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Die Leihbücherei von Bishop’s Lacey befand sich in der Cow Lane, einer schmalen, schattigen, von Bäumen gesäumten Gasse, die von der Hauptstraße zum Fluss hinunterführte. Das ursprüngliche Gebäude war ein bescheidener, schwarzer georgianischer Ziegelbau, dessen Farbfoto einmal sogar auf der Titelseite von Country Life erschienen war. Ein gewisser Lord Margate hatte es der Gemeinde vermacht, ein Spross des Dorfes, der in die Welt hinausgezogen war, um sein Glück zu machen, und zu Wohlstand gekommen war, indem er während des Burenkrieges als Königlicher Hoflieferant mit Exklusivvertrag Beef-Chips an die Regierung Ihrer Majestät liefern durfte - ein Corned Beef in Dosen, das er selbst erfunden hatte.
Seit 1939 schon war die Bücherei eine Oase der Stille. Einmal, als sie wegen Renovierungsarbeiten geschlossen gewesen war, hatte es darin gebrannt. Ein Haufen Malerlumpen hatte sich von selbst entzündet, gerade als Mr Chamberlain dem britischen Volk seine berühmte Rede »Solange der Krieg noch nicht begonnen hat, besteht die Hoffnung, dass er noch verhindert werden kann« hielt. Da sich alle erwachsenen Einwohner von Bishop’s Lacey um die Rundfunkempfänger versammelt hatten, war der Brand von niemandem, nicht einmal von der sechsköpfigen Freiwilligen Feuerwehr, rechtzeitig entdeckt worden. Als die Feuerwehrleute schließlich mit ihrer handbetriebenen Pumpe anrückten, war das Haus nur noch ein glimmendes Aschehäuflein. Den Büchern war zum Glück nichts passiert, da sie wegen der Renovierung vorübergehend ausgelagert worden waren.
Kurz darauf brach der Krieg aus, und weil auch nach Kriegsende überall die Mittel knapp waren, wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. An der Stelle, wo es gestanden hatte, in der Cater Street, befand sich jetzt lediglich eine unkrautüberwucherte Brache, gleich um die Ecke vom Dreizehn Erpel. Da das Grundstück den Dorfbewohnern auf unbegrenzte Zeit vermacht worden war, durfte es nicht verkauft werden, und die eigentlich nur übergangsweise eingerichteten Räumlichkeiten in der Cow Lane, in denen die Buchbestände lagerten, boten der Bücherei inzwischen eine dauerhafte Heimat.
Als ich von der Hauptstraße abbog, sah ich das Gebäude schon, einen niedrigen Kasten aus Glasbausteinen und Wandfliesen, der in den 1920er Jahren als Ausstellungsraum für Automobile errichtet worden war. Etliche Original-Emailleschilder mit den Namen ausgestorbener Automarken wie »Wolseley« und »Sheffield-Simplex« hingen noch an einer Wand unter der Decke und somit zu hoch für Diebe und Vandalen.
Heute, fünfundzwanzig Jahre nachdem der letzte Lagonda zum Tor hinausgerollt war, war das Gebäude, wie das ausrangierte Geschirr in einem Dienstbotentrakt, in einen altersschwachen Zustand des Verfalls übergegangen. Dahinter, zwischen dem ehemaligen Ausstellungsraum und dem verwaisten Treidelpfad längs des Flusses, duckte sich ein Labyrinth verfallener Nebengebäude ins hohe Gras wie Grabsteine um eine Dorfkirche. Mehrere dieser Gebäude, die noch nicht mal einen richtigen Fußboden hatten, beherbergten den Überschuss an Büchern aus dem längst vernichteten, viel grö ßeren georgianischen Vorgängerbau. Nun boten die provisorischen, schlecht beleuchteten Baracken, in denen sich einst die Reparaturwerkstätten des Autohauses befunden hatten, reihenweise ungewollten Büchern Platz, auf deren Rücken man die Themengebiete aufgeklebt hatte: Geschichte, Geographie, Philosophie, Naturwissenschaften. Die alten Garagen, in denen es immer noch nach ranzigem Motoröl, Rost und primitiven Wasserklosetts müffelte, hießen im allgemeinen Sprachgebrauch »das Magazin« - und ich wusste auch, warum! Ich kam oft zum Lesen her, denn abgesehen von meinem Chemielabor auf Buckshaw war mir das Magazin der liebste Ort auf der ganzen Welt.
Daran dachte ich, als ich vor dem Eingang stand und am Türknauf drehte.
