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Die Leihbücherei von Bishop’s Lacey befand
sich in der Cow Lane, einer schmalen, schattigen, von Bäumen
gesäumten Gasse, die von der Hauptstraße zum Fluss hinunterführte.
Das ursprüngliche Gebäude war ein bescheidener, schwarzer
georgianischer Ziegelbau, dessen Farbfoto einmal sogar auf der
Titelseite von Country Life erschienen war. Ein gewisser
Lord Margate hatte es der Gemeinde vermacht, ein Spross des Dorfes,
der in die Welt hinausgezogen war, um sein Glück zu machen, und zu
Wohlstand gekommen war, indem er während des Burenkrieges als
Königlicher Hoflieferant mit Exklusivvertrag Beef-Chips an die
Regierung Ihrer Majestät liefern durfte - ein Corned Beef in Dosen,
das er selbst erfunden hatte.
Seit 1939 schon war die Bücherei eine Oase der
Stille. Einmal, als sie wegen Renovierungsarbeiten geschlossen
gewesen war, hatte es darin gebrannt. Ein Haufen Malerlumpen hatte
sich von selbst entzündet, gerade als Mr Chamberlain dem britischen
Volk seine berühmte Rede »Solange der Krieg noch nicht begonnen
hat, besteht die Hoffnung, dass er noch verhindert werden kann«
hielt. Da sich alle erwachsenen Einwohner von Bishop’s Lacey um die
Rundfunkempfänger versammelt hatten, war der Brand von niemandem,
nicht einmal von der sechsköpfigen Freiwilligen Feuerwehr,
rechtzeitig entdeckt worden. Als die Feuerwehrleute schließlich mit
ihrer handbetriebenen Pumpe anrückten, war das Haus nur noch ein
glimmendes Aschehäuflein. Den Büchern war zum Glück
nichts passiert, da sie wegen der Renovierung vorübergehend
ausgelagert worden waren.
Kurz darauf brach der Krieg aus, und weil auch nach
Kriegsende überall die Mittel knapp waren, wurde das Haus nicht
wieder aufgebaut. An der Stelle, wo es gestanden hatte, in der
Cater Street, befand sich jetzt lediglich eine unkrautüberwucherte
Brache, gleich um die Ecke vom Dreizehn Erpel. Da das
Grundstück den Dorfbewohnern auf unbegrenzte Zeit vermacht worden
war, durfte es nicht verkauft werden, und die eigentlich nur
übergangsweise eingerichteten Räumlichkeiten in der Cow Lane, in
denen die Buchbestände lagerten, boten der Bücherei inzwischen eine
dauerhafte Heimat.
Als ich von der Hauptstraße abbog, sah ich das
Gebäude schon, einen niedrigen Kasten aus Glasbausteinen und
Wandfliesen, der in den 1920er Jahren als Ausstellungsraum für
Automobile errichtet worden war. Etliche Original-Emailleschilder
mit den Namen ausgestorbener Automarken wie »Wolseley« und
»Sheffield-Simplex« hingen noch an einer Wand unter der Decke und
somit zu hoch für Diebe und Vandalen.
Heute, fünfundzwanzig Jahre nachdem der letzte
Lagonda zum Tor hinausgerollt war, war das Gebäude, wie das
ausrangierte Geschirr in einem Dienstbotentrakt, in einen
altersschwachen Zustand des Verfalls übergegangen. Dahinter,
zwischen dem ehemaligen Ausstellungsraum und dem verwaisten
Treidelpfad längs des Flusses, duckte sich ein Labyrinth
verfallener Nebengebäude ins hohe Gras wie Grabsteine um eine
Dorfkirche. Mehrere dieser Gebäude, die noch nicht mal einen
richtigen Fußboden hatten, beherbergten den Überschuss an Büchern
aus dem längst vernichteten, viel grö ßeren georgianischen
Vorgängerbau. Nun boten die provisorischen, schlecht beleuchteten
Baracken, in denen sich einst die Reparaturwerkstätten des
Autohauses befunden hatten, reihenweise ungewollten Büchern Platz,
auf deren Rücken man
die Themengebiete aufgeklebt hatte: Geschichte, Geographie,
Philosophie, Naturwissenschaften. Die alten Garagen, in denen es
immer noch nach ranzigem Motoröl, Rost und primitiven
Wasserklosetts müffelte, hießen im allgemeinen Sprachgebrauch »das
Magazin« - und ich wusste auch, warum! Ich kam oft zum Lesen her,
denn abgesehen von meinem Chemielabor auf Buckshaw war mir das
Magazin der liebste Ort auf der ganzen Welt.
