch die heiligen Hallen von Buckshaw spuken und Dinge hören, die vielleicht lieber ungehört blieben.
Aber da war es wieder! Der Widerhall einer Stimme, dumpf und tonlos, als raunte jemand in eine leere Keksdose.
Ich schlüpfte aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen ans Fenster. Ohne den Vorhang beiseitezuziehen, spähte ich in den Küchengarten hinunter, gerade als der Mond zuvorkommenderweise hinter einer Wolke hervorglitt und die Szenerie in ein Licht tauchte, wie es gut zu einer erstklassigen Aufführung von Ein Sommernachtstraum gepasst hätte.
Aber mehr als seine silbernen Strahlen, die zwischen Gurken und Rosen umhertanzten, war nicht zu erkennen.
Dann hörte ich jemanden reden: eine Art zorniges Brummen wie von einer Biene im Spätsommer, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Ich warf einen von Harriets seidenen japanischen Morgenmänteln über (einen von zweien, die ich vor der großen Säuberung gerettet hatte), schlüpfte in die perlenbestickten indianischen Mokassins, die mir als Hausschuhe dienten, und schlich zum Treppenabsatz. Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus.
Auf Buckshaw gab es zwei Haupttreppen, die sich spiegelbildlich vom ersten Stock ins Erdgeschoss wanden, wo sie dicht vor dem schwarzen Strich auf dem Boden endeten, der das im Schachbrettmuster geflieste Foyer teilte. Meine Treppe, die des »Tar«- oder Ostflügels, endete vor der weitläufigen, farbig ausgemalten Eingangshalle zum Waffenmuseum im Westflügel. Dahinter lag Vaters Arbeitszimmer. Von dort kam die Stimme, und dorthin zog es mich.
Ich legte das Ohr an die Tür.
»Abgesehen davon, Schnäppi«, sagte eine schurkische Stimme hinter der Täfelung, »wie konntest du mit dieser Erkenntnis weiterleben? Wie konntest du einfach so weitermachen?«
Einen beklemmenden Augenblick lang dachte ich schon, der Schauspieler Georg Sanders wäre nach Buckshaw gekommen und würde Vater hinter verschlossenen Türen eine Gardinenpredigt halten.
»Verschwinde«, sagte Vater. Sein Ton war zwar nicht ärgerlich, aber so ruhig und beherrscht, dass ich genau wusste, wie zornig er war. Ich sah seine gefurchte Stirn, seine geballten Fäuste und die wie Bogensehnen gespannten Kiefermuskeln vor mir.
»Reg dich ab, alter Junge«, entgegnete die ölige Stimme. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ein für alle Mal. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Twining hatte Recht«, sagte Vater. »Du bist wirklich eine widerwärtige Kreatur.«
»Twining? Der olle Teebeutel ist doch inzwischen seit drei ßig Jahren tot, Schnäppi, genau wie Jacob Marley. Und ebenso wie Marleys treibt auch sein Geist noch immer sein Unwesen. Wie dir vielleicht aufgefallen ist.«
»Und wir haben ihn umgebracht«, sagte Vater tonlos.
Hatte ich mich verhört? Das konnte doch nicht …
Ich nahm das Ohr von der Tür, beugte mich zum Schlüsselloch hinunter und verpasste deshalb Vaters nächste Worte. Er stand neben dem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür. Der Fremde wandte mir den Rücken zu. Er war auffallend groß, bestimmt eins neunzig, schätzte ich. Mit den roten Haaren und dem schäbigen grauen Anzug erinnerte er mich an den Kanadakranich, der ausgestopft in einer düsteren Ecke im Feuerwaffenmuseum stand.
Ich spitzte wieder die Ohren.
»… Schande verjährt nicht«, sagte der Fremde. »Was sind schon ein paar Tausender für dich, Schnäppi? Du musst nach Harriets Tod doch einen ordentlichen Reibach gemacht haben. Mensch, allein die Versicherung …«
»Halt dein dreckiges Maul!«, rief Vater. »Und verschwinde, sonst …«
Da packte mich jemand von hinten und drückte mir eine raue Hand auf den Mund. Mir blieb fast das Herz stehen.
Der Griff war so fest, dass ich nicht mal zappeln konnte.
»Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir jemand heiser ins Ohr.
Es war Dogger.
»Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.«
Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und warf ihm einen giftigen Blick zu.
Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen, dass sein Blick ein bisschen milder wurde.
»Zisch ab!«, raunte er.
Also zischte ich ab.
In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt! Was bildete der Kerl sich überhaupt ein?
Dir werd ich’s zeigen, dachte ich.
»Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich laut.
Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller, warf mich aufs Bett und sang schallend:
»DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah …«
Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der Träume wiegen lässt …
 
Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde die Sonne aufgehen.
Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett. Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig, ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden geschehen war.
Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte liegen lassen.
Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter.
Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen.
Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten Rhabarberoder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen verfütterte.
Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf in den Schoß gelegt hätte.
Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste auf Hände und Knie.
»Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem Lehm verschmiert.
»Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter.
Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen weißen, dreisten Rechen handeln.
Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich musste mir eingestehen, dass es eine Hand war. Eine Hand an einem Arm; an einem Arm, der sich tiefer ins Gurkenbeet hineinschlängelte.
Und dort, am Ende des Armes, von den zart leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden.
Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder: teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten wollte.
Als ich wir schon beinahe mit den Nasen zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf.
Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich nicht rühren konnte.
Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort, bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht:
»Vale«, sagte er.
Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge lag.
Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis.
Dann brachen sie.
Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene, metallische Tönung der Haut, als würde sie vor meinen Augen vom Hauch des Todes gestreift.
Und dann diese absolute Stille.
Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte.