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Und mit wem hast du da draußen gesprochen?«, wollte Inspektor Hewitt wissen.
»Mit Dogger.«
»Vorname?«
»Flavia.« Ich konnte es mir nicht verkneifen.
Wir saßen auf einem der Regency-Sofas im Rosenzimmer. Der Inspektor drückte die Mine seines Kugelschreibers heraus und drehte sich zu mir herum.
»Falls es dir noch nicht klar sein sollte, Fräulein de Luce - nicht dass ich daran zweifeln würde -, sage ich dir gern noch einmal in aller Deutlichkeit, dass es sich hier um die Ermittlungen in einem Mordfall handelt. Da dulde ich keine Albernheiten. Ein Mensch ist tot, und es ist meine Aufgabe, herauszufinden, warum, wann, wie und vielleicht auch durch wessen Hand. Und wenn mir das gelungen ist, besteht meine nächste Aufgabe darin, besagten Fall der Krone klipp und klar darzulegen. Soll heißen, König Georg VI., und König Georg VI. ist kein alberner Mensch. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Sir. Mit Vornamen heißt er Arthur. Arthur Dogger.«
»Und er ist Gärtner hier auf Buckshaw?«
»Momentan ja.«
Der Inspektor hatte ein schwarzes Büchlein aufgeschlagen und machte sich in winzig kleiner Handschrift Notizen.
»Also nicht schon immer?«
»Dogger ist Mädchen für alles«, erläuterte ich. »Bis er es mit den Nerven gekriegt hat, war er unser Chauffeur …«
Obwohl ich in die andere Richtung schaute, spürte ich den forschenden Blick des Kriminalisten auf mir.
»Das kommt vom Krieg«, ergänzte ich. »Er war Kriegsgefangener. Vater fand … Er wollte ihm wieder …«
»Verstehe.« Inspektor Hewitts Ton war mit einem Mal deutlich milder. »Dogger fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Er fühlt sich im Garten am wohlsten.«
»Du bist ein ungewöhnliches Mädchen«, sagte der Inspektor. »Eigentlich würde ich mich lieber in Anwesenheit eines Elternteils mit dir unterhalten, aber da dein Vater ja leider indisponiert ist …«
Indisponiert? Ach ja! Beinahe hätte ich meine eigene Ausrede vergessen.
Trotz meines vorübergehend verwirrten Gesichtsausdrucks fuhr der Inspektor fort: »Du hast Doggers Zwischenspiel als Chauffeur erwähnt. Besitzt dein Vater immer noch ein Automobil?«
Ja, er hatte noch eins: einen alten Rolls-Royce Phantom II, der nun in der alten Remise stand. Eigentlich war es Harriets Auto gewesen. Seit die Nachricht von ihrem Tod auf Buckshaw eingetroffen war, ist es nicht mehr gefahren worden. Obwohl Vater selbst nicht fahren konnte, gestattete er niemandem, den Wagen anzurühren.
So kam es, dass die Karosserie dieses prächtigen alten Vollbluts mit der langen schwarzen Motorhaube, dem hohen vernickelten Kühlergrill mit der Figur der Pallas Athene darauf und dem ineinander verschlungenen Doppel-R längst von vorwitzigen Feldmäusen in Beschlag genommen worden war. Die Tierchen hatten sich durch die hölzernen Bodenbretter Einlass verschafft und nisteten nun im Handschuhfach aus Mahagoniholz. Trotz seines erbärmlichen Zustands hieß der Wagen bei uns immer noch manchmal »unser Royce«, wie so manche Leute von Rang und Namen diese Vehikel nennen.
»›Rolls‹ sagen nur die Bauern«, hatte Feely behauptet, als ich mich in ihrer Anwesenheit einmal versprochen hatte.
Immer wenn ich ungestört sein wollte, kletterte ich in Harriets eingestaubten, schummrigen Royce Roller und saß stundenlang in der Bruthitze auf durchgesessenen Plüschpolstern, umgeben von sprödem, angenagtem Leder.