Daran dachte ich, als ich vor dem Eingang stand und
am Türknauf drehte.
»Scheibenkleister!«, entfuhr es mir. Es war
abgeschlossen.
Erst als ich beiseitetrat, um durchs Fenster zu
spähen, erblickte ich das Schild hinter der Scheibe, auf das jemand
mit schwarzem Stift »Geschlossen« gekritzelt hatte.
Geschlossen? Heute war Samstag! Die Bücherei war
donnerstags bis samstags von 10 bis 14.30 Uhr geöffnet. So stand es
auch unmissverständlich auf dem schwarz gerahmten Schild an der
Tür. War Miss Pickery etwas zugestoßen?
Ich rüttelte erst an der Tür, dann trommelte ich
mit der Faust dagegen. Schließlich legte ich die Hände noch einmal
an die Scheibe und spähte hindurch, aber bis auf einen einsamen
Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Staubflusen bahnte, ehe
er sich auf den Regalen mit den Romanen niederließ, war nichts zu
erkennen.
»Miss Pickery!«, rief ich, bekam aber keine
Antwort.
»Scheibenkleister!«, schimpfte ich noch einmal.
Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal
verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener
Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel
bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die
Woche.
Nein … acht Tage die Woche!
Miss Pickery wohnte in der Shoe Street. Ich ließ
mein Fahrrad vor der Bücherei stehen und nahm eine Abkürzung. Wenn
man zwischen den Baracken und hinter dem Dreizehn Erpel
entlangging, kam man gleich neben ihrem Häuschen heraus.
Ich stapfte durch das hohe, nasse Gras und gab
Acht, dass ich nicht über irgendwelche rostigen Maschinenteile
stolperte, die hier und da wie Dinosaurierknochen in der Wüste Gobi
aus dem Boden ragten. Daphne hatte mich über Wundstarrkrampf
aufgeklärt. Ein Kratzer von einem alten Autogetriebe, und mir würde
im Handumdrehen Schaum vor dem Mund stehen, ich würde bellen wie
ein Hund und mich beim Anblick von Wasser in Krämpfen auf dem Boden
winden. Ich sammelte schon einmal probehalber Spucke in der Backe.
Da hörte ich jemanden reden.
»Warum hast du ihn bloß reingelassen, Mary?« Es war
die Stimme eines jungen Mannes. Sie kam aus dem Hof des
Wirtshauses.
Ich huschte hinter einen Baum und spähte hinter dem
Stamm hervor. Wer da gesprochen hatte, war Ned Cropper, der im
Dreizehn Erpel alle möglichen Hilfsarbeiten
verrichtete.
Ned! Nur an ihn zu denken, wirkte bei Ophelia wie
eine Novokainspritze. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er
Dirk Bogarde wie aus dem Gesicht geschnitten war, aber die einzige
Ähnlichkeit, die ich persönlich feststellen konnte, bestand darin,
dass sie alle beide je zwei Arme, zwei Beine und pfundweise
Brillantine im Haar hatten.
Ned hockte vor der Hintertür des Wirtshauses auf
einem Bierfass, und ein Mädchen, Mary Stoker, wie ich im
Näherkommen erkannte, saß auf einem anderen. Sie sahen einander
nicht an. Ned malte mit dem Stiefelabsatz ein verzwicktes Labyrinth
auf den Boden, Mary hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte
geradeaus.
Obwohl Ned die Stimme gesenkt hatte, konnte ich
alles verstehen. Die verputzte Wand des Dreizehn Erpel
wirkte wie ein Verstärker.
»Ich hab dir doch schon gesagt, Ned Cropper, dass
mir nix
anderes übriggeblieben ist! Er stand mit einem Mal hinter mir, als
ich seine Bettwäsche gewechselt hab.«
»Warum haste nicht geschrien? Ich weiß, dass du
Tote aufwecken kannst … wenn dir danach ist.«
»Du kennst meinen Pa wohl nicht! Wenn er wüsste,
was der Kerl gemacht hat, würd er mir das Fell über die Ohren
ziehen!«
Sie spuckte in den Staub.
