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Und mit wem hast du da draußen
gesprochen?«, wollte Inspektor Hewitt wissen.
»Mit Dogger.«
»Vorname?«
»Flavia.« Ich konnte es mir nicht verkneifen.
Wir saßen auf einem der Regency-Sofas im
Rosenzimmer. Der Inspektor drückte die Mine seines Kugelschreibers
heraus und drehte sich zu mir herum.
»Falls es dir noch nicht klar sein sollte, Fräulein
de Luce - nicht dass ich daran zweifeln würde -, sage ich dir gern
noch einmal in aller Deutlichkeit, dass es sich hier um die
Ermittlungen in einem Mordfall handelt. Da dulde ich keine
Albernheiten. Ein Mensch ist tot, und es ist meine Aufgabe,
herauszufinden, warum, wann, wie und vielleicht auch durch wessen
Hand. Und wenn mir das gelungen ist, besteht meine nächste Aufgabe
darin, besagten Fall der Krone klipp und klar darzulegen. Soll
heißen, König Georg VI., und König Georg VI. ist kein alberner
Mensch. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Sir. Mit Vornamen heißt er Arthur. Arthur
Dogger.«
»Und er ist Gärtner hier auf Buckshaw?«
»Momentan ja.«
Der Inspektor hatte ein schwarzes Büchlein
aufgeschlagen und machte sich in winzig kleiner Handschrift
Notizen.
»Also nicht schon immer?«
»Dogger ist Mädchen für alles«, erläuterte ich.
»Bis er es mit den Nerven gekriegt hat, war er unser Chauffeur
…«
Obwohl ich in die andere Richtung schaute, spürte
ich den forschenden Blick des Kriminalisten auf mir.
»Das kommt vom Krieg«, ergänzte ich. »Er war
Kriegsgefangener. Vater fand … Er wollte ihm wieder …«
»Verstehe.« Inspektor Hewitts Ton war mit einem Mal
deutlich milder. »Dogger fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Er fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Du bist ein ungewöhnliches Mädchen«, sagte der
Inspektor. »Eigentlich würde ich mich lieber in Anwesenheit eines
Elternteils mit dir unterhalten, aber da dein Vater ja leider
indisponiert ist …«
Indisponiert? Ach ja! Beinahe hätte ich meine
eigene Ausrede vergessen.
Trotz meines vorübergehend verwirrten
Gesichtsausdrucks fuhr der Inspektor fort: »Du hast Doggers
Zwischenspiel als Chauffeur erwähnt. Besitzt dein Vater immer noch
ein Automobil?«
Ja, er hatte noch eins: einen alten Rolls-Royce
Phantom II, der nun in der alten Remise stand. Eigentlich war es
Harriets Auto gewesen. Seit die Nachricht von ihrem Tod auf
Buckshaw eingetroffen war, ist es nicht mehr gefahren worden.
Obwohl Vater selbst nicht fahren konnte, gestattete er niemandem,
den Wagen anzurühren.
So kam es, dass die Karosserie dieses prächtigen
alten Vollbluts mit der langen schwarzen Motorhaube, dem hohen
vernickelten Kühlergrill mit der Figur der Pallas Athene darauf und
dem ineinander verschlungenen Doppel-R längst von vorwitzigen
Feldmäusen in Beschlag genommen worden war. Die Tierchen hatten
sich durch die hölzernen Bodenbretter Einlass verschafft und
nisteten nun im Handschuhfach aus Mahagoniholz. Trotz seines
erbärmlichen Zustands hieß der Wagen bei uns immer noch manchmal
»unser Royce«, wie so manche Leute von Rang und Namen diese Vehikel
nennen.
»›Rolls‹ sagen nur die Bauern«, hatte Feely
behauptet, als ich mich in ihrer Anwesenheit einmal versprochen
hatte.
Immer wenn ich ungestört sein wollte, kletterte ich
in Harriets eingestaubten, schummrigen Royce Roller und saß
stundenlang in der Bruthitze auf durchgesessenen Plüschpolstern,
umgeben von sprödem, angenagtem Leder.