»Scheibenkleister!«, entfuhr es mir. Es war abgeschlossen.
Erst als ich beiseitetrat, um durchs Fenster zu spähen, erblickte ich das Schild hinter der Scheibe, auf das jemand mit schwarzem Stift »Geschlossen« gekritzelt hatte.
Geschlossen? Heute war Samstag! Die Bücherei war donnerstags bis samstags von 10 bis 14.30 Uhr geöffnet. So stand es auch unmissverständlich auf dem schwarz gerahmten Schild an der Tür. War Miss Pickery etwas zugestoßen?
Ich rüttelte erst an der Tür, dann trommelte ich mit der Faust dagegen. Schließlich legte ich die Hände noch einmal an die Scheibe und spähte hindurch, aber bis auf einen einsamen Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die Staubflusen bahnte, ehe er sich auf den Regalen mit den Romanen niederließ, war nichts zu erkennen.
»Miss Pickery!«, rief ich, bekam aber keine Antwort.
»Scheibenkleister!«, schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche.
Nein … acht Tage die Woche!
Miss Pickery wohnte in der Shoe Street. Ich ließ mein Fahrrad vor der Bücherei stehen und nahm eine Abkürzung. Wenn man zwischen den Baracken und hinter dem Dreizehn Erpel entlangging, kam man gleich neben ihrem Häuschen heraus.
Ich stapfte durch das hohe, nasse Gras und gab Acht, dass ich nicht über irgendwelche rostigen Maschinenteile stolperte, die hier und da wie Dinosaurierknochen in der Wüste Gobi aus dem Boden ragten. Daphne hatte mich über Wundstarrkrampf aufgeklärt. Ein Kratzer von einem alten Autogetriebe, und mir würde im Handumdrehen Schaum vor dem Mund stehen, ich würde bellen wie ein Hund und mich beim Anblick von Wasser in Krämpfen auf dem Boden winden. Ich sammelte schon einmal probehalber Spucke in der Backe. Da hörte ich jemanden reden.
»Warum hast du ihn bloß reingelassen, Mary?« Es war die Stimme eines jungen Mannes. Sie kam aus dem Hof des Wirtshauses.
Ich huschte hinter einen Baum und spähte hinter dem Stamm hervor. Wer da gesprochen hatte, war Ned Cropper, der im Dreizehn Erpel alle möglichen Hilfsarbeiten verrichtete.
Ned! Nur an ihn zu denken, wirkte bei Ophelia wie eine Novokainspritze. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, dass er Dirk Bogarde wie aus dem Gesicht geschnitten war, aber die einzige Ähnlichkeit, die ich persönlich feststellen konnte, bestand darin, dass sie alle beide je zwei Arme, zwei Beine und pfundweise Brillantine im Haar hatten.
Ned hockte vor der Hintertür des Wirtshauses auf einem Bierfass, und ein Mädchen, Mary Stoker, wie ich im Näherkommen erkannte, saß auf einem anderen. Sie sahen einander nicht an. Ned malte mit dem Stiefelabsatz ein verzwicktes Labyrinth auf den Boden, Mary hatte die Hände im Schoß gefaltet und starrte geradeaus.
Obwohl Ned die Stimme gesenkt hatte, konnte ich alles verstehen. Die verputzte Wand des Dreizehn Erpel wirkte wie ein Verstärker.
»Ich hab dir doch schon gesagt, Ned Cropper, dass mir nix anderes übriggeblieben ist! Er stand mit einem Mal hinter mir, als ich seine Bettwäsche gewechselt hab.«
»Warum haste nicht geschrien? Ich weiß, dass du Tote aufwecken kannst … wenn dir danach ist.«
»Du kennst meinen Pa wohl nicht! Wenn er wüsste, was der Kerl gemacht hat, würd er mir das Fell über die Ohren ziehen!«
Sie spuckte in den Staub.
»Mary!« Der Ruf kam von drinnen, trotzdem dröhnte er durch den Hof wie Donnerhall. Der da rief, war Marys Vater, der Gastwirt Tully Stoker, und sein ungewöhnliches Organ spielte in einigen der skandalösesten Tratschgeschichten des Dorfes eine Hauptrolle.
»Mary!«
Jetzt sprang Mary auf.
»Komme schon!«, rief sie. »Bin schon unterwegs!«
Sie verharrte unschlüssig, dann stürzte sie sich mit einem Mal wie eine zustoßende Viper auf Ned, verpasste ihm einen schnellen Kuss auf den Mund und war im nächsten Moment mit flatternder Schürze - wie ein Zauberer mit wehendem Umhang - in der düsteren Schankstube verschwunden.