»Mary!« Der Ruf kam von drinnen, trotzdem dröhnte
er durch den Hof wie Donnerhall. Der da rief, war Marys Vater, der
Gastwirt Tully Stoker, und sein ungewöhnliches Organ spielte in
einigen der skandalösesten Tratschgeschichten des Dorfes eine
Hauptrolle.
»Mary!«
Jetzt sprang Mary auf.
»Komme schon!«, rief sie. »Bin schon
unterwegs!«
Sie verharrte unschlüssig, dann stürzte sie sich
mit einem Mal wie eine zustoßende Viper auf Ned, verpasste ihm
einen schnellen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment mit
flatternder Schürze - wie ein Zauberer mit wehendem Umhang - in der
düsteren Schankstube verschwunden.
Ned blieb noch einen Augenblick sitzen, dann
wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund, stand auf und
rollte das Fass zu den anderen leeren Fässern auf die
gegenüberliegende Hofseite.
Ich rief: »Tag, Ned!«, und er drehte sich halb
verlegen um. Er überlegte unverkennbar, ob ich ihn und Mary
belauscht und vielleicht sogar den Kuss beobachtet haben konnte.
Ich beschloss, ihn im Unklaren zu lassen.
»Schönes Wetter heute, was?« Ich grinste ihn
dümmlich an.
Ned erkundigte sich danach, wie es mir ging, und
anschlie ßend, immer schön der Reihe nach, nach dem Befinden meines
Vaters und dem von Daphne.
»Den beiden geht’s prima«, antwortete ich.
»Und wie geht’s Miss Ophelia?«, fragte er zu guter
Letzt.
»Miss Ophelia? Na ja, um die machen wir uns ehrlich
gesagt ziemlich Sorgen.«
Ned fuhr zusammen, als wäre ihm eine Wespe in die
Nase gekrabbelt.
»Ach ja? Was hat sie denn? Hoffentlich nichts
Ernstes.«
»Sie ist am ganzen Leib knallgrün geworden«,
verkündete ich. »Ich vermute, sie hat Chlorose. Dr. Darby ist
derselben Meinung.«
In seinem Wörterbuch der Vulgärsprache von
1811 nennt Francis Grose die Chlorose auch: »Liebesfieber«
beziehungsweise »Jungfrauenkrankheit«. Mir war natürlich klar, dass
Ned Captain Groses Werk nicht so geläufig war wie mir, und ich
klopfte mir in Gedanken auf die Schulter.
»Ned!«
Tully Stokers Organ. Ned tat einen Schritt in
Richtung Tür.
»Richte deiner Schwester aus, dass ich mich nach
ihr erkundigt habe«, bat er.
Ich machte das Victory-Zeichen, wie einst der
wackere Churchill. Das war ja wohl das Mindeste.
Wie die Cow Lane geht auch die Shoe Street von der
Hauptstraße ab und führt zum Fluss hinunter. Miss Pickerys auf
halber Höhe gelegenes Tudorhäuschen sah aus wie aus einer Abbildung
vom Deckel einer Puzzleschachtel. Mit seinem Strohdach und den weiß
getünchten Wänden, den rautenf örmig bleiverglasten Fenstern und
der rot gestrichenen quergeteilten Tür ließ es jedes Künstlerherz
höherschlagen. Die Fachwerkwände ragten wie ein malerisches altes
Schiff aus einem Meer altmodischer Blumen: Anemonen, Stockmalven,
Levkojen, Glockenblumen und andere, von denen ich nicht wusste, wie
sie hießen.
Miss Pickerys rotbrauner Kater Roger aalte sich auf
der
Schwelle in der Sonne und hielt mir den Bauch zum Kraulen hin. Ich
kam seiner Aufforderung nach.
»Bist ein ganz Braver, Roger«, sagte ich. »Wo ist
denn Miss Pickery?«
Roger schlenderte davon und hielt nach etwas
Spannenderem Ausschau. Ich klopfte. Niemand öffnete.
Ich ging ums Haus herum in den Garten. Keiner
da.