Die unerwartete Frage des Inspektors ließ mich an
einen dunklen, stürmischen Tag im letzten Herbst denken, einen Tag,
an dem ein heftiger Sturm den Regen sturzbachartig auf das Haus
hatte niedergehen lassen. Da es wegen womöglich abbrechender Äste
zu gefährlich war, im Wald oberhalb von Buckshaw spazieren zu
gehen, hatte ich mich aus dem Haus geschlichen und mich durch den
Wind in die Remise gekämpft, um dort in aller Ruhe meinen Gedanken
nachzuhängen. Drinnen blinkte der Phantom matt im Dämmerlicht,
während der Sturm wie eine Horde mordlustiger Berghexen vor dem
Fenster heulte, kreischte und klapperte. Erst als meine Hand schon
auf dem Türgriff lag, bemerkte ich, dass im Wagen jemand saß. Ich
wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen. Dann erkannte ich Vater.
Er saß ganz still da, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er
schien von dem Unwetter überhaupt nichts mitzubekommen.
Eine ganze Weile rührte ich mich nicht von der
Stelle, wagte weder mich zu bewegen noch zu atmen. Aber als Vater
langsam die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, ließ ich mich
geräuschlos wie ein Turner in die Hocke sinken und rollte mich
unter das Auto. Aus dem Augenwinkel sah ich einen blitzblank
gewienerten Schaftstiefel vom Trittbrett steigen, und als Vater
davonschlurfte, hörte ich, wie ihm eine Art heiseres Schluchzen
entfuhr. Ich blieb noch lange dort liegen und betrachtete den
Wagenboden von Harriets Rolls-Royce von unten.
»Ja«, sagte ich, »draußen in der Remise steht ein
alter Phantom.«
»Aber dein Vater fährt ihn nicht.«
»Nein.«
»Aha.«
Der Inspektor legte Stift und Notizbuch so behutsam
auf den Tisch, als wären sie aus Muranoglas.
»Flavia«, sagte er (mir fiel natürlich sofort auf,
dass ich nicht mehr »Miss de Luce« war), »ich muss dir jetzt eine
sehr wichtige Frage stellen. Deine Antwort ist von entscheidender
Bedeutung, klar?«
Ich nickte.
»Ich weiß, dass du den … Vorfall gemeldet hast.
Aber wer hat die Leiche gefunden?«
Ich kam gedanklich ins Schwimmen. Würde es Vater
belasten, wenn ich die Wahrheit sagte? Wusste die Polizei bereits,
dass ich Dogger gebeten hatte, mich zum Gurkenbeet zu begleiten?
Anscheinend nicht, denn der Inspektor hatte ja eben erst von
Doggers Vorhandensein erfahren, weshalb es nur folgerichtig war,
dass er ihn noch nicht vernommen hatte. Was aber würde er ihnen
gegebenenfalls alles erzählen? Wen von uns beiden würde er decken -
Vater oder mich? Gab es eventuell eine neue Untersuchungsmethode,
mittels derer man feststellen konnte, dass das Opfer noch am Leben
gewesen war, als ich es gefunden hatte?
»Ich!«, platzte ich heraus. »Ich hab die Leiche
gefunden.« Ich kam mir vor wie Cock Robin aus dem Zeichentrickfilm
von Walt Disney.
»Das hab ich mir schon gedacht«, lautete Inspektor
Hewitts Erwiderung.
Daraufhin trat eine peinliche Stille ein, die erst
durch das Eintreten von Sergeant Woolmer beendet wurde, der
mithilfe seines massigen Leibes Vater vor sich her ins Zimmer
schob.
»Wir haben ihn draußen im Wagenschuppen entdeckt,
Sir«, verkündete der Sergeant. »Hatte sich in einem alten Automobil
verkrochen.«
»Wer, wenn ich fragen darf, sind Sie, Sir?«,
fragte Vater. Er
war wütend, und einen flüchtigen Augenblick lang sah ich in ihm
den Mann, der er früher einmal gewesen sein musste. »Wer sind Sie,
und was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«
»Ich bin Inspektor Hewitt, Sir.« Der Inspektor
stand auf. »Vielen Dank, Sergeant Woolmer.«
Der Sergeant ging rückwärts, bis er durch die Tür
war, dann drehte er sich um und verschwand.