Die unerwartete Frage des Inspektors ließ mich an einen dunklen, stürmischen Tag im letzten Herbst denken, einen Tag, an dem ein heftiger Sturm den Regen sturzbachartig auf das Haus hatte niedergehen lassen. Da es wegen womöglich abbrechender Äste zu gefährlich war, im Wald oberhalb von Buckshaw spazieren zu gehen, hatte ich mich aus dem Haus geschlichen und mich durch den Wind in die Remise gekämpft, um dort in aller Ruhe meinen Gedanken nachzuhängen. Drinnen blinkte der Phantom matt im Dämmerlicht, während der Sturm wie eine Horde mordlustiger Berghexen vor dem Fenster heulte, kreischte und klapperte. Erst als meine Hand schon auf dem Türgriff lag, bemerkte ich, dass im Wagen jemand saß. Ich wäre vor Schreck beinahe tot umgefallen. Dann erkannte ich Vater. Er saß ganz still da, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, und er schien von dem Unwetter überhaupt nichts mitzubekommen.
Eine ganze Weile rührte ich mich nicht von der Stelle, wagte weder mich zu bewegen noch zu atmen. Aber als Vater langsam die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, ließ ich mich geräuschlos wie ein Turner in die Hocke sinken und rollte mich unter das Auto. Aus dem Augenwinkel sah ich einen blitzblank gewienerten Schaftstiefel vom Trittbrett steigen, und als Vater davonschlurfte, hörte ich, wie ihm eine Art heiseres Schluchzen entfuhr. Ich blieb noch lange dort liegen und betrachtete den Wagenboden von Harriets Rolls-Royce von unten.
»Ja«, sagte ich, »draußen in der Remise steht ein alter Phantom.«
»Aber dein Vater fährt ihn nicht.«
»Nein.«
»Aha.«
Der Inspektor legte Stift und Notizbuch so behutsam auf den Tisch, als wären sie aus Muranoglas.
»Flavia«, sagte er (mir fiel natürlich sofort auf, dass ich nicht mehr »Miss de Luce« war), »ich muss dir jetzt eine sehr wichtige Frage stellen. Deine Antwort ist von entscheidender Bedeutung, klar?«
Ich nickte.
»Ich weiß, dass du den … Vorfall gemeldet hast. Aber wer hat die Leiche gefunden?«
Ich kam gedanklich ins Schwimmen. Würde es Vater belasten, wenn ich die Wahrheit sagte? Wusste die Polizei bereits, dass ich Dogger gebeten hatte, mich zum Gurkenbeet zu begleiten? Anscheinend nicht, denn der Inspektor hatte ja eben erst von Doggers Vorhandensein erfahren, weshalb es nur folgerichtig war, dass er ihn noch nicht vernommen hatte. Was aber würde er ihnen gegebenenfalls alles erzählen? Wen von uns beiden würde er decken - Vater oder mich? Gab es eventuell eine neue Untersuchungsmethode, mittels derer man feststellen konnte, dass das Opfer noch am Leben gewesen war, als ich es gefunden hatte?
»Ich!«, platzte ich heraus. »Ich hab die Leiche gefunden.« Ich kam mir vor wie Cock Robin aus dem Zeichentrickfilm von Walt Disney.
»Das hab ich mir schon gedacht«, lautete Inspektor Hewitts Erwiderung.
Daraufhin trat eine peinliche Stille ein, die erst durch das Eintreten von Sergeant Woolmer beendet wurde, der mithilfe seines massigen Leibes Vater vor sich her ins Zimmer schob.
»Wir haben ihn draußen im Wagenschuppen entdeckt, Sir«, verkündete der Sergeant. »Hatte sich in einem alten Automobil verkrochen.«
»Wer, wenn ich fragen darf, sind Sie, Sir?«, fragte Vater. Er war wütend, und einen flüchtigen Augenblick lang sah ich in ihm den Mann, der er früher einmal gewesen sein musste. »Wer sind Sie, und was haben Sie in meinem Haus zu suchen?«
»Ich bin Inspektor Hewitt, Sir.« Der Inspektor stand auf. »Vielen Dank, Sergeant Woolmer.«
Der Sergeant ging rückwärts, bis er durch die Tür war, dann drehte er sich um und verschwand.