Ned blieb noch einen Augenblick sitzen, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund, stand auf und rollte das Fass zu den anderen leeren Fässern auf die gegenüberliegende Hofseite.
Ich rief: »Tag, Ned!«, und er drehte sich halb verlegen um. Er überlegte unverkennbar, ob ich ihn und Mary belauscht und vielleicht sogar den Kuss beobachtet haben konnte. Ich beschloss, ihn im Unklaren zu lassen.
»Schönes Wetter heute, was?« Ich grinste ihn dümmlich an.
Ned erkundigte sich danach, wie es mir ging, und anschlie ßend, immer schön der Reihe nach, nach dem Befinden meines Vaters und dem von Daphne.
»Den beiden geht’s prima«, antwortete ich.
»Und wie geht’s Miss Ophelia?«, fragte er zu guter Letzt.
»Miss Ophelia? Na ja, um die machen wir uns ehrlich gesagt ziemlich Sorgen.«
Ned fuhr zusammen, als wäre ihm eine Wespe in die Nase gekrabbelt.
»Ach ja? Was hat sie denn? Hoffentlich nichts Ernstes.«
»Sie ist am ganzen Leib knallgrün geworden«, verkündete ich. »Ich vermute, sie hat Chlorose. Dr. Darby ist derselben Meinung.«
In seinem Wörterbuch der Vulgärsprache von 1811 nennt Francis Grose die Chlorose auch: »Liebesfieber« beziehungsweise »Jungfrauenkrankheit«. Mir war natürlich klar, dass Ned Captain Groses Werk nicht so geläufig war wie mir, und ich klopfte mir in Gedanken auf die Schulter.
»Ned!«
Tully Stokers Organ. Ned tat einen Schritt in Richtung Tür.
»Richte deiner Schwester aus, dass ich mich nach ihr erkundigt habe«, bat er.
Ich machte das Victory-Zeichen, wie einst der wackere Churchill. Das war ja wohl das Mindeste.
 
Wie die Cow Lane geht auch die Shoe Street von der Hauptstraße ab und führt zum Fluss hinunter. Miss Pickerys auf halber Höhe gelegenes Tudorhäuschen sah aus wie aus einer Abbildung vom Deckel einer Puzzleschachtel. Mit seinem Strohdach und den weiß getünchten Wänden, den rautenf örmig bleiverglasten Fenstern und der rot gestrichenen quergeteilten Tür ließ es jedes Künstlerherz höherschlagen. Die Fachwerkwände ragten wie ein malerisches altes Schiff aus einem Meer altmodischer Blumen: Anemonen, Stockmalven, Levkojen, Glockenblumen und andere, von denen ich nicht wusste, wie sie hießen.
Miss Pickerys rotbrauner Kater Roger aalte sich auf der Schwelle in der Sonne und hielt mir den Bauch zum Kraulen hin. Ich kam seiner Aufforderung nach.
»Bist ein ganz Braver, Roger«, sagte ich. »Wo ist denn Miss Pickery?«
Roger schlenderte davon und hielt nach etwas Spannenderem Ausschau. Ich klopfte. Niemand öffnete.
Ich ging ums Haus herum in den Garten. Keiner da.
Als ich auf der Hauptstraße entlangging und, nachdem ich im Schaufenster der Apotheke flüchtig die immer gleichen mit Fliegendreck beklecksten Glasgefäße betrachtet hatte, gerade die Cow Lane überquerte, blickte ich zufällig nach links und sah jemanden in der Bücherei verschwinden. Mit ausgebreiteten Armen flog ich eine Steilkurve und bog in die Gasse ein, aber als ich vor der Bücherei stand, war der Betreffende längst im Haus verschwunden. Ich drehte am Türknauf, und diesmal hatte ich Erfolg.
Die Frau, die ihr Portemonnaie in die Schublade legte und sich hinter dem Tresen niederließ, hatte ich noch nie gesehen. Ihr Gesicht war so runzlig wie einer von den Äpfeln, die man manchmal noch vom vergangenen Winter in seiner Manteltasche findet.
»Ja, bitte?« Sie spähte über ihre Brille. Das bringen sie einem alles an der Königlichen Akademie für Bibliothekswissenschaften bei. Mir fiel auf, dass die Brille einen grauen Schleier hatte, als hätte sie über Nacht in Essig gelegen.