»Nun?«, fragte Vater. »Gibt es irgendein Problem,
Inspektor?«
»Leider ja, Sir. In Ihrem Garten wurde eine Leiche
gefunden.«
»Eine Leiche? Sie meinen, ein … Toter?«
Inspektor Hewitt nickte. »Jawohl, Sir.«
»Wer denn? Ich meine, wer ist es?«
Da erst fiel mir auf, dass Vater weder blaue
Flecken noch Kratzer hatte, weder Schnitt- noch Schürfwunden
aufwies … zumindest keine sichtbaren. Mir fiel auch auf, dass er
ganz allmählich erbleichte, bis auf die Ohren, die den Farbton von
knallrosa Knetmasse annahmen.
Auch dem Inspektor war das nicht entgangen. Er
beantwortete Vaters Frage nicht gleich, sondern ließ sie im Raum
stehen.
Vater drehte sich um und wanderte in großem Bogen
zur Hausbar, wobei er im Gehen mit den Fingern über jedes Möbel
strich. Er mischte sich einen Votrix mit Gin und kippte ihn auf
einen Zug hinunter, und zwar mit einer eleganten Zielstrebigkeit,
die mehr an diesbezüglicher Praxis verriet, als ich für möglich
gehalten hätte.
»Wir haben den Betreffenden noch nicht
identifiziert, Colonel de Luce. Eigentlich hatten wir gehofft, Sie
könnten uns in dieser Hinsicht weiterhelfen.«
Vater wurde womöglich noch blasser, und seine Ohren
leuchteten noch röter.
»Tut mir leid, Inspektor«, erwiderte er kaum
hörbar. »Bitte
verlangen Sie nicht von mir … Wissen Sie, der Tod ist etwas, womit
ich nicht gut umgehen kann …«
Nicht gut umgehen? Vater war ein altgedienter
Soldat, und bei Soldaten gehörte der Tod zum Leben dazu, ja, sie
lebten für den Tod, lebten vom Tod. Für einen
Berufssoldaten war der Tod, so sonderbar das klingen mag, sein
Leben. Das wusste ja sogar ich.
Und ich wusste auch sofort, dass Vater gelogen
hatte, und in diesem Augenblick riss unvermittelt irgendwo in mir
ein kleiner Faden. Als sei ich auf einen Schlag erwachsener
geworden und etwas Altes in mir zerbrochen.
»Verstehe, Sir«, entgegnete Inspektor Hewitt. »Aber
solange sich uns keine anderen Möglichkeiten anbieten …«
Vater holte ein Taschentuch heraus und wischte sich
die Stirn - und dann den Hals.
»Wissen Sie, ich bin doch einigermaßen
erschüttert«, entschuldigte er sich. »Das Ganze …«
Er machte eine fahrige Geste, und Inspektor Hewitt
griff wieder zu seinem Notizbuch, blätterte um und fing an zu
schreiben. Vater ging langsam zum Fenster, tat so, als schaute er
in die Landschaft hinaus, die ich in allen Einzelheiten vor mir
sah: der künstliche See, die Insel mit der künstlichen Ruine, die
Brunnen, die seit Kriegsausbruch abgestellt waren, dahinter die
Hügel.
»Sind Sie den ganzen Morgen zu Hause gewesen?«,
fragte der Inspektor unvermittelt.
»Wie bitte?« Vater fuhr herum.
»Haben Sie seit gestern Abend irgendwann das Haus
verlassen?«
Vater ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Ja«, sagte er schließlich. »Heute früh. Da war ich
in der Remise.«
Ich verkniff mir ein Grinsen. Sherlock Holmes hatte
einmal über seinen Bruder Mycroft gesagt, ihn außerhalb des
Diogenes
Clubs anzutreffen sei so selten wie eine Straßenbahn auf der
Landstraße. Wie Mycroft bewegte sich auch Vater auf seinen immer
gleichen Schienen. Mit Ausnahme des Kirchgangs und ab und zu einem
kurz entschlossenen Gang zum Bahnhof, um eine
Briefmarkenausstellung zu besuchen, setzte Vater selten, wenn
überhaupt, einen Fuß vor die Tür.
»Wann war das ungefähr, Colonel?«
»Gegen vier. Vielleicht ein bisschen früher.«
»Und Sie waren … wie lange in der Remise?«
Der Inspektor sah wieder auf die Armbanduhr.