Als ich auf der Hauptstraße entlangging und,
nachdem ich im Schaufenster der Apotheke flüchtig die immer
gleichen mit Fliegendreck beklecksten Glasgefäße betrachtet hatte,
gerade die Cow Lane überquerte, blickte ich zufällig nach links und
sah jemanden in der Bücherei verschwinden. Mit ausgebreiteten Armen
flog ich eine Steilkurve und bog in die Gasse ein, aber als ich vor
der Bücherei stand, war der Betreffende längst im Haus
verschwunden. Ich drehte am Türknauf, und diesmal hatte ich
Erfolg.
Die Frau, die ihr Portemonnaie in die Schublade
legte und sich hinter dem Tresen niederließ, hatte ich noch nie
gesehen. Ihr Gesicht war so runzlig wie einer von den Äpfeln, die
man manchmal noch vom vergangenen Winter in seiner Manteltasche
findet.
»Ja, bitte?« Sie spähte über ihre Brille. Das
bringen sie einem alles an der Königlichen Akademie für
Bibliothekswissenschaften bei. Mir fiel auf, dass die Brille einen
grauen Schleier hatte, als hätte sie über Nacht in Essig
gelegen.
»Wo ist denn Miss Pickery?«, erkundigte ich
mich.
»Miss Pickery ist wegen einer dringenden
Familienangelegenheit verhindert.«
»Ach so.«
»Ja, es ist wirklich traurig. Ihre Schwester Hetty,
die in Nether-Wolsey wohnt, hatte einen tragischen
Nähmaschinenunfall. Zuerst sah es noch ganz so aus, als sei es
gerade noch mal gutgegangen, aber dann verschlechterte sich ihr
Zustand unversehens, und nun sieht es aus, als ob sie womöglich den
Finger
verliert. Was für ein Jammer! Wo sie doch die Zwillinge zu
versorgen hat! Und da ist Miss Pickery natürlich …«
»Natürlich.«
»Ich bin die Vertretung. Ich heiße Miss Mountjoy
und bin Ihnen gern behilflich.«
Miss Mountjoy! Die pensionierte Miss Mountjoy! Ich
hatte schon viele Geschichten über »Miss Mountjoy und ihr
Terrorregime« vernommen. Sie war schon Hauptbibliothekarin der
Leihbücherei von Bishop’s Lacey gewesen, als Noah noch als Matrose
zur See fuhr. Nach außen hin zuckersüß, aber innerlich »eine
Bastion der Bosheit«. So hatte man es mir jedenfalls geschildert.
(»Man« war in diesem Fall Mrs Mullet, die gern Kriminalromane las.)
Die Dorfbewohner hielten immer noch mehrtägige Bittgottesdienste ab
und beteten darum, dass sie bloß nicht aus dem Ruhestand
zurückkehrte.
»Und wie kann ich dir helfen, mein Liebes?«
Wenn ich etwas gründlich verabscheue, dann ist es
die Anrede »mein Liebes«. Wenn ich einmal mein Opus Magnum mit dem
Titel Eine Abhandlung über sämtliche Gifte schreibe und bei
»Zyankali« ankomme, vermerke ich unter »Anwendung« garantiert:
Besonders wirksam bei der Behandlung all derjenigen, die einen
»mein Liebes« nennen.
Andererseits habe auch ich meine Grundsätze, und
einer davon lautet: Wenn du etwas willst, sei nett und
freundlich.
Ich lächelte matt und erwiderte: »Ich wollte etwas
im Zeitungsarchiv nachschlagen.«
»Im Zeitungsarchiv!«, erwiderte sie belustigt. »Du
bist ja ganz schön weit für dein Alter, mein Liebes.«
»Ja«, sagte ich und gab mir Mühe, bescheiden
dreinzuschauen.
»Die Zeitungen ab vorletztem Jahr findest du nach
Jahrgängen geordnet auf den Regalen im Drummond-Raum. Das ist ganz
hinten, nach links, die Treppe hoch.«
»Dankeschön.« Ich schlenderte in Richtung
Treppe.