»Wo ist denn Miss Pickery?«, erkundigte ich mich.
»Miss Pickery ist wegen einer dringenden Familienangelegenheit verhindert.«
»Ach so.«
»Ja, es ist wirklich traurig. Ihre Schwester Hetty, die in Nether-Wolsey wohnt, hatte einen tragischen Nähmaschinenunfall. Zuerst sah es noch ganz so aus, als sei es gerade noch mal gutgegangen, aber dann verschlechterte sich ihr Zustand unversehens, und nun sieht es aus, als ob sie womöglich den Finger verliert. Was für ein Jammer! Wo sie doch die Zwillinge zu versorgen hat! Und da ist Miss Pickery natürlich …«
»Natürlich.«
»Ich bin die Vertretung. Ich heiße Miss Mountjoy und bin Ihnen gern behilflich.«
Miss Mountjoy! Die pensionierte Miss Mountjoy! Ich hatte schon viele Geschichten über »Miss Mountjoy und ihr Terrorregime« vernommen. Sie war schon Hauptbibliothekarin der Leihbücherei von Bishop’s Lacey gewesen, als Noah noch als Matrose zur See fuhr. Nach außen hin zuckersüß, aber innerlich »eine Bastion der Bosheit«. So hatte man es mir jedenfalls geschildert. (»Man« war in diesem Fall Mrs Mullet, die gern Kriminalromane las.) Die Dorfbewohner hielten immer noch mehrtägige Bittgottesdienste ab und beteten darum, dass sie bloß nicht aus dem Ruhestand zurückkehrte.
»Und wie kann ich dir helfen, mein Liebes?«
Wenn ich etwas gründlich verabscheue, dann ist es die Anrede »mein Liebes«. Wenn ich einmal mein Opus Magnum mit dem Titel Eine Abhandlung über sämtliche Gifte schreibe und bei »Zyankali« ankomme, vermerke ich unter »Anwendung« garantiert: Besonders wirksam bei der Behandlung all derjenigen, die einen »mein Liebes« nennen.
Andererseits habe auch ich meine Grundsätze, und einer davon lautet: Wenn du etwas willst, sei nett und freundlich.
Ich lächelte matt und erwiderte: »Ich wollte etwas im Zeitungsarchiv nachschlagen.«
»Im Zeitungsarchiv!«, erwiderte sie belustigt. »Du bist ja ganz schön weit für dein Alter, mein Liebes.«
»Ja«, sagte ich und gab mir Mühe, bescheiden dreinzuschauen.
»Die Zeitungen ab vorletztem Jahr findest du nach Jahrgängen geordnet auf den Regalen im Drummond-Raum. Das ist ganz hinten, nach links, die Treppe hoch.«
»Dankeschön.« Ich schlenderte in Richtung Treppe.
»Es sei denn, du suchst etwas Älteres. Das wäre dann im Magazin. Welchen Jahrgang suchst du denn?«
»Das weiß ich auch nicht so genau.« Aber halt - ich wusste es doch! Was hatte der Fremde gesagt? Twining - der olle Teebeutel ist doch inzwischen schon … wie lange tot?
Ich hörte die ölige Stimme wieder: … dreißig Jahre …
»1920«, sagte ich kaltblütig. »Ich würde gern einen Blick in den Jahrgang 1920 werfen.«
»Das müsste alles noch in der Garage liegen, also in dem Schuppen, in dem früher die Reparaturwerkstatt mit der Grube war. Wenn die Ratten es in der Zwischenzeit nicht aufgefressen haben.« Dabei schielte sie boshaft über ihre Brille, als erwartete sie, dass ich bei der bloßen Erwähnung von Ratten einen Schreikrampf bekommen und wegrennen würde.
»Ach, ich finde mich schon zurecht«, erwiderte ich stattdessen. »Brauche ich einen Schlüssel?«
Miss Mountjoy kramte in der Schublade und holte einen gewaltigen Schlüsselbund heraus, der aussah, als hätte er einst den Wärtern des Grafen von Monte Cristo gehört. Ich klimperte vergnügt mit den Schlüsseln und verließ das Hauptgebäude.
Die sogenannte Garage war die am weitesten vom Hauptgebäude entfernte Baracke. Sie stand bedenklich nah am Flussufer, ein aus morschen Brettern und rostigem Wellblech zusammengezimmerter und von Moos und Kletterranken überwucherter Schuppen. In der Blütezeit des Ausstellungsraums war hier die Garage gewesen, in der Reifen- und Ölwechsel durchgeführt sowie Achsen gefettet und andere intime Verrichtungen an der Unterseite der Wagen vorgenommen wurden.