»Fünfeinhalb Stunden? Von vier Uhr früh bis gerade
eben?«
»Ja, bis gerade eben«, bestätigte Vater. Er war es
nicht gewohnt, vernommen zu werden, und auch wenn der Inspektor
nichts zu merken schien, ich hörte meinem Vater an, dass er
immer gereizter wurde.
»Aha. Gehen Sie oft um diese Tageszeit aus dem
Haus?«
Die Frage des Inspektors klang beiläufig, war
beinahe im Plauderton gehalten, aber ich spürte, dass dem
mitnichten so war.
»Nein, eigentlich nicht, nein«, erwiderte Vater.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
Inspektor Hewitt tippte sich mit dem Kugelschreiber
auf die Nasenspitze, als müsste er seine nächste Anfrage an einen
Parlamentsausschuss formulieren.
»Sind Sie draußen irgendjemandem begegnet?«
»Nein, natürlich nicht. Keiner
Menschenseele.«
Der Inspektor nahm den Kugelschreiber kurz von der
Nase und notierte sich etwas.
»Niemandem?«
»Nein.«
Als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst,
nickte der Inspektor bedächtig und enttäuscht und steckte sein
Büchlein seufzend ein.
»Ach, eine Frage noch, Colonel, wenn es Ihnen
nichts ausmacht«, sagte er dann, als wäre ihm gerade noch etwas
eingefallen. »Was haben Sie denn da draußen in der Remise
gemacht?«
Vater ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen
und mahlte mit dem Unterkiefer. Dann wandte er sich um und sah dem
Inspektor ins Gesicht.
»Ich bin wohl nicht verpflichtet, Ihnen darüber
Auskunft zu erteilen.«
»Auch gut«, entgegnete der Inspektor. »Ich glaube,
ich …«
Da schob Mrs Mullet mit ihrem ausladenden
Hinterteil die Tür auf und kam mit einem schwer beladenen Tablett
hereingewatschelt.
»Ich bringe Ihnen etwas Gewürzkuchen!«, verkündete
sie. »Gewürzkuchen, Tee und ein schönes Glas Milch für Miss
Flavia.«
Gewürzkuchen und Milch! Ich verabscheute Mrs
Mullets Gewürzkuchen ebenso wie der heilige Paulus die Sünde.
Vielleicht sogar noch mehr. Am liebsten wäre ich auf den Tisch
geklettert und hätte, mit einer auf die Gabel gespießten Wurst als
Zepter, in meinem besten Laurence-Olivier-Tonfall deklamiert: »Will
uns denn niemand von dieser aufdringlichen Bäckerin erlösen?«
Aber ich beherrschte mich und blieb ganz
friedlich.
Mit einem angedeuteten Knicks stellte Mrs Mullet
ihre Last vor Inspektor Hewitt ab, dann erst erblickte sie Vater,
der noch am Fenster stand.
»Huch! Da sind Sie ja, Colonel de Luce! Ich wollte
Ihnen doch noch sagen, dass ich den Vogel von der gestrigen
Türschwelle weggeschafft hab.«
Von irgendwoher hatte Mrs Mullet die fixe Idee,
solche verqueren Sätze seien nicht nur sehr eigen, sondern geradezu
poetisch.
Ehe Vater auf diese unerwartete Wendung der
Unterhaltung
eingehen konnte, hatte Inspektor Hewitt wieder die Führung
übernommen.