»Es sei denn, du suchst etwas Älteres. Das wäre
dann im Magazin. Welchen Jahrgang suchst du denn?«
»Das weiß ich auch nicht so genau.« Aber halt - ich
wusste es doch! Was hatte der Fremde gesagt? Twining -
der olle Teebeutel ist doch inzwischen schon … wie lange
tot?
Ich hörte die ölige Stimme wieder: … dreißig
Jahre …
»1920«, sagte ich kaltblütig. »Ich würde gern einen
Blick in den Jahrgang 1920 werfen.«
»Das müsste alles noch in der Garage liegen, also
in dem Schuppen, in dem früher die Reparaturwerkstatt mit der Grube
war. Wenn die Ratten es in der Zwischenzeit nicht aufgefressen
haben.« Dabei schielte sie boshaft über ihre Brille, als erwartete
sie, dass ich bei der bloßen Erwähnung von Ratten einen
Schreikrampf bekommen und wegrennen würde.
»Ach, ich finde mich schon zurecht«, erwiderte ich
stattdessen. »Brauche ich einen Schlüssel?«
Miss Mountjoy kramte in der Schublade und holte
einen gewaltigen Schlüsselbund heraus, der aussah, als hätte er
einst den Wärtern des Grafen von Monte Cristo gehört. Ich klimperte
vergnügt mit den Schlüsseln und verließ das Hauptgebäude.
Die sogenannte Garage war die am weitesten vom
Hauptgebäude entfernte Baracke. Sie stand bedenklich nah am
Flussufer, ein aus morschen Brettern und rostigem Wellblech
zusammengezimmerter und von Moos und Kletterranken überwucherter
Schuppen. In der Blütezeit des Ausstellungsraums war hier die
Garage gewesen, in der Reifen- und Ölwechsel durchgeführt sowie
Achsen gefettet und andere intime Verrichtungen an der Unterseite
der Wagen vorgenommen wurden.
Inzwischen hatten Vernachlässigung und Verwitterung
dafür gesorgt, dass der Schuppen eher an eine Einsiedlerhütte
erinnerte.
Ich drehte den Schlüssel, und die Tür flog mit
rostigem Ächzen auf. Beim Eintreten schob ich mich vorsichtig an
der tiefen
Mechanikergrube vorbei, die, wenn auch mit dicken Brettern
abgedeckt, den Großteil des Raumes einnahm.
Es roch streng und muffig und eindeutig nach
Ammoniak, als hausten irgendwelche Tierchen unter den Dielen.
In der zur Cow Lane weisenden Wand gab es ein
breites Garagentor, das sich einst aufschieben ließ, damit die
Automobile herein- und über die Grube fahren konnten, jetzt aber
abgeschlossen war. Die Scheiben aller vier Fenster hatte man aus
unerfindlichen Gründen mit dicker blutroter Farbe zugepinselt,
weshalb in der Baracke ein gruseliges Zwielicht herrschte.
An den übrigen drei Wänden standen lauter
Holzregale wie Etagenbetten, und darauf lagen Stöße vergilbter
Zeitungen: der Hinley-Kurier, der West-County-Anzeiger und
das Posthorn am Morgen, alle fein säuberlich nach Jahrgängen
geordnet und mit handschriftlichen Signaturen versehen.
Es war nicht schwer, den Jahrgang 1920 zu finden.
Ich hob den obersten Stapel herunter und wäre beinahe in der
Staubwolke erstickt, die mir mitten ins Gesicht schlug wie eine
Mehlstaubexplosion. Angenagte Papierfitzelchen rieselten wie Schnee
zu Boden.
Heute Abend heißt es Badewanne und Schwamm, dachte
ich, ob du willst oder nicht.
Vor einem verdreckten Fenster stand ein kleiner
Tisch. Es gab gerade genug Licht und genug Platz, um die Zeitungen
auszubreiten und nacheinander durchzublättern.
Das Posthorn am Morgen stach mir vor allem
ins Auge, ein Revolverblatt, dessen Titelseite wie bei der Londoner
Times voll mit Anzeigen, Kurzmeldungen und privaten
Kleinanzeigen war:
Verloren: brauner, verschnürter
Pappkarton.
Für Besitzer von großem Erinnerungswert.
Hohe Belohnung!
Antwort an »Smith«, z. Zt. im Weißen Herzen, Wolverston
Für Besitzer von großem Erinnerungswert.