»Nun?«, fragte Vater. »Gibt es irgendein Problem, Inspektor?«
»Leider ja, Sir. In Ihrem Garten wurde eine Leiche gefunden.«
»Eine Leiche? Sie meinen, ein … Toter?«
Inspektor Hewitt nickte. »Jawohl, Sir.«
»Wer denn? Ich meine, wer ist es?«
Da erst fiel mir auf, dass Vater weder blaue Flecken noch Kratzer hatte, weder Schnitt- noch Schürfwunden aufwies … zumindest keine sichtbaren. Mir fiel auch auf, dass er ganz allmählich erbleichte, bis auf die Ohren, die den Farbton von knallrosa Knetmasse annahmen.
Auch dem Inspektor war das nicht entgangen. Er beantwortete Vaters Frage nicht gleich, sondern ließ sie im Raum stehen.
Vater drehte sich um und wanderte in großem Bogen zur Hausbar, wobei er im Gehen mit den Fingern über jedes Möbel strich. Er mischte sich einen Votrix mit Gin und kippte ihn auf einen Zug hinunter, und zwar mit einer eleganten Zielstrebigkeit, die mehr an diesbezüglicher Praxis verriet, als ich für möglich gehalten hätte.
»Wir haben den Betreffenden noch nicht identifiziert, Colonel de Luce. Eigentlich hatten wir gehofft, Sie könnten uns in dieser Hinsicht weiterhelfen.«
Vater wurde womöglich noch blasser, und seine Ohren leuchteten noch röter.
»Tut mir leid, Inspektor«, erwiderte er kaum hörbar. »Bitte verlangen Sie nicht von mir … Wissen Sie, der Tod ist etwas, womit ich nicht gut umgehen kann …«
Nicht gut umgehen? Vater war ein altgedienter Soldat, und bei Soldaten gehörte der Tod zum Leben dazu, ja, sie lebten für den Tod, lebten vom Tod. Für einen Berufssoldaten war der Tod, so sonderbar das klingen mag, sein Leben. Das wusste ja sogar ich.
Und ich wusste auch sofort, dass Vater gelogen hatte, und in diesem Augenblick riss unvermittelt irgendwo in mir ein kleiner Faden. Als sei ich auf einen Schlag erwachsener geworden und etwas Altes in mir zerbrochen.
»Verstehe, Sir«, entgegnete Inspektor Hewitt. »Aber solange sich uns keine anderen Möglichkeiten anbieten …«
Vater holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn - und dann den Hals.
»Wissen Sie, ich bin doch einigermaßen erschüttert«, entschuldigte er sich. »Das Ganze …«
Er machte eine fahrige Geste, und Inspektor Hewitt griff wieder zu seinem Notizbuch, blätterte um und fing an zu schreiben. Vater ging langsam zum Fenster, tat so, als schaute er in die Landschaft hinaus, die ich in allen Einzelheiten vor mir sah: der künstliche See, die Insel mit der künstlichen Ruine, die Brunnen, die seit Kriegsausbruch abgestellt waren, dahinter die Hügel.
»Sind Sie den ganzen Morgen zu Hause gewesen?«, fragte der Inspektor unvermittelt.
»Wie bitte?« Vater fuhr herum.
»Haben Sie seit gestern Abend irgendwann das Haus verlassen?«
Vater ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Ja«, sagte er schließlich. »Heute früh. Da war ich in der Remise.«
Ich verkniff mir ein Grinsen. Sherlock Holmes hatte einmal über seinen Bruder Mycroft gesagt, ihn außerhalb des Diogenes Clubs anzutreffen sei so selten wie eine Straßenbahn auf der Landstraße. Wie Mycroft bewegte sich auch Vater auf seinen immer gleichen Schienen. Mit Ausnahme des Kirchgangs und ab und zu einem kurz entschlossenen Gang zum Bahnhof, um eine Briefmarkenausstellung zu besuchen, setzte Vater selten, wenn überhaupt, einen Fuß vor die Tür.
»Wann war das ungefähr, Colonel?«
»Gegen vier. Vielleicht ein bisschen früher.«
»Und Sie waren … wie lange in der Remise?«
Der Inspektor sah wieder auf die Armbanduhr.