»Ein toter Vogel auf der Schwelle? Erzählen Sie mir
mehr davon, Mrs Mullet?«
»Na ja, Sir, der Colonel und ich und Miss Flavia
waren in der Küche. Ich hatte gerade einen schönen Schmandkuchen
aus dem Ofen geholt und zum Abkühlen ans Fenster gestellt. Es war
um die Zeit, wo ich für gewöhnlich dran denke, mich auf den Heimweg
zu Alf zu machen. Alf ist nämlich mein Mann, Sir, und er kann’s gar
nicht leiden, wenn ich um die Abendbrotzeit woanders rumtrödele. Er
meint immer, es macht ihn ganz kribbelig, wenn seine Verdauung aus
dem Rhythmus kommt. Wenn seine Verdauung nämlich erst mal Kobolz
schießt, dann ist wirklich Matthäi am Letzten, dann helfen nur noch
Mopp und Eimer und so weiter.«
»Und um welche Uhrzeit war das nun, Mrs
Mullet?«
»Ungefähr um sieben oder Viertel nach sieben. Ich
komm nämlich immer vier Stunden am Vormittag, von acht bis zwölf,
und drei am Nachmittag, von eins bis vier.« Dabei warf sie Vater
einen überraschend finsteren Blick zu, aber der schaute immer noch
scheinbar gebannt aus dem Fenster und bekam nichts mit. »Aber
meistens werd ich noch wegen diesem oder jenem aufgehalten.«
»Und was war nun mit dem Vogel?«
»Der lag mausetot auf der Schwelle. Eine Schnepfe
war’s, eine Zwergschnepfe. Weiß Gott, von denen hab ich mein Lebtag
so manche gespickt und gebraten. Der Vogel hat mir einen
Heidenschrecken eingejagt, als ich ihn da auf der Schwelle hab
liegen sehen, und die Federn haben sich im Wind bewegt, als wären
sie noch lebendig, obwohl das Herz längst nicht mehr geschlagen
hat. Das hab ich auch zu Alf gesagt. ›Alf‹, sag ich, ›der Vogel hat
dagelegen, als wärn die Federn noch lebendig …‹«
»Ihnen entgeht offenbar nichts, Mrs Mullet«, lobte
Inspektor
Hewitt sie, worauf sie rosige Wangen bekam und sich wie eine
Kropftaube aufplusterte. »Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«
»Na ja, Sir, auf dem Schnäbelchen steckte’ne
Briefmarke, als hätt das arme Ding sie uns bringen wollen, wie der
Storch die kleinen Kinder bringt, wenn Sie verstehen, was ich
meine, aber eigentlich natürlich ganz anders.«
»Eine Briefmarke, Mrs Mullet? Was für eine
Briefmarke?«
»Eine Briefmarke halt, aber nicht so eine, wie sie
heute auf die Briefe geklebt werden, o nein. Die Königin war drauf
abgebildet. Nicht unsre jetzige Königin, Gott schütze sie, sondern
unsre alte … wie hieß sie doch gleich … Königin Viktoria!
Jedenfalls wär sie drauf abgebildet gewesen, wenn der Vogel nicht
den Schnabel durch ihr Gesicht gepiekt hätte.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Hand aufs Herz, Sir! Alf hat als junger Kerl mal
Briefmarken gesammelt, und er hebt heute noch ein paar von den
Dingern in einer alten Keksdose unter dem Sofa oben in der Diele
auf. Er holt sie nicht mehr so oft raus wie früher, als wir beide
noch jung waren, weil er dann immer ganz traurig wird, sagt er.
Aber trotzdem erkenn ich eine Schwarze Queen Victoria, die
sogenannte Penny Black, immer und überall auf den ersten Blick, ob
sie nun auf’nem Vogelschnabel steckt oder nicht.«
»Vielen Dank, Mrs Mullet.« Inspektor Hewitt nahm
sich ein Stück Kuchen. »Sie haben uns sehr geholfen.«
Mrs Mullet knickste noch einmal und ging zur
Tür.
»Ist doch komisch, hab ich zu Alf gesagt,
eigentlich lassen sich hier bei uns in England bis September gar
keine Zwergschnepfen blicken. Und ich hab weiß Gott schon viele
Zwergschnepfen gebraten und auf Toast serviert. Mrs Harriet, Gott
sei ihrer Seele gnädig, hat nichts lieber gegessen als einen
schönen …«
Hinter mir ächzte jemand, und als ich mich
umdrehte, sah ich gerade noch, wie Vater zusammenklappte wie ein
Campingstuhl und zu Boden plumpste.
Ich muss sagen, der Inspektor machte das sehr gut.
Mit einem Satz war er bei Vater, legte ihm das Ohr auf die Brust,
lockerte ihm die Krawatte und prüfte mit dem Finger, ob irgendetwas
Vaters Atem behinderte. Allem Anschein nach hatte er im E
rste-Hilfe-Kurs nicht geschlafen. Dann riss er das Fenster auf und
pfiff so gekonnt und schrill auf den Fingern, dass ich ihm etwas
dafür bezahlt hätte, wenn er es mir beigebracht hätte.