Hohe Belohnung!
Antwort an »Smith«, z. Zt. im Weißen Herzen, Wolverston
Oder:
Mein Liebling: Er hat uns beobachtet. Gleiche
Zeit
nächsten Donnerstag.
Bring Speckstein mit. Bruno.
nächsten Donnerstag.
Bring Speckstein mit. Bruno.
Da fiel es mir wieder ein! Vater war in
Greyminster zur Schule gegangen … und war Greyminster nicht ganz in
der Nähe von Hinley? Ich legte das Posthorn am Morgen wieder
auf seine Totenbahre und holte mir die vordersten vier Stapel des
Hinley-Kurier.
Es handelte sich um eine Wochenzeitung, die jeweils
freitags erschienen war. 1920 war der erste Freitag auf Neujahr
gefallen, sodass die erste Ausgabe das Datum des folgenden Freitags
trug: 8. Januar 1920.
Seite um Seite voller Feiertagsnachrichten:
Weihnachtsbesuch vom Kontinent, eine verschobene Sitzung des
krichlichen Frauenkreises, der für den Altarschmuck zuständig war,
ein »gut gewachsenes Schwein« war zu verkaufen, im Grange
hatte ein Weihnachtsbüfett stattgefunden, eine Bierkutsche hatte
ein Rad verloren.
Die Polizeinachrichten vom März waren eine
deprimierende Auflistung von Diebstählen, Wilderei und
Tätlichkeiten.
Ich blätterte unermüdlich weiter; meine Hände waren
schon ganz schwarz von der zwanzig Jahre vor meiner Geburt
getrockneten Druckerschwärze. Der Sommer brachte noch mehr Besucher
vom Kontinent, Markttage, Stellenanzeigen für Hilfsarbeiter,
Pfadfinderlager, zwei Wohltätigkeitsbasare und mehrere Eingaben für
notwendige Straßenbauarbeiten.
Nach einer Stunde war ich kurz davor zu
verzweifeln. Wer das alles lesen wollte, musste über
übermenschliche Sehkraft verfügen, denn die Schrift war elend
klein. Wenn das noch
lange so weiterging, würde ich garantiert Kopfschmerzen
bekommen.
Dann entdeckte ich es:
Beliebter Lehrer tödlich
verunglückt
Bei einem tragischen Unfall am Montagmorgen stürzte
Grenville Twining, MA (Oxn.), 72, allgemein beliebter
und geachteter Lateinlehrer und Hausleiter im Grey
minster-Internat bei Hinley, vom Glockenturm des Anson
House zu Tode. Gut informierte Quellen bezeichnen den
Unfall als »reinweg unerklärlich«.
»Er ist auf die Brüstung geklettert, hat seinen Umhang um
sich gezogen und mit den Handflächen nach unten den
römischen Gruß an uns gerichtet. ›Vale!‹, hat er zu den
Jungen in den Hof hinabgerufen«, schildert uns Timothy
Greene aus der sechsten Klasse von Greyminster den Her
gang. »Dann ist er auch schon runtergesaust!«
Bei einem tragischen Unfall am Montagmorgen stürzte
Grenville Twining, MA (Oxn.), 72, allgemein beliebter
und geachteter Lateinlehrer und Hausleiter im Grey
minster-Internat bei Hinley, vom Glockenturm des Anson
House zu Tode. Gut informierte Quellen bezeichnen den
Unfall als »reinweg unerklärlich«.
»Er ist auf die Brüstung geklettert, hat seinen Umhang um
sich gezogen und mit den Handflächen nach unten den
römischen Gruß an uns gerichtet. ›Vale!‹, hat er zu den
Jungen in den Hof hinabgerufen«, schildert uns Timothy
Greene aus der sechsten Klasse von Greyminster den Her
gang. »Dann ist er auch schon runtergesaust!«
»Vale«? Mir stockte das Herz. Genau dieses
Wort hatte mir der Sterbende ins Gesicht geröchelt! »Gehab dich
wohl.« Das konnte doch kein Zufall sein! Dazu war es viel zu
absurd. Es musste irgendeinen Zusammenhang geben - aber
welchen?
Mist! Mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf,
aber mein Verstand trat auf der Stelle. Die Garage war kein
geeigneter Ort zum Nachdenken, das musste ich auf später
verschieben.