»Fünfeinhalb Stunden? Von vier Uhr früh bis gerade eben?«
»Ja, bis gerade eben«, bestätigte Vater. Er war es nicht gewohnt, vernommen zu werden, und auch wenn der Inspektor nichts zu merken schien, ich hörte meinem Vater an, dass er immer gereizter wurde.
»Aha. Gehen Sie oft um diese Tageszeit aus dem Haus?«
Die Frage des Inspektors klang beiläufig, war beinahe im Plauderton gehalten, aber ich spürte, dass dem mitnichten so war.
»Nein, eigentlich nicht, nein«, erwiderte Vater. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
Inspektor Hewitt tippte sich mit dem Kugelschreiber auf die Nasenspitze, als müsste er seine nächste Anfrage an einen Parlamentsausschuss formulieren.
»Sind Sie draußen irgendjemandem begegnet?«
»Nein, natürlich nicht. Keiner Menschenseele.«
Der Inspektor nahm den Kugelschreiber kurz von der Nase und notierte sich etwas.
»Niemandem?«
»Nein.«
Als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst, nickte der Inspektor bedächtig und enttäuscht und steckte sein Büchlein seufzend ein.
»Ach, eine Frage noch, Colonel, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er dann, als wäre ihm gerade noch etwas eingefallen. »Was haben Sie denn da draußen in der Remise gemacht?«
Vater ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen und mahlte mit dem Unterkiefer. Dann wandte er sich um und sah dem Inspektor ins Gesicht.
»Ich bin wohl nicht verpflichtet, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen.«
»Auch gut«, entgegnete der Inspektor. »Ich glaube, ich …«
Da schob Mrs Mullet mit ihrem ausladenden Hinterteil die Tür auf und kam mit einem schwer beladenen Tablett hereingewatschelt.
»Ich bringe Ihnen etwas Gewürzkuchen!«, verkündete sie. »Gewürzkuchen, Tee und ein schönes Glas Milch für Miss Flavia.«
Gewürzkuchen und Milch! Ich verabscheute Mrs Mullets Gewürzkuchen ebenso wie der heilige Paulus die Sünde. Vielleicht sogar noch mehr. Am liebsten wäre ich auf den Tisch geklettert und hätte, mit einer auf die Gabel gespießten Wurst als Zepter, in meinem besten Laurence-Olivier-Tonfall deklamiert: »Will uns denn niemand von dieser aufdringlichen Bäckerin erlösen?«
Aber ich beherrschte mich und blieb ganz friedlich.
Mit einem angedeuteten Knicks stellte Mrs Mullet ihre Last vor Inspektor Hewitt ab, dann erst erblickte sie Vater, der noch am Fenster stand.
»Huch! Da sind Sie ja, Colonel de Luce! Ich wollte Ihnen doch noch sagen, dass ich den Vogel von der gestrigen Türschwelle weggeschafft hab.«
Von irgendwoher hatte Mrs Mullet die fixe Idee, solche verqueren Sätze seien nicht nur sehr eigen, sondern geradezu poetisch.
Ehe Vater auf diese unerwartete Wendung der Unterhaltung eingehen konnte, hatte Inspektor Hewitt wieder die Führung übernommen.