»Dr. Darby!«, rief er. »Kommen Sie bitte schnell!
Und bringen Sie Ihre Tasche mit!«
Ich stand immer noch mit vor den Mund geschlagener
Hand da, als Dr. Darby mit langen Schritten hereinkam und sich
neben Vater kniete. Nach einer kurzen, systematischen Untersuchung
holte er ein kleines blaues Arzneifläschchen aus seiner
Tasche.
»Eine Synkope«, wandte er sich an Inspektor Hewitt,
und zu Mrs Mullett und mir sagte er: »Soll heißen, er ist
ohnmächtig. Nichts Schlimmes.«
Uff!
Der Doktor entstöpselte das Fläschchen, und ehe er
es Vater unter die Nase hielt, erkannte ich den vertrauten Duft: Es
war mein guter alter Freund Ammoniumcarbonat beziehungsweise
Hirschhornsalz, oder, wie ich es nannte, wenn wir im Labor unter
uns waren, Sal Volatile oder manchmal einfach nur
Sal. »Ammonium« deswegen, weil die Substanz zuerst unweit
vom Schrein des altägyptischen Gottes Ammon entdeckt wurde, und
zwar als Inhaltsstoff des Urins von Kamelen. Später hatte in London
ein von mir sehr geschätzter Kollege eine Methode entwickelt,
mittels der man Riechsalz aus patagonischem Guano extrahieren
konnte.
Chemie! Ach, ich liebe Chemie über alles!
Als Dr. Darby ihm das Fläschchen unter die Nase
hielt, schnaubte Vater wie ein Bulle auf der Weide, und seine
Augenlider schnappten auf wie Jalousien. Aber er sagte kein
Wort.
»Na, bitte! Jetzt weilen Sie wieder unter den
Lebenden«, verkündete der Doktor, als mein ganz verwirrter Vater
versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen und sich im Zimmer
umzusehen. Trotz seines jovialen Tons hielt Dr. Darby ihn im Arm
wie ein Neugeborenes. »Warten Sie noch einen Augenblick, bis Sie
wieder ganz da sind. Bleiben Sie noch ein bisschen auf dem guten
alten Axminster-Teppich.«
Inspektor Hewitt stand mit ernster Miene daneben,
bis der Doktor es für angeraten hielt, Vater aufzuhelfen.
Schwer auf Dogger gestützt (den man inzwischen
gerufen hatte), wankte Vater die Treppe zu seinem Zimmer empor.
Auch Daphne und Feely ließen sich kurz blicken, aber von denen sah
man eigentlich nicht mehr als zwei bleiche Gesichter hinter dem
Treppengeländer.
Mrs Mullet blieb auf dem Weg in die Küche neben mir
stehen und legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm.
»Hat dir der Kuchen denn geschmeckt, mein Schatz?«,
erkundigte sie sich.
Der Kuchen! Den hatte ich ganz vergessen. Ich nahm
mir ein Beispiel an Dr. Darby und brummelte nur ein unbestimmtes
»Mhm« vor mich hin.
Inspektor Hewitt und Dr. Darby waren wieder in den
Garten gegangen, als ich die Treppe zu meinem Labor hochstieg.
Durchs Fenster beobachtete ich ein bisschen traurig und fast von
einem Gefühl des Verlustes begleitet, wie zwei Sanitäter ums Haus
herumkamen und die sterblichen Überreste des Unbekannten auf eine
Segeltuchtrage hievten. Ein Stück weiter hinten umrundete Dogger
den Balaklawa-Brunnen, wo er eifrig damit beschäftigt war, weitere
Lady Hillingdons zu enthaupten.
Alle hatten zu tun. Mit ein wenig Glück konnte ich
ungestört
tun, was ich tun musste, und ehe jemandem meine Abwesenheit
überhaupt auffiel, würde ich längst wieder da sein.
Ich schlich die Treppe hinab und zur Haustür
hinaus, holte Gladys, mein braves altes BSA-Fahrrad, an der
Steinurne ab, an die ich »sie« gelehnt hatte, und kurz darauf fuhr
ich wild strampelnd in Bishop’s Lacey ein.
Welchen Namen hatte Vater da erwähnt?
Twining. Richtig: ›der olle Teebeutel‹. Und ich
wusste genau, wo ich ihn finden würde.