Inzwischen hatten Vernachlässigung und Verwitterung dafür gesorgt, dass der Schuppen eher an eine Einsiedlerhütte erinnerte.
Ich drehte den Schlüssel, und die Tür flog mit rostigem Ächzen auf. Beim Eintreten schob ich mich vorsichtig an der tiefen Mechanikergrube vorbei, die, wenn auch mit dicken Brettern abgedeckt, den Großteil des Raumes einnahm.
Es roch streng und muffig und eindeutig nach Ammoniak, als hausten irgendwelche Tierchen unter den Dielen.
In der zur Cow Lane weisenden Wand gab es ein breites Garagentor, das sich einst aufschieben ließ, damit die Automobile herein- und über die Grube fahren konnten, jetzt aber abgeschlossen war. Die Scheiben aller vier Fenster hatte man aus unerfindlichen Gründen mit dicker blutroter Farbe zugepinselt, weshalb in der Baracke ein gruseliges Zwielicht herrschte.
An den übrigen drei Wänden standen lauter Holzregale wie Etagenbetten, und darauf lagen Stöße vergilbter Zeitungen: der Hinley-Kurier, der West-County-Anzeiger und das Posthorn am Morgen, alle fein säuberlich nach Jahrgängen geordnet und mit handschriftlichen Signaturen versehen.
Es war nicht schwer, den Jahrgang 1920 zu finden. Ich hob den obersten Stapel herunter und wäre beinahe in der Staubwolke erstickt, die mir mitten ins Gesicht schlug wie eine Mehlstaubexplosion. Angenagte Papierfitzelchen rieselten wie Schnee zu Boden.
Heute Abend heißt es Badewanne und Schwamm, dachte ich, ob du willst oder nicht.
Vor einem verdreckten Fenster stand ein kleiner Tisch. Es gab gerade genug Licht und genug Platz, um die Zeitungen auszubreiten und nacheinander durchzublättern.
Das Posthorn am Morgen stach mir vor allem ins Auge, ein Revolverblatt, dessen Titelseite wie bei der Londoner Times voll mit Anzeigen, Kurzmeldungen und privaten Kleinanzeigen war:
Verloren: brauner, verschnürter Pappkarton.
Für Besitzer von großem Erinnerungswert.
Hohe Belohnung!
Antwort an »Smith«, z. Zt. im Weißen Herzen, Wolverston
Oder:
Mein Liebling: Er hat uns beobachtet. Gleiche Zeit
nächsten Donnerstag.
Bring Speckstein mit. Bruno.
Da fiel es mir wieder ein! Vater war in Greyminster zur Schule gegangen … und war Greyminster nicht ganz in der Nähe von Hinley? Ich legte das Posthorn am Morgen wieder auf seine Totenbahre und holte mir die vordersten vier Stapel des Hinley-Kurier.
Es handelte sich um eine Wochenzeitung, die jeweils freitags erschienen war. 1920 war der erste Freitag auf Neujahr gefallen, sodass die erste Ausgabe das Datum des folgenden Freitags trug: 8. Januar 1920.
Seite um Seite voller Feiertagsnachrichten: Weihnachtsbesuch vom Kontinent, eine verschobene Sitzung des krichlichen Frauenkreises, der für den Altarschmuck zuständig war, ein »gut gewachsenes Schwein« war zu verkaufen, im Grange hatte ein Weihnachtsbüfett stattgefunden, eine Bierkutsche hatte ein Rad verloren.
Die Polizeinachrichten vom März waren eine deprimierende Auflistung von Diebstählen, Wilderei und Tätlichkeiten.
Ich blätterte unermüdlich weiter; meine Hände waren schon ganz schwarz von der zwanzig Jahre vor meiner Geburt getrockneten Druckerschwärze. Der Sommer brachte noch mehr Besucher vom Kontinent, Markttage, Stellenanzeigen für Hilfsarbeiter, Pfadfinderlager, zwei Wohltätigkeitsbasare und mehrere Eingaben für notwendige Straßenbauarbeiten.
Nach einer Stunde war ich kurz davor zu verzweifeln. Wer das alles lesen wollte, musste über übermenschliche Sehkraft verfügen, denn die Schrift war elend klein. Wenn das noch lange so weiterging, würde ich garantiert Kopfschmerzen bekommen.