»Ein toter Vogel auf der Schwelle? Erzählen Sie mir mehr davon, Mrs Mullet?«
»Na ja, Sir, der Colonel und ich und Miss Flavia waren in der Küche. Ich hatte gerade einen schönen Schmandkuchen aus dem Ofen geholt und zum Abkühlen ans Fenster gestellt. Es war um die Zeit, wo ich für gewöhnlich dran denke, mich auf den Heimweg zu Alf zu machen. Alf ist nämlich mein Mann, Sir, und er kann’s gar nicht leiden, wenn ich um die Abendbrotzeit woanders rumtrödele. Er meint immer, es macht ihn ganz kribbelig, wenn seine Verdauung aus dem Rhythmus kommt. Wenn seine Verdauung nämlich erst mal Kobolz schießt, dann ist wirklich Matthäi am Letzten, dann helfen nur noch Mopp und Eimer und so weiter.«
»Und um welche Uhrzeit war das nun, Mrs Mullet?«
»Ungefähr um sieben oder Viertel nach sieben. Ich komm nämlich immer vier Stunden am Vormittag, von acht bis zwölf, und drei am Nachmittag, von eins bis vier.« Dabei warf sie Vater einen überraschend finsteren Blick zu, aber der schaute immer noch scheinbar gebannt aus dem Fenster und bekam nichts mit. »Aber meistens werd ich noch wegen diesem oder jenem aufgehalten.«
»Und was war nun mit dem Vogel?«
»Der lag mausetot auf der Schwelle. Eine Schnepfe war’s, eine Zwergschnepfe. Weiß Gott, von denen hab ich mein Lebtag so manche gespickt und gebraten. Der Vogel hat mir einen Heidenschrecken eingejagt, als ich ihn da auf der Schwelle hab liegen sehen, und die Federn haben sich im Wind bewegt, als wären sie noch lebendig, obwohl das Herz längst nicht mehr geschlagen hat. Das hab ich auch zu Alf gesagt. ›Alf‹, sag ich, ›der Vogel hat dagelegen, als wärn die Federn noch lebendig …‹«
»Ihnen entgeht offenbar nichts, Mrs Mullet«, lobte Inspektor Hewitt sie, worauf sie rosige Wangen bekam und sich wie eine Kropftaube aufplusterte. »Ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«
»Na ja, Sir, auf dem Schnäbelchen steckte’ne Briefmarke, als hätt das arme Ding sie uns bringen wollen, wie der Storch die kleinen Kinder bringt, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber eigentlich natürlich ganz anders.«
»Eine Briefmarke, Mrs Mullet? Was für eine Briefmarke?«
»Eine Briefmarke halt, aber nicht so eine, wie sie heute auf die Briefe geklebt werden, o nein. Die Königin war drauf abgebildet. Nicht unsre jetzige Königin, Gott schütze sie, sondern unsre alte … wie hieß sie doch gleich … Königin Viktoria! Jedenfalls wär sie drauf abgebildet gewesen, wenn der Vogel nicht den Schnabel durch ihr Gesicht gepiekt hätte.«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Hand aufs Herz, Sir! Alf hat als junger Kerl mal Briefmarken gesammelt, und er hebt heute noch ein paar von den Dingern in einer alten Keksdose unter dem Sofa oben in der Diele auf. Er holt sie nicht mehr so oft raus wie früher, als wir beide noch jung waren, weil er dann immer ganz traurig wird, sagt er. Aber trotzdem erkenn ich eine Schwarze Queen Victoria, die sogenannte Penny Black, immer und überall auf den ersten Blick, ob sie nun auf’nem Vogelschnabel steckt oder nicht.«
»Vielen Dank, Mrs Mullet.« Inspektor Hewitt nahm sich ein Stück Kuchen. »Sie haben uns sehr geholfen.«
Mrs Mullet knickste noch einmal und ging zur Tür.
»Ist doch komisch, hab ich zu Alf gesagt, eigentlich lassen sich hier bei uns in England bis September gar keine Zwergschnepfen blicken. Und ich hab weiß Gott schon viele Zwergschnepfen gebraten und auf Toast serviert. Mrs Harriet, Gott sei ihrer Seele gnädig, hat nichts lieber gegessen als einen schönen …«
Hinter mir ächzte jemand, und als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Vater zusammenklappte wie ein Campingstuhl und zu Boden plumpste.
 
Ich muss sagen, der Inspektor machte das sehr gut. Mit einem Satz war er bei Vater, legte ihm das Ohr auf die Brust, lockerte ihm die Krawatte und prüfte mit dem Finger, ob irgendetwas Vaters Atem behinderte. Allem Anschein nach hatte er im E rste-Hilfe-Kurs nicht geschlafen. Dann riss er das Fenster auf und pfiff so gekonnt und schrill auf den Fingern, dass ich ihm etwas dafür bezahlt hätte, wenn er es mir beigebracht hätte.