Ich las weiter:
»Mit dem flatternden Umhang sah er aus wie ein
fallender
Engel«, schluchzte der rotwangige Toby Lonsdale, der von
seinen Kameraden weggeführt werden musste, ehe er kurz
darauf völlig zusammenbrach.
Mr Twining war erst kürzlich im Zusammenhang mit ei
ner gestohlenen Briefmarke von der Polizei vernommen
worden. Dabei hatte es sich um eine einzigartige und ex
trem wertvolle Variante der Penny Black, der Schwarzen
Queen Victoria gehandelt.
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, behauptet
Dr. Isaac Kissing, der seit 1915 Direktor von Greyminster
ist. »Nicht im Mindesten. Mr Twining war ein geschätzter
Kollege, und alle, die ihn kannten, hatten ihn, wenn ich
das so sagen darf, tief ins Herz geschlossen.«
Der Hinley-Kurier hat in Erfahrung gebracht, dass die
Ermittlungen der Polizei sowohl in Mr Twinings Fall
als auch in dem der gestohlenen Briefmarke fortgeführt
werden.
Engel«, schluchzte der rotwangige Toby Lonsdale, der von
seinen Kameraden weggeführt werden musste, ehe er kurz
darauf völlig zusammenbrach.
Mr Twining war erst kürzlich im Zusammenhang mit ei
ner gestohlenen Briefmarke von der Polizei vernommen
worden. Dabei hatte es sich um eine einzigartige und ex
trem wertvolle Variante der Penny Black, der Schwarzen
Queen Victoria gehandelt.
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, behauptet
Dr. Isaac Kissing, der seit 1915 Direktor von Greyminster
ist. »Nicht im Mindesten. Mr Twining war ein geschätzter
Kollege, und alle, die ihn kannten, hatten ihn, wenn ich
das so sagen darf, tief ins Herz geschlossen.«
Der Hinley-Kurier hat in Erfahrung gebracht, dass die
Ermittlungen der Polizei sowohl in Mr Twinings Fall
als auch in dem der gestohlenen Briefmarke fortgeführt
werden.
Die Ausgabe war vom 24. September 1920.
Ich legte die Zeitung wieder ins Regal zurück, ging
nach draußen und schloss ab. Als ich den Schlüssel zurückbrachte,
saß Miss Mountjoy immer noch untätig am Tresen.
»Na, bist du fündig geworden, mein Liebes?«,
erkundigte sie sich.
»Ja«, antwortete ich und tat so, als müsste ich mir
übertrieben viel Staub von den Händen wischen.
»Darf ich fragen, was du eigentlich gesucht hast?«,
fragte sie verschämt. »Vielleicht kann ich dir ja irgendwelche
ergänzende Literatur empfehlen.«
Sollte heißen: Sie platzte vor Neugier.
»Nein, danke, Miss Mountjoy«, antwortete ich.
Aus unerfindlichen Gründen kam ich mir plötzlich
vor, als hätte man mir das Herz herausgerissen und durch einen
Bleiklumpen ersetzt.
»Geht’s dir nicht gut, mein Liebes? Du siehst ein
bisschen spitzmäusig aus.«
Spitzmäusig? Mir war speiübel!
Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht auch
der unbewusste Versuch, gegen die Übelkeit anzukämpfen, aber ich
hörte mich zu meinem eigenen Entsetzen herausplatzen: »Haben Sie
schon mal von einem gewissen Mr Twining gehört? Er war Lehrer in
Greyminster.«
Sie schnappte nach Luft. Ihr Gesicht wurde erst rot
und dann grau, als wäre sie vor meinen Augen in Flammen aufgegangen
und zu einem Häufchen Asche verbrannt. Dann zog sie ein
Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, zerknüllte es und stopfte es sich
in den Mund. So saß sie einen Augenblick lang stumm da, wiegte sich
hin und her und biss auf ihr Spitzentaschentuch wie ein Seemann im
18. Jahrhundert, dem man gerade das Bein unterhalb des Knies
amputiert.
Irgendwann sah sie mich mit tränenerfüllten Augen
an und entgegnete mit zittriger Stimme: »Mr Twining war der Bruder
meiner Mutter.«