Dann entdeckte ich es:
Beliebter Lehrer tödlich verunglückt
Bei einem tragischen Unfall am Montagmorgen stürzte
Grenville Twining, MA (Oxn.), 72, allgemein beliebter
und geachteter Lateinlehrer und Hausleiter im Grey
minster-Internat bei Hinley, vom Glockenturm des Anson
House zu Tode. Gut informierte Quellen bezeichnen den
Unfall als »reinweg unerklärlich«.
»Er ist auf die Brüstung geklettert, hat seinen Umhang um
sich gezogen und mit den Handflächen nach unten den
römischen Gruß an uns gerichtet. ›Vale!‹, hat er zu den
Jungen in den Hof hinabgerufen«, schildert uns Timothy
Greene aus der sechsten Klasse von Greyminster den Her
gang. »Dann ist er auch schon runtergesaust!«
»Vale«? Mir stockte das Herz. Genau dieses Wort hatte mir der Sterbende ins Gesicht geröchelt! »Gehab dich wohl.« Das konnte doch kein Zufall sein! Dazu war es viel zu absurd. Es musste irgendeinen Zusammenhang geben - aber welchen?
Mist! Mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf, aber mein Verstand trat auf der Stelle. Die Garage war kein geeigneter Ort zum Nachdenken, das musste ich auf später verschieben.
Ich las weiter:
»Mit dem flatternden Umhang sah er aus wie ein fallender
Engel«, schluchzte der rotwangige Toby Lonsdale, der von
seinen Kameraden weggeführt werden musste, ehe er kurz
darauf völlig zusammenbrach.
Mr Twining war erst kürzlich im Zusammenhang mit ei
ner gestohlenen Briefmarke von der Polizei vernommen
worden. Dabei hatte es sich um eine einzigartige und ex
trem wertvolle Variante der Penny Black, der Schwarzen
Queen Victoria gehandelt.
»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, behauptet
Dr. Isaac Kissing, der seit 1915 Direktor von Greyminster
ist. »Nicht im Mindesten. Mr Twining war ein geschätzter
Kollege, und alle, die ihn kannten, hatten ihn, wenn ich
das so sagen darf, tief ins Herz geschlossen.«
Der Hinley-Kurier hat in Erfahrung gebracht, dass die
Ermittlungen der Polizei sowohl in Mr Twinings Fall
als auch in dem der gestohlenen Briefmarke fortgeführt
werden.
Die Ausgabe war vom 24. September 1920.
Ich legte die Zeitung wieder ins Regal zurück, ging nach draußen und schloss ab. Als ich den Schlüssel zurückbrachte, saß Miss Mountjoy immer noch untätig am Tresen.
»Na, bist du fündig geworden, mein Liebes?«, erkundigte sie sich.
»Ja«, antwortete ich und tat so, als müsste ich mir übertrieben viel Staub von den Händen wischen.
»Darf ich fragen, was du eigentlich gesucht hast?«, fragte sie verschämt. »Vielleicht kann ich dir ja irgendwelche ergänzende Literatur empfehlen.«
Sollte heißen: Sie platzte vor Neugier.
»Nein, danke, Miss Mountjoy«, antwortete ich.
Aus unerfindlichen Gründen kam ich mir plötzlich vor, als hätte man mir das Herz herausgerissen und durch einen Bleiklumpen ersetzt.
»Geht’s dir nicht gut, mein Liebes? Du siehst ein bisschen spitzmäusig aus.«
Spitzmäusig? Mir war speiübel!
Vielleicht war es die Aufregung, vielleicht auch der unbewusste Versuch, gegen die Übelkeit anzukämpfen, aber ich hörte mich zu meinem eigenen Entsetzen herausplatzen: »Haben Sie schon mal von einem gewissen Mr Twining gehört? Er war Lehrer in Greyminster.«
Sie schnappte nach Luft. Ihr Gesicht wurde erst rot und dann grau, als wäre sie vor meinen Augen in Flammen aufgegangen und zu einem Häufchen Asche verbrannt. Dann zog sie ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, zerknüllte es und stopfte es sich in den Mund. So saß sie einen Augenblick lang stumm da, wiegte sich hin und her und biss auf ihr Spitzentaschentuch wie ein Seemann im 18. Jahrhundert, dem man gerade das Bein unterhalb des Knies amputiert.
Irgendwann sah sie mich mit tränenerfüllten Augen an und entgegnete mit zittriger Stimme: »Mr Twining war der Bruder meiner Mutter.«