»Dr. Darby!«, rief er. »Kommen Sie bitte schnell! Und bringen Sie Ihre Tasche mit!«
Ich stand immer noch mit vor den Mund geschlagener Hand da, als Dr. Darby mit langen Schritten hereinkam und sich neben Vater kniete. Nach einer kurzen, systematischen Untersuchung holte er ein kleines blaues Arzneifläschchen aus seiner Tasche.
»Eine Synkope«, wandte er sich an Inspektor Hewitt, und zu Mrs Mullett und mir sagte er: »Soll heißen, er ist ohnmächtig. Nichts Schlimmes.«
Uff!
Der Doktor entstöpselte das Fläschchen, und ehe er es Vater unter die Nase hielt, erkannte ich den vertrauten Duft: Es war mein guter alter Freund Ammoniumcarbonat beziehungsweise Hirschhornsalz, oder, wie ich es nannte, wenn wir im Labor unter uns waren, Sal Volatile oder manchmal einfach nur Sal. »Ammonium« deswegen, weil die Substanz zuerst unweit vom Schrein des altägyptischen Gottes Ammon entdeckt wurde, und zwar als Inhaltsstoff des Urins von Kamelen. Später hatte in London ein von mir sehr geschätzter Kollege eine Methode entwickelt, mittels der man Riechsalz aus patagonischem Guano extrahieren konnte.
Chemie! Ach, ich liebe Chemie über alles!
Als Dr. Darby ihm das Fläschchen unter die Nase hielt, schnaubte Vater wie ein Bulle auf der Weide, und seine Augenlider schnappten auf wie Jalousien. Aber er sagte kein Wort.
»Na, bitte! Jetzt weilen Sie wieder unter den Lebenden«, verkündete der Doktor, als mein ganz verwirrter Vater versuchte, sich auf den Ellenbogen zu stützen und sich im Zimmer umzusehen. Trotz seines jovialen Tons hielt Dr. Darby ihn im Arm wie ein Neugeborenes. »Warten Sie noch einen Augenblick, bis Sie wieder ganz da sind. Bleiben Sie noch ein bisschen auf dem guten alten Axminster-Teppich.«
Inspektor Hewitt stand mit ernster Miene daneben, bis der Doktor es für angeraten hielt, Vater aufzuhelfen.
Schwer auf Dogger gestützt (den man inzwischen gerufen hatte), wankte Vater die Treppe zu seinem Zimmer empor. Auch Daphne und Feely ließen sich kurz blicken, aber von denen sah man eigentlich nicht mehr als zwei bleiche Gesichter hinter dem Treppengeländer.
Mrs Mullet blieb auf dem Weg in die Küche neben mir stehen und legte mir mitfühlend die Hand auf den Arm.
»Hat dir der Kuchen denn geschmeckt, mein Schatz?«, erkundigte sie sich.
Der Kuchen! Den hatte ich ganz vergessen. Ich nahm mir ein Beispiel an Dr. Darby und brummelte nur ein unbestimmtes »Mhm« vor mich hin.
Inspektor Hewitt und Dr. Darby waren wieder in den Garten gegangen, als ich die Treppe zu meinem Labor hochstieg. Durchs Fenster beobachtete ich ein bisschen traurig und fast von einem Gefühl des Verlustes begleitet, wie zwei Sanitäter ums Haus herumkamen und die sterblichen Überreste des Unbekannten auf eine Segeltuchtrage hievten. Ein Stück weiter hinten umrundete Dogger den Balaklawa-Brunnen, wo er eifrig damit beschäftigt war, weitere Lady Hillingdons zu enthaupten.
Alle hatten zu tun. Mit ein wenig Glück konnte ich ungestört tun, was ich tun musste, und ehe jemandem meine Abwesenheit überhaupt auffiel, würde ich längst wieder da sein.
Ich schlich die Treppe hinab und zur Haustür hinaus, holte Gladys, mein braves altes BSA-Fahrrad, an der Steinurne ab, an die ich »sie« gelehnt hatte, und kurz darauf fuhr ich wild strampelnd in Bishop’s Lacey ein.
Welchen Namen hatte Vater da erwähnt?
Twining. Richtig: ›der olle Teebeutel‹. Und ich wusste genau, wo ich ihn finden